82 all diese Machtmittel werfen die Besitzenden im Klassenkampf zu Ungunsten der Besitzlasen in die Wagschale. Indessen nicht lange mehr. Immer mehr verschiebt sich im Klassenkampf der Schwerpunkt der Macht nach der Seite der werk- thätigen Besitzlosen hin. Wirthschaftlich werden sie mehr und mehr aus einer der wichtigsten Wurzeln der Gesellschaft zu der einzigen Wurzel, aus der diese ihre Kraft saugt, und je mehr sie wirth­schaftlich im Vergleich zu den anderen Schichten der Bevölkerung leisten, um so mehr gewinnen sie an Selbstachtung, Klassenbewußt­sein und Kampfesmuth. Politisch erobern sie allmälig den aus­schlaggebenden Einfluß, weil sie die Mehrzahl sind und mit der ivachsenden Erkenntniß ihrer Lage, ihrer Interessen und des zu erstrebenden Zieles zu einem Willen erzogen, zu einer einzigen, einheitlichen Macht zusammengeschweißt werden, welche darnach streben muß, die Klassenherrschaft der Besitzenden zu vernichten, und welche auch stark genug ist, diese revolutionäre That zu voll­ziehen. Immer mehr tritt daher deutlich wahrnehmbar der Klassen­kampf ein in das Zeichen der beginnenden Klassenmacht der besitz­losen, werkthätigen Masse. Unsere Gesetzgebung, unsere gesammten sozialen Zustände spiegeln diesen Umschwung wieder. Allein in dem Maße, als sich der Schwerpunkt der Macht von den Besitzenden zu den Besitzlosen verschiebt, muß der Kampf von Klasse zu Klasse heißer und heißer entbrennen. Immer deut­licher und bewußter wird er aus einem Kampf um die Erringnng oder Versagung kleiner Augenblicksvortheile zu einem Kampf auf Tod und Leben, um Sein oder Nichtsein der einander gegenüber stehenden Klassen. Damit nimmt die Erbitterung, nehmen die Kraftanstrcngungen ans beiden Seiten zu, bis der ans die �Spitze getriebene Klassenkampf mit dem Sieg der Besitzlosen, mit der Er­oberung der politischen Macht durch das Proletariat endet, das sich dieser Macht bedient, unr seine volle Befreiung zu verwirk­lichen durch die Zertrümmerung der kapitalistischen Gesellschaft. Das Proletariat würde einen Selbstmord begehen, wollte es auf den Klassenkampf verzichten, wollte es das Schwert in die Scheide stecken und mit kindlich gläubigem Vertrauen harren, daß ihm dieGutgesinnten" die gebratene Taube seiner Befreiung in den Mund fliegen lassen. Zu keiner Zeit konnten die Besitzlosen viel von dem offenen Blick und dem guten Herzen der Besitzenden erwarten. Zu keiner Zeit aber iveniger als in unseren Tagen. Denn die Armnth, die Besitzlosigkeit der breiten Masse ist eine der Voraussetzungen der kapitalistischen Wirthschaftsweise, also der Grundlage, auf welcher das ganze Gebäude unserer gesellschaftlichen Ordnung ruht. Die Besitzenden werden aber freiwillig und bewußt niemals die Basis des Baues zerstören, in dem sie sich so äußerst behaglich eingerichtet Haben. Die ethische Bewegung ist mithin keine Bürgschaft für das, was das Proletariat von Seiten der Besitzenden zu hoffen hat. Wohl finden sich unter ihren Trägern einsichtsvolle und sehr wohlmeinende Leute. Aber als Bewegung, als soziale Strömung, ist sie keines­wegs der Ausfluß der Einsicht und des Wohlwollens der besitzen­den Klassen den Besitzlosen gegenüber. Sie entstand und wuchs unter dem Einfluß der Furcht vor der zunehmenden Schärfe des Klassenkampfes, vor der steigenden Macht des Proletariats, sie ist ein Ausdruck des bösen Gewissens der Besitzenden angesichts der von keiner unbefangenen Kritik zu leugnenden, himmelschreienden gesellschaftlichen Mißstände. So ist sie das Erzeugniß des näm­lichen Klassenkampfes, den sie als nicht genügend ethisch frisirt und parfümirt zurückweist. Würde der Klassenkanipf heute eingestellt oder auch nur an Schärfe verlieren, die ethische Bewegung als solche hörte auf zu existiren, nichts bliebe von ihr übrig als sehr wenige, vereinzelte bürgerliche Idealisten. Für das Proletariat kann sie des­halb nicht als geschichtliche Macht in Betracht kommen, von der dieses etwas zu hoffen hat, sondern nur als Anzeichen für die fortschreitende Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft und für seine eigene steigende Macht. Mag die Friedensschalmei aus dem Lager der Ethiker noch so lieblich tönen, die Arbeiter und Arbeiterinneu dürfen sich durch sie nicht locken lassen. Sie müssen der Kriegstrompete folgen, die sie zum Streite ruft, denn bis die Klassenherrschaft der Besitzenden ver­nichtet worden, ist und muß ihre Losung bleiben: der Klassenkampf. Die Aeeitinnenfeage im Reichstage. Im Anschluß an 1269 Petitionen für Zulassung der Frauen zum Studium der Medizin in Deutschland stand in der Schlußsitzung des Reichstags wieder einmal die Aerztinnenfrage auf der Tages­ordnung. Allerdings kam es nicht zu einer eingehenden Erörterung, geschweige denn zu einer endgiltigen, die Frauenwelt befriedigenden Entscheidung der wichtigen Frage. Denn die Mehrzahl der Reichs-, boten entsprach durch ihre Abstimmung dem Antrag der Petitions­kommission: sie ging über den Gegenstand zur Tagesordnung über. Dieser Beschluß heißt sich um eine unbequeme Frage herumdrücken,' aber nicht sie lösen. Als Müntelchen für diesen Verlegenheitsentscheid mußte wieder herhalten, daß die Zulassung der Frauen zum medi­zinischen Studium nicht zur Kompetenz des Reichs gehöre, sondern Sache der Kultusministerien der einzelnen Länder sei, mithin in den Einzellandtagen beantragt werden müsse. Es ist das der nämliche. Vorwand, hinter dem sich die Anbeter und Schildknappen des alt-j ehrwürdigen Zopfes verkriechen, wenn es sich um die Frage der An­stellung weiblicher Fabrikinspektoren handelt. In dem einen wie dem anderen Fall überläßt der Reichstag die Regelung den Einzelregierungen, die Einzelregierungen erwarten ihrerseits eine Anregung vom Reiche, und so werden die betreffenden Fragen von Pontius an Pilatus, und von Pilatus an Pontius verwiesen. Durch den Uebergang zur Tagesordnung kamen die Gegner des Frauenstudiums um die Gelegenheit, zum so und so vielten Male alle die bekannten, ach so bekannten. Gründe auszukramen, daß und warum die Frauen keine Aerztinnen sein können, keine Aerztinnen sein sollen und keine Aerztinnen sein dürfen. Charakteristisch war es, daß auch der Freisinnige Rickert unter dem oben angeführten Vorwand sich für die Nichtbehandlung der Frage erklärte. Aller­dings versprach er, im preußischen Landtag für die Zulassung der Frauen zu den medizinischen Fakultäten eintreten zu wollen. Aber man weiß ja, was im Punkte des Fortschritts von dieser gesetzgeben­den Körperschaft zu erwarten ist, es sei denn, daß Zeichen und Wunder aus oberen Regionen geschehen. Nur Bebel wendete sich scharf und treffend gegen den Kommissionsantrag. Seines Erachtens steht dem Reiche in der Sache wohl die Kompetenz zu. Und es muß diese Kompetenz geltend machen, denn es handelt sich um die Befriedigung eines tief empfundenen Bedürfnisses des weiblichen Geschlechts. Wollte man dieses über die auf der Tagesordnung stehende Frage entscheiden lassen, vier Fünftel seiner Angehörigen würden sich für die Zulassung der Frauen zum Studium der Medizin erklären. Jeder Arzt, auch wenn er aus Konkurrenzrücksichten gegen die Ausübung der ärztlichen Praxis durch Frauen sei, müsse zugeben, daß die Zahl der Frauen­krankheiten mit jedem Jahre zunimmt, und daß viele weibliche Patienten aus Schamgefühl nicht rechtzeitig die Hilfe eines Arztes suchen, deshalb aber zu Grunde gehen oder lebenslänglichem Siech­thum verfallen. Es sei deshalb im Interesse der Frauenwelt eine Nothwendigkeit, dem weiblichen Geschlecht das medizinische Studium freizugeben. Deutschland stehe in dieser Hinsicht hinter allen Kultur­ländern Europas zurück, ja sogar hinter der Türkei , welche ihren Unterthaninnen erlaube, in Paris Medizin zu studiren. Jedoch die Zeit sei nicht fern, wo auch in Deutschland diese Frage zu Gunsten des Fortschritts entschieden werde, wo auch Diejenigen für den Zutritt der Frauen zu den Hör- und Sezirsälen stimmen müßten, die sich heute noch dagegen wehrten. Bezeichnend war es, daß Bebel nicht blos in seinem Namen sprach, sondern, wie er ausdrücklich betonte, in dem seiner Partei­genossen. Dieser Umstand ist bedeutsam genug. Er zeigt, daß im Deutschen Reichstag nur eine einzige Partei als Ganzes prinzipiell klar und fest geschlossen für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts eintritt: die sozialdemokratische Partei. Alle Debatten, die bis jetzt im Reichstag über Gegenstände stattgefunden haben, welche einen Zipfel der sogenannten Frauenfrage ausrollten, ließen die gleiche Thatsache zu Tage treten. Wohl finden sich bei der und jener Frage Angehörige der verschiedenen bürgerlichen Parteien, welche für die Erweiterung der Frauenrechte eine Lanze brechen. Aber die Betreffen­den nehmen in Folge ihrer diesbezüglichen Haltung innerhalb ihrer Partei eine Sonderstellung ein. Nicht im Namen, nicht im Auftrag dieser Partei fordern sie für das weibliche Geschlecht ein vorenthaltenes Recht; was sie fordern, sie verlangen es nur in ihrem eigenen, persön­lichen Namen. Ihre Ueberzeugung in der Frage wird von der Mehr­zahl ihrer Parteigenossen belächelt als eine unbegreifliche Absonderlich­keit, als ein abgeschmacktes Steckenpferd. Gleichgiltig oder feindlich, auf alle Fälle aber verständnißlos stehen diese ihrer Auffassung gegenüber. Gerade das Gegentheil gilt von der sozialdemokratischen Partei, in deren Programm die Forderung der Gleichberechtigung des weib-