Agrarier wissen ja ganz gut, daß zumal die Aufhebung des Identitäts­nachweises recht hübsche Sümmchen in ihre Taschen fließen machen wird. Diese Aufhebung kommt einer sehr guten Ausfuhrprämie für Roggen 2c. gleich. Bis jetzt wurde für ausländische Erzeugnisse, die nicht in Deutschland   verbraucht, sondern die von hier aus weiter transportirt wurden, der Betrag des erhobenen Zolls zurückvergütet, falls nachgewiesen werden konnte, daß die betreffenden Waaren that­sächlich vom Ausland her eingeführt worden waren. Nach Aufhebung des Jdentitätsnachweises soll für Getreide und Mehl, die man von Deutschland   aus verfrachtet, der Zollbetrag ausgezahlt werden, ohne daß es des Nachweises über die ausländische Herkunft bedarf. Für jeden Doppelzentner Roggen z. B., der in Deutschland   zur Versendung nach dem Ausland gelangt, wird also vom Staat der angeblich entrichtete Zollbetrag von 3 Mt. 50 Pf. ausgezahlt. Die ostpreußischen Groß­grundbesizer werden natürlich die Gelegenheit benutzen, möglichst viel Getreide als russisches" und verzolltes nach dem Ausland zu senden. Sie säckeln dann die Vergütung des nicht gezahlten Zolls ein und bewirken außerdem durch starke Ausfuhr des Roggens einen Abfluß desselben von dem deutschen   Markt und eine entsprechende Erhöhung des Roggenpreises. Die Zeche dafür zahlt die breite Masse, die durch ihre Steuern für die neue Liebesgabe aufkommen muß, und der das Brot vertheuert wird.

Von den bürgerlichen Politikern traten besonders Richter und Hartmann im Namen der Freisinnigen und der süddeutschen Volks partei energisch für den Handelsvertrag ein. Ersterer bekämpfte auch nachdrücklich die Aufhebung des Identitätsnachweises. Der Führer des Zentrums und der Führer der nationalliberalen Fraktion Dreh­scheibe erklärten sich zwar für den Vertrag, brachten es aber in einem politischen Eiertanz fertig, demselben gegenüber einerseits" und ,, andererseits" zu sein. Im Zentrum und bei den Nationalliberalen herrschte eben in der Frage keine Einmüthigkeit, es wurde für und gegen den Handelsvertrag gestimmt. Die sozialdemokratische Reichs­tagsfraktion stimmte natürlich geschlossen für den Vertrag und gegen die Liebesgaben an die Agrarier. Die Abgeordneten Schulze und Schippel vertraten nachdrücklich und überzeugend den Standpunkt der Partei. Der Handelsvertrag wurde in zweiter Lesung mit einer Majorität von 200 gegen 146 Stimmen angenommen. Der Antrag der Konservativen auf Beibehaltung des Roggenzolls von 5 Mt. wurde mit 205 gegen 150 Stimmen abgelehnt. In der dritten Lesung er­klärte sich die bisherige Majorität für den Handelsvertrag, der am 20. März unterzeichnet worden ist.

Auf manchen Seiten hat man an sein Zustandekommen über­schwengliche Hoffnungen geknüpft. Man erwartet Wunder von seiner Wirkung, man preist ihn als den Ausgangspunkt einer neuen Aera des Aufschwungs der deutschen   Industrie. Der Handelsvertrag, so jubelt man, wird Deutschland   in Rußland   einen so vorzüglichen Markt erschließen, daß flottester Geschäftsgang an Stelle des schleppenden tritt, daß die Arbeitslosigkeit mit einem Schlage verschwindet, daß in der deutschen   Industrie ein großer Bedarf nach Arbeitskräften ent­steht. Kurz man erwartet, daß der Handelsvertrag Zustände beseitigt, welche nicht in den wirthschaftspolitischen Beziehungen Deutschlands  zu anderen Ländern begründet sind, sondern im Wesen der kapitalistischen  Produktionsweise selbst. Das heißt denn doch die Verhältnisse ver­kennen und die Bedeutung des russischen Handelsvertrags beträchtlich überschätzen. Die Krise, unter welcher jetzt die deutsche Industrie leidet, ist eine Folge der mit der kapitalistischen   Produktionsweise untrennbar verbundenen Ueberproduktion. Der Zollkrieg mit Ruß­ land   hat sie verschärft, aber nicht verursacht. Gute wirthschafts­politische Beziehungen mit Rußland   können deshalb diese Krise nicht beseitigen, nur mildern. Daß auch dies für die Industrie und die in ihr frohndenden Arbeiter und Arbeiterinnen werthvoll ist, soll nicht bestritten werden, aber es liegt keinesfalls ein Grund vor, vor lauter Glückseligkeit den Kopf zu verlieren. Abgesehen davon, schafft der Handelsvertrag der deutschen   Industrie nicht so ausnahmsweis glän zende Bedingungen, daß der russische   Markt für sie zum Eldorado wird. Der Vertrag ermäßigt die Zölle auf gewisse deutsche Industrie­Erzeugnisse, für andere hat er sie gebunden, er erleichtert die Einfuhr mancher Waaren in Rußland  , Alles in Allem schafft er für die deutsche  Industrie die nämlichen Verhältnisse, wie sie vor dem Ausbruch des Zollfriegs mit Rußland   bestanden haben. Im günstigsten Falle wird die deutsche Industrie in Folge des Handelsvertrags das gleiche Absatz gebiet für ihre Erzeugnisse wiederfinden, das sie vor der Absperrung des russischen Marktes durch Kampfzölle hatte. Im günstigsten Fall. Denn während des Zollkriegs ist die Industrie anderer europäischer Länder auf dem russischen Markt erschienen, und die deutsche Industrie muß mit ihr in Wettbewerb treten, ihr die eingenommenen Positionen streitig machen. Weiter hat die Kaufkraft des russischen Volks durch mehrere Jahre des Mißwachses und der Hungersnoth gelitten. Last

51

-

not least entwickelt sich in Rußland   eine von der Regierung in jeder Weise begünstigte Industrie, welche das Moskowiterreich mehr und mehr von der Einfuhr des Auslands unabhängig macht, ja zum Theil wie die Baumwollen- Industrie schon mit dem Ausland konkurrirt. Möglich ist allerdings, daß die deutsche Industrie im Anschluß an das Zustandekommen des Handelsvertrags eine jähe Belebung zeigt. Aber nicht in Folge einer gesunden, natürlichen Ent­wicklung des Wirthschaftslebens, vielmehr in Folge der kapitalistischen  Spekulation. Einem eventuell schnellen und glänzenden Aufschwung der deutschen   Industrie wird ebenso schnell der Rückschlag folgen.

Was die Wirkung des Handelsvertrags anbelangt bezüglich der Verbilligung der Lebenshaltung der Masse, so ist nicht zu vergessen, daß eben immer noch der beträchtliche Zoll von 3 Mt. 50 Pf. die Brotfrucht des armen Mannes belastet, und daß dieser Betrag noch um 50 Pf. höher ist, als der Schutzzoll von 1887.

Hatte so etwa das werkthätige Volk keinen Grund, sein Wort zu Gunsten des Handelsvertrags in die Wagschale zu werfen? Im Gegentheil. Wenn der Handelsvertrag auch nicht Deutschland   für die Arbeiter und Arbeiterinnen in ein Kanaan   verwandelt, wo Milch und Honig fließt, so mildern seine Wirkungen doch in etwas den herrschenden Nothstand, so sind sie doch geeignet, einer Verschlechterung des Gangs der Industrie vorzubeugen, welche in Folge eines an­dauernden Zollkriegs mit Rußland   eingetreten wäre. Das bewirkt aber, daß die eine oder andere Gruppe von Arbeitslosen wieder Beschäftigung findet, daß Tausende von Proletariern und Prole­tarierinnen in Brot und Lohn bleiben, welche andernfalls aufs Pflaster geworfen worden wären. Der Handelsvertrag schafft außerdem da­durch, daß er die Zölle für zehn Jahre festlegt, eine größere Sicher­heit der industriellen Verhältnisse, mithin auch der Erwerbsverhält­nisse der Arbeiter und Arbeiterinnen. Arbeitsgelegenheit und größere Sicherheit des Erwerbs bedeuten aber für die Angehörigen des Prole­tariats nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern auch die Mög­lichkeit, sich aufzuklären, sich zu organisiren, für ernste soziale Reformen zu kämpfen. Und angesichts des elenden Einkommens und der schweren Belastung der arbeitenden Masse durch Zölle und Steuern empfindet der kleine Mann die Verbilligung des Brotes angenehm, welche in Folge der Ermäßigung des Roggenzolls eintreten wird. Zufrieden geben kann er sich allerdings nicht eher, als bis jeder Zoll auf Brot­getreide, bis das ganze System der indirekten Besteuerung beseitigt worden ist.

Die werkthätige Masse nimmt deshalb den Handelsvertrag mit seinen Vortheilen kühl entgegen als eine selbstverständliche und sehr fleine Abschlagszahlung auf die durchgreifenden sozialpolitischen Maß­regeln, die sie fordert und erringen muß, Maßregeln, die ihre Erwerbs­verhältnisse verbessern und ihre Lasten erleichtern. Der Appetit kommt beim Essen," sagt ein französisches Sprichwort. Je mehr Reformen in der einen oder andern Richtung das Proletariat der fapitalistischen Gesellschaft entreißt, um so energischer und erfolgreicher wird es für neue und größere Abschlagszahlungen kämpfen.

-

11

Arbeiterinnen- Bewegung.

In der Zeit vom 25. Februar bis 25. März fanden öffent­liche Versammlungen statt in: Altona  , öffentliche Versammlung für Männer und Frauen: Der 18. März"( Genosse Frohme); Berlin  , zehn große öffentliche Versammlungen für Männer und Frauen: Die Bedeutung des 18. März"( Genossen Bebel  , Fischer, Gerisch, Ledebour  , Liebknecht, Dr. Lux, Wagner, Schippel, Wurm); große öffentliche Ver­sammlung der Arbeiter und Arbeiterinnen von Siemens u. Halske  : " Die Lohn- und Arbeitsverhältnisse bei der Firma Siemens u. Halske  " ( Genosse Näther); Versammlung der Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen Berlins  : Arbeitslohn und Unternehmergewinn"( Genosse Millarg); öffentliche Volksversammlung für Männer und Frauen: Der Kampf ums Dasein"( Genosse Hoffmann); öffentliche Versammlung aller in der Gold- und Silberindustrie beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen: Der Werth der internationalen Arbeitervereinigungen"( Reichstags­abgeordneter Schmidt); öffentliche Versammlung aller in der Hut­fabrikation beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen: Die Maifeier" ( Genosse Adler); öffentliche Versammlung aller im Handelsgewerbe beschäftigten Hilfsarbeiter und Arbeiterinnen: Stellungnahme zum ersten Berufskongreß in Halle a. S.( Genosse Mett); öffentliche Ver­sammlung der Knopfarbeiter und Arbeiterinnen: Zweck und Nutzen der Gewerkschaftsbewegung"( Genosse Jahn); zwei öffentliche Ver­sammlungen der Schneider und Schneiderinnen: Der gegenwärtige Stand der Lohnbewegung"( Genossen Täterow und Timm); öffentliche Versammlung für Männer und Frauen: Photographie und Verbrechen" ( Genosse Hermann Stüve); öffentliche Versammlung der Tabakarbeiter und Arbeiterinnen: Die Lohnkürzungen der Berliner   Zigarrenfabri