Nr. 6.

Die Gleichheit.

4. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Herausgegeben von Emma Ihrer   in Velten  ( Mark).

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro  . 2660) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.

Stuttgart  

Mittwoch, den 21. März 1894.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

,, Getretener Quark wird breit, nicht stark

An diese Worte des Altmeisters Goethe wird man unwill­fürlich erinnert, wenn man die Einwände betrachtet, welche die Gegner der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts gegen das Stimmrecht der Frauen ins Feld führen. Gerade in letzter Zeit mehren sich wieder die Neuauflagen des seligen St. Georg, welche trußiglich gegen alle Drachen des Wahlrechts der Frauen in den Kampf sprengen.

In Neuseeland  , in verschiedenen Staaten der großen nord­ amerikanischen   Republik   hat die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts bedeutende Fortschritte gemacht. Die Frauen befinden sich dort in dem Besitz des Wahlrechts zu den verschiedenen staatlichen und kommunalen Körperschaften. In Skandinavien   und Dänemark  , sowie in England haben sich die Parlamente im letzten Jahre mit Anträgen befassen müssen, welche für die Frauen das Wahlrecht forderten. Die Majorität, welche sie verwarf, war kleiner als in den früheren Jahren, die Gründe ihrer Ablehnung fadenscheiniger als je, ihre Annahme ist nur noch eine Frage der Zeit und zwar einer nicht sehr fernen Zeit. In Oesterreich   heischt das durch die Sozialdemokratie vertretene klassenbewußte Proletariat in einer mächtigen Bewegung das allgemeine Wahlrecht auch für das weibliche Geschlecht. Die sozialdemokratische Partei Deutsch­ lands   erhebt in ihrem Programm die Forderung der politischen Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts. Und sie schickt sich an, für die Verwirklichung dieser Forderung einzutreten gelegentlich der Bewegung, welche sie demnächst für das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht zu den Landtagen der deutschen  Einzelstaaten in Fluß bringen wird.

All diesen Thatsachen gegenüber schütteln die Anbeter des Hergebrachten, des Altersgrauen und darum Heiligen bedenklich das Haupt. Sie fühlen, daß in Sachen der Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts der theure Zopf ins Wackeln geräth, daß er in nicht zu ferner Zukunft fallen wird. Und so zetern sie mit dem Aufgebot all ihrer Lungenkraft, daß er ihnen erhalten bleiben möge. Viel ist es freilich nicht, was sie zu seinen Gunsten vor= bringen können, und Stichhaltiges noch weit weniger. Immer wieder der alte Kohl gegen die politische Gleichberechtigung und die politische Bethätigung des weiblichen Geschlechts; der alte Kohl, zum so und so vielten Male aufgewärmt und in der bekannten, hin und wieder auch in einer neuen Sauce aufgetragen.

Das weibliche Geschlecht braucht das Wahlrecht nicht, wird da erklärt. Wozu auch? Der Mann ist der natürliche Vertreter der Interessen der Frau. Die Welt ist das Haus des Mannes, das Haus ist die Welt der Frau. Ihre Interessen haften am häuslichen Heerde   und müssen für alle Ewigkeit an ihm haften, denn am häuslichen Heerde findet sie Schuß und Unterhalt, um ihn baut sich die Sphäre ihrer Bethätigung auf. Die sozial­politischen Verhältnisse berühren sie nicht, sie liegen außerhalb ihres Kreises, sie gehen sie nichts an.

Die Braven, die so sprechen, vergessen, daß heutzutage Millionen von Frauen keinen häuslichen Heerd mehr befizen, der

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart  , Rothebühl­Straße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

ihnen Schutz und Unterhalt beut, in dessen Umkreis sie sich be= thätigen können. Sie vergessen, daß Millionen von Frauen durch

die Macht der wirthschaftlichen Zustände aus dem Hause gerissen worden sind, daß sie mitten hinein geschleudert wurden in das wirthschaftliche Leben der Gesellschaft, damit auch in ihre sozial­politischen Verhältnisse und Kämpfe. Die Frauen brauchen das Wahlrecht, um mittels seiner die sozialpolitischen Zustände zu ihren Gunsten beeinflussen zu können; die bürgerlichen Frauen, indem sie die soziale Ungleichheit zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht zu beseitigen streben; die Frauen des Proletariats, indem sie der wirthschaftlich übermächtigen Stapitalistenklasse bessere Arbeits­bedingungen entreißen und für die Beseitigung des Gegensatzes zwischen Kapital und Arbeit kämpfen, d. h. für die Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Frauen wollen das Stimmrecht gar nicht, wird von anderer Seite her versichert. Die erdrückende Mehrzahl der Frauen lebt den sozialpolitischen Zuständen gegenüber in stumpfsinniger Interesselosigkeit und Gleichgiltigkeit dahin. Sie verlangt das Wahlrecht nicht und wird es nicht gebrauchen. Die Thatsache, für jezt zugegeben, ist kein Grund, das weibliche Geschlecht noch länger politisch rechtlos zu lassen. Wäre sie es, man müßte auch der Männerwelt die politischen Rechte entziehen, man müßte flugs zu den Zeiten der patriarchalischen" Regierung eines absoluten Herrschers zurückkehren. Denn leider stecken auch noch viele Millionen von Männern bis über die Ohren in politischer Verständnißlosig= feit, leider machen auch sie feinen Gebrauch von ihren politischen Rechten. Konnte doch Fürst Bismarck   vor nicht zu langer Zeit behaupten, daß die stärkste Partei in Deutschland   diejenige der Nichtwähler sei. Wer im Glashause sißt, der werfe nicht mit Steinen. Der Besitz eines Rechts führt mit der Zeit stets zur Ausnutzung dieses Rechts. Zuerkennt man den Frauen das Wahlrecht, so werden sie es allmälig auch benüßen und aus= nüßen.

Das weibliche Geschlecht darf nicht wählen, so rathen Gegner des Frauenstimmrechts, denn die Beschäftigung mit der Politik raubt der Frau den Zauber des" Ewig Weiblichen", die Zartheit der Empfindung, sie legt sich wie giftiger Mehlthau auf ihr Ge­müthsleben. Die fürsorglichen Rathgeber! Sehen sie nicht, daß in den Kreisen der bürgerlichen Frauen der Kampf um den Mann, d. h. um eine standesgemäße" Versorgung die widerlichsten Eigen­schaften, die niedrigsten Handlungen zeitigt, Eigenschaften und Handlungen, in denen sich alles Andere verräth als Zartheit der Empfindung und Tiefe des Seelenlebens? 3wingt das Ringen um die Eristenz, die Sorge um das Stück Brot nicht breite Schichten der Frauenwelt in Verhältnisse hinein, in denen sie sich alles Weiblichen, ja alles Menschlichen entäußern müssen? In Hunderten von Betrieben müssen proletarische Frauen unter Umständen arbeiten, welche jedem Schamgefühl Hohn sprechen, welche jede Feinheit des Gefühlslebens ertödten. In Straßen, in Nachtcafés, in Tingel­tangeln, überall wo sich ein Markt findet für weibliches Fleisch, gehen Hunderte von Prostituirten ihrem Gewerbe" nach. Kümmert sich die bürgerliche Gesellschaft darum, daß die Empfindungen dieser Unglücklichen abgestumpft werden, daß sie verrohen, geradezu ver­thieren?

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