Nr. 23.
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Die Gleichheit.
4. Jahrgang.
Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro . 2660) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.
Mittwoch, den 14. November 1894.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
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In sieben Tagen ernster Arbeit hat der lezte Parteitag der deutschen Sozialdemokratie die ihm gestellten Aufgaben erledigt. Schon die große Zahl der Theilnehmer 240 Vertreter der Partei mit zusammen 269 Mandaten- ist ein Anzeichen dafür, welche Wichtigkeit man in Parteifreisen den zu erörternden Fragen zuerkannte. Und der sozialistischen Bewegung, dem im Kampfe stehenden Proletariat zu Nuz hat der Parteitag seine Aufgabe gelöst. Die durchaus falsche Werthschäßung, die ihm die Gegner angedeihen lassen, kann darüber nicht hinwegtäuschen. Wenn ein Theil derselben die Verhandlungen als geistig minderwerthige mit Spott und Hohn überschüttet; wenn eine zweite Gruppe bürgerlicher Politiker über den augenscheinlich innerhalb der Sozialdemofratie vorhandenen Gegensatz zwischen„ Realpolitikern" und" Doktrinären" jubelt; und wenn endlich Dritte mit hämischer Genugthuung den„ Mauserungsprozeß" der Sozialdemokratie aus einer revolutionären zu einer Reformpartei konstatiren, so ist hier wie da der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen.
Gewiß, der diesjährige Parteitag der deutschen Sozialdemofratie hatte sich vorwiegend mit praktischen Aufgaben zu beschäftigen und trug einen vorstechend praktischen Zug. Allein all die praktischen Fragen, die an ihn herantraten, wurden doch stets zu= legt unter dem einen prinzipiellen Gesichtswinkel erwogen: ob ihre Lösung in diesem oder jenem Sinne dazu beitrage, den Untergang des heutigen Klassenstaats, den Aufbau der fozialistischen Zukunftsgesellschaft zu beschleunigen, die Stunde der Befreiung der Arbeit näher herbeizurücken. In dieser Auffassung des Zusammenhangs zwischen Mittel und prinzipiellem Zweck herrschte völlige Ginstimmig feit auf dem Parteitage, soweit auch sonst oft über das Wie der Mittel und ihre Zweckmäßigkeit die Meinungen auseinandergehen mochten. Daß aber dort, wo es sich um Zweckmäßigkeitsfragen handelte, vorübergehend auch die kleine persönliche Erfahrung, die furzsichtige praktische Rechnungsträgerei mehr zum Worte kommen mußte, als der große, dauernde und im Grunde doch Alles be= herrschende prinzipielle Gesichtspunkt, ist erklärlich genug.
Von größter Wichtigkeit für die weitere Machtentfaltung der Sozialdemokratie ist wohl der Beschluß des Parteitags, durch energisches und planmäßiges Vorgehen die ländlichen Bevölkerungsschichten zu erobern, welche durch ihre wirthschaftliche Lage in einem Gegensatz zu der bürgerlichen Gesellschaft stehen oder gebracht werden: die landwirthschaftlichen Arbeiter und die Kleinbauern. In eingehenden Referaten schilderten Schönlank und Vollmar die durch die geschichtliche und wirthschaftliche Entwicklung bedingten verschieden und eigenartigen Verhältnisse, mit denen die Agitation auf dem Lande rechnen muß. Daß diese Verhältnisse für die Art der Agitation zu berücksichtigen sind, ist selbstverständlich. Einleuchtend ist es auch, daß ein positives Programm von Reformen zu Gunsten der landwirthschaftlichen Arbeiter und Kleinbauern die einen wie die anderen der Sozialdemokratie rasch näher führen wird. Der zweite Theil unseres Programms enthält eine
Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Fr. Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , RothebühlStraße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
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ganze Reihe von Forderungen, die sozusagen nur aus dem Industriellen in das Landwirthschaftliche übertragen werden müssen, damit die Sozialdemokratie der ländlichen Bevölkerung nicht blos als die Befreierin für die Zukunft erscheint, sondern auch als die ernsteste Verfechterin ihrer Gegenwartsinteressen. Diesen Punkten können zu Nuz und Frommen des Agrarproletariats und des Kleinbauernthums noch verschiedene Forderungen beigefügt werden, ohne daß die Sozialdemo fratie etwas von ihrem prinzipiellen Standpunkt preiszugeben braucht. Dagegen muß sie es entschieden ablehnen und längere Debatten hätten diesen Standpunkt klipp und klar als den der großen Mehrzahl der Delegirten erwiesen dafür einzutreten, daß der ländliche Kleinbesig, soweit er durch den wirthschaftlichen Entwicklungsgang bereits zum sicheren Untergang verurtheilt ist, mit Staatsmitteln, d. h. auf Kosten der Steuerzahler, künstlich aufgepäppelt werde. Unmöglich kann auch die Sozialdemokratie bezüglich der Aufklärung über unser Endziel die Taktik der„ homöopathischen Dosen" befolgen, welche von den Referenten über die Agrarfrage mit Rücksicht auf den Erfolg empfohlen wurde. Von dieser Taktik etwas erwarten, ja sie auch nur für möglich halten, wäre die reinste Utopisterei. reinste Utopiſterei. Sobald die Sozialdemokratie ernstlich an die Eroberung des flachen Landes geht, treten auch alle bürgerlichen Parteien ein in das Wettrennen um den Bauern. Hat der sozial demokratische Agitator nicht schon das Endziel der sozialistischen Bewegung rückhaltslos entwickelt, so wird es der Gegner enthüllen, und das Vertrauen in die Ehrlichkeit der Sozialdemokratie ist in der Folge von vornherein erschüttert. Es wird die Aufgabe der vom Parteitag beschlossenen und gewählten fünfzehngliedrigen Kommission sein, ein Programm zu schaffen, in welchem die praktische Zweckmäßigkeit ebenso ihr Recht findet, wie der prinzipielle sozialistische Standpunkt.
Zur Frage der Kartelle, Ringe, Trusts führte Schippel aus, daß diese großkapitalistischen Gebilde die naturwüchsigen Erzeugnisse unserer modernen wirthschaftlichen Entwicklung sind. Ihrem Aufkommen gegenüber ist weder gefeßliches noch polizeiliches Eingreifen am Plaze und von Erfolg. Ein Anstemmen gegen ihre Entwicklung liegt auch nicht im Interesse der Arbeiterklasse, da sie eine Regelung der Produktion herbeiführen und die Anhäufung der Produktionsmittel in einer immer fleineren Zahl von Händen beschleunigen. Aber gleichzeitig führen sie in Folge der Organisation der kapitalistischen Unternehmer zu einer größeren Abhängigkeit der Arbeiterschaft. Niedrigere Löhne, stärkere politische und soziale Knechtschaft sind ihre Begleiterscheinungen für das Proletariat. Dieses muß sich der organisirten Kapitalmacht gegenüber gleichfalls organisirt, durch den gewerkschaftlichen Kampf seiner Haut wehren. Allein dieser Kampf wird bedeutend erschwert, ja zum Theil lahm gelegt, durch die gleiche Macht, welche mit schlechteren Arbeitsbedingungen droht. Deshalb muß zu dem ge= werkschaftlichen der politische Kampf der Arbeiterklasse treten, welcher dem Klassenstaat gesetzliche Schranken der kapitalistischen Ausbeutung abtrott, sowie den gesetzlichen Schutz der uneingeschränkten Koalitionsund Vereinsfreiheit . Dadurch erst erhalten die Gewerkschaften festen Boden unter den Füßen, erhalten sie Ellbogenraum für ihre Kampfesthätigkeit. Außer den Genossen Schönlant und Adler- Wien waren es besonders die aus Dortmund und Essen entsendeten Delegirten