119 Stevens selbst und ihre Kollegin. Frau Florence Kelley . während ihrer Aintsthätigkeit als Fabrikinspektorinnen gemacht haben. Frau Stevens stellt zuerst fest, daß alle offiziellen Angaben über den Umfang der Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten durchaus unzuverlässig und lückenhaft sind. Nach der Volkszählung von 1839 betrug die Zahl der i» Fabriken und sonst gewerblich thätigen Kinder 1.113,258. Laut der Volkszählung von 1379 sollten jedoch in diesem Jahre in der Industrie der Vereinigten Staaten nur 121,494 Kinder(d. h. Knaben unter 18 und Mädchen unter 15 Jahren) auf 4.590.837 Erwachsene beschäftigt gewesen sein. Diese Zahlen sind viel zu niedrig gegriffen. weil nach den Aussagen aller Beamten, sowohl Eltern wie Unternehmer bei amtlichen Erhebungen das Alter der beschäftigten Kinder höher angeben, oder die Anzahl der arbeitenden Kinder zu niedrig. Wie unvollständig die Angaben über die Zahl der erwerbsthätige» Kinder überhaupt sind, dafür ein Beispiel. Nach dem Bericht des Fabrikinspektors McCacmont von Pennsylvanien arbeiten in den Ackerbau- und Minendistrikten dieses Staates mindestens 125,01X1 Kinder. Die offizielle Statistik erwähnt diese Achtelmillion kindlicher Arbeiter mit keinem Wort. Im Staate Illinois war von 1879—1893 keine statistische Erhebung über die Kinderarbeit aufgenommen worden. Erst in dem letztgenannten Jahre ordnete der Gouverneur Altgeld eine solche durch die Fabrikinspektoren an. Die Oberleitung der diesbezüglichen Arbeiten wurde Frau Kelley anvertraut. Die Erhebung zeigte sinnenfällig, wie durchaus falsch die auf der 1890er Volkszählung beruhenden Angaben über die Kinderarbeit in den Vereinigten Staaten sind. Nach der Volkszählung von 1880 waren in Illinois in 20,482 Fabrikbetrieben 5426 Kinder beschäftigt. Die 1893 ernannten Fabrikinspektoren fanden jedoch bereits in den ersten 5 Monaten ihrer Amtsthätig- keit in 2542 Betrieben— d. h. im achten Theile der oben angegebenen Zahl— 6576 arbeitende Kinder vor. Das 1393 für den Staat Illinois erlassene Arbeitsschutzgesetz, das u. a. die Altersgrenze für in Fabriken und Werkstätten thätige Kinder auf 14 Jahre festsetzt, erwies sich von segensreicher Wirkung. Die Fabrik- inspektorinnen wachten und wachen gewissenhaft über seine Durchführung. Viele Hunderte von unter 14 Jahre alten Kindern mußten sofort die Fabriken verlassen.„Täglich sandten wir." so berichtet Frau Stevens,„an den Schulrath eine Liste der schulpflichtigen Kinder, die wir in den Fabriken antrafen. In Nothfällen— wenn die Familie durch äußerste Armuth getrieben war. das Kind in die Fabrik zu schicken— wandten wir uns an die„Schulkinder-Hilfsgesellschaft," oder eine ähnliche Organisation um Unterstützung. Da sich unser Fabrikgesetz nur auf Werkstätten und Fabriken erstreckt, kann der Schulrath noch für Kinder unter 14 Jahren Erlaubnißscheine zur Arbeit in Läden zc. ausstellen. Es wird daher nöthig sein, unser Gesetz aus Handelshäuser zc. auszudehnen. Durch unsere gründliche Untersuchung reduzirt sich beständig die Zahl der arbeitenden Kinder im Alter von 14—16 Jahren. Viele Kinder, denen wir beim Antritt unseres Amtes ein Alterszeugniß beglaubigten, hatten, obschon sie noch nicht 16 Jahre waren, bereits 3 und 4 Jahre gearbeitet. Heute nehmen es die Fabrikanten etwas genauer damit, um nicht von der Fabrikinspektion„belästigt" zu werden, wie sie sich ausdrücken. Man hat uns von Seiten Derer, die nicht einsehen wollen, daß Kinderarbeit unter allen Umständen und absolut ein ökonomischer Verlust ist. oft eingewendet. daß wir in individuellen Fällen der Familie wehe thun. Aber — wenn Kinderarbeit durchwegs schädlich ist, darf auch die individuelle Noth einer Familie nicht der Abschaffung der Kinderarbeit im Wege stehen. Nichts hat mich bei meiner Fabrikinspektion mehr überrascht, als die Entdeckung des fortwährenden Manderns der arbeitenden Kinder von einem Betrieb zum andern— wodurch die Ausrede der Eltern und Beschäftiger. daß das Kind ein„Geschäft lernt" vollständig hinfällig wird. Die Werkstätten, wo Knaben und Mädchen im zarten Alter ein Gewerk erlernen, gehören zu den Ausnahmen. Am 23. August 1893 inspizirte ich eine Zuckerwaarenfabrik. wo ich 80 Kinder unter 16 Jahren fand. Ich inspizirte ihre Alterszeugnisse, fand 63 in Ordnung und stempelte sie; die 17 anderen Kinder schickte ich nach Hause. Am 8. September besuchte ein anderer Inspektor diese Fabrik: da fand er 71 Kinder und davon waren 70 neu angestellt; nur ein Kind war von den 63, welche ich zwei Wochen zuvor gesehen. noch da; die anderen 62 hatten andere Stellen angenommen. Nur 3 Tage später, am 11. September, fand eine dritte Inspektion in jener Zuckerwaarenfabrik statt; dort wurden 119 Kinder angetroffen und wieder eine große Anzahl neuangestellte, deren Alterszeugnisse noch nicht bescheinigt waren. Der betreffende Fabrikant nimmt jetzt nur Mädchen über 16 Jahre an. um nicht„belästigt" zu werden: freilich muß er nun mehr als 4'/- Cents die Stunde bezahlen— das ist der Durchschnittslohn, den junge Mädchen in der Zuckerwaarenfabrik erhalten." Frau Kelley bestätigt die nämliche Thatsache in ihrem offiziellen Bericht: „Es kommt äußerst selten vor," so heißt es hier,„daß man eine Schaar von Kindern zwei Monate beisammen findet. Heute sind sie hier, morgen anderswo; zwar bleiben sie durch diese Unstetigkeit von dem spezifischen Gifte jedes Geschäftes verschont— aber sie lernen auch nichts und bleiben unfähig, sich zu erhalte». Das Kind, welches in einer Schachtelfabrik mit Arsenik-Papier lange zu thun hat. wird heillos invalide. Der Knabe, welcher billige Rahmen mit Quecksilber überarbeitet, zieht sich ein unheilbares Halsleiden und eine Schwäche seines Armes zu. Die Tabakarbeiterinnen leiden an Nikotin-Vergiftung, die Tretmaschinennäherin ist auf Lebenszeit das Opfer von Unterleibsleiden. Aber der Knabe und das Mädchen, die alle diese Geschäfte durchlaufen, nirgends stetig arbeiten, oft wechseln, lernen gar nichts, bleiben Stümper, können in keinem Fach etwas leiste». sind später ebenso geistig und moralisch ruiniert, wie die geschickteren Arbeiter körperlich." Frau Stevens führt darauf aus. daß gerade in den g e s u n d h e i t s- schädlichsten und gefährlichsten Industriezweigen die meisten Kinder verwendet werden. Besonders groß ist z. B. die Zahl der kindlichen Arbeiter in der Textilindustrie, obgleich hier jährlich Tausende von Betriebsunfällen vorkommen, welche die Betroffenen zu Krüppeln machen oder ihnen gar das Leben rauben, und obgleich die Beschäftiguyg in den Woll- und Baumwollfabriken in Folge ausgedehnter Arbeitszeit und des Einathmens der staubgeschwängerlen Luft die Gesundheit in hohem Maße schädigt. Tausende von Kindern werden in den Tabakfabriken geradezu vergiftet. Ihr Körper schrumpft zusammen, ihre Haut wird gelb, die Drüsen schwellen an und das Herz bekommt organische Fehler. Die Arbeit in der Glas-, Eisen-, Stahl-, Messing-, Möbel- und Kleiderfabrikation. sowie in Druckereien vernichtet nach Frau Stevens total die Gesundheit der Kleinen. In den Bilderrahmen-Vergoldereien bekommen die Kinder sehr bald steife Finger, an den Nähmaschinen krümmt.sich ihr Rückgrat, in den Bäckereien rösten sie langsam vor dem Ofen, in der Metallindustrie zerstöre» Feil- und Schleifspähne ihre Lungen, in den Buchbindereien werden sie durch arsenikhaltiges Papier vergiftet, in Gießereien erleiden sie Brandwunden, in Schmieden und Hammerwerken werden sie taub. Die Gewissenlosigkeit und die Profitgier des Unternehmerthums erhellt aus einer von Frau Stevens betonten Thatsache. Sehr viele reiche Aktiengesellschaften und Einzelunternehmer in Chicago schließen mit den Eltern oder dem Vormunde des arbeitenden Kindes einen Kontrakt, dahin lautend, daß der Betrieb für eventuelle Unfälle nicht haftbar ist. Das Unternehmerthum weiß also sehr wohl, daß kindliche Arbeiter weit mehr als Erwachsene Betriebsunfällen ausgesetzt sind. Dessen ungeachtet verwendet es mit Vorliebe und in ausgedehntem Maße die billigen kindlichen Arbeitskräfte, dabei klug von vornherein jede materielle Verpflichtung bei Unglücksfällen von sich abwälzend. Daß Kinder so häufig bei der Arbeit verunglücken, ist mit auf Rechnung ihrer Unvorsichtigkeit zu setzen.„Aber", so bemerkt Frau Stevens sehr richtig,„unvorsichtig zu sein, ist eine der Eigen- thümlichkeiten der Kinder. Und eben weil wir wissen, daß Kinder unvorsichtig sind, ist es ein Verbrechen, sie mit gefährlicher Maschinerie Hantiren zu lassen." Sie stimmt deshalb voll und ganz Frau Kelley zu, welche fordert, daß das Gesetz, wie in Ohio , den Fabrikinspektoren das Recht zuspricht, jedes Kind aus einem Betrieb zu entfernen, wo die Arbeit für Leben, Gesundheit oder Sittlichkeit gefährlich ist. Allerdings besteht in Ohio das betreffende Gesetz bis jetzt lediglich auf dem Papier. Nach der Volkszählung von 1890 waren daselbst in Fabriken 6551 Kinder beschäftigt, welche bei Durchführung sofort hätten entlassen werden müssen. Wenn es den Fabrikinspektoren nur in beschränktem Maße möglich ist. Kinder aus lebens- und gesundheitsgefährlichen Betrieben zu entfernen, so trägt nach Frau Kelley außer der mangelhaften Gesetzgebung noch die Unverständigkeit und Gewissenlosigkeit der Aerzte die Schuld daran. „Ohne die Arbeitsstätte besichtigt zu haben", sagt sie.„gaben die Aerzte dem Kinde ein Attest, daß es die begonnene Arbeit fortsetzen könne." Zur Illustration des Gesundheitszustandes der industriell thätige» Kinder und des Einflusses der Arbeit darauf, führt Frau Stevens in ihrem Artikel folgende Stelle aus Frau Kelley's Bericht an:„Innerhalb der ersten vier Monate haben wir 135 in Fabriken thätige Kinder, die uns kränklich oder zu klein oder zu schwer beschäftigt erschienen, in unserem Bureau ärztlich untersuchen lassen. Es waren lauter Kinder, deren Eltern geschworen hatten, daß sie„über14Jahre" alt seien. Wir ließen jedes Kind in den Kleidern und außerdem nackt wiegen; Augen und Ohren untersuchen, Lunge. Herz. Rückgrat, Gelenke. Nägel. Haut und 40 Messungen vornehmen. Von diesen 135
Ausgabe
4 (25.7.1894) 15
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