Nr. 25.
1193
Die Gleichheit
4. Jahrgang.
Beitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro . 2660) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.
Mittwoch, den 12. Dezember 1894.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Nothwendige Klärung.
Der Form nach heftig, dem Wesen nach nöthig und klärend sind die Auseinanderseßungen, welche gegenwärtig innerhalb der deutschen Sozialdemokratie stattfinden. Bekanntlich war es Bebel's Kritik an der Haltung und den Beschlüssen des Frankfurter Parteitags, die zu diesen Auseinandersetzungen den Anstoß gab. Den Anstoß und nicht die Ursache. Denn die Ursache liegt in der Thatsache, daß innerhalb der deutschen Sozialdemokratie zwei Strömungen vorhanden sind: eine, welche die alte Taktik aufrecht erhalten will, die aus dem Prinzip des Klassenkampfes herauswächst, und eine zweite, welche nach einer neuen Taktik verlangt, einer Taftit, für welche in erster Linie nicht das Prinzip maßgebend ist, vielmehr die Zweckmäßigkeit", d. h. die Rücksicht auf den Augenblickserfolg. Auf die Kritit dieser zweiten Strömung aber und ihrer kräftigen Aeußerung auf dem letzten Parteitag liefen im Wesentlichen Bebel's bekannte Ausführungen hinaus.
Von dem Augenblicke an, wo innerhalb der deutschen Sozialdemokratie die gekennzeichneten beiden Richtungen vorhanden waren, und wo in Folge gewisser Umstände die Strömung der Zweckmäßigkeitsschwärmer an Umfang und Bedeutung gewann, mußte es auch früher oder später zu Auseinandersetzungen kommen, wie die, welche gegenwärtig ihre Wortführer gefunden haben in Bebel einerseits, Vollmar- Grillenberger andererseits. Es mußte zu ihnen kommen, und wir für unseren Theil sagen: je früher, je besser. Vertuschen und vertagen heißt in diesem Falle stets: verschlimmern, keineswegs aber: beseitigen und bessern.
Die Entscheidung über die Frage: alte oder neue Taktif, ist von einschneidender Wichtigkeit für die Einheit und Geschlossenheit der Partei und für ihre Marschlinie in nächster Zukunft. Und angesichts der Bedeutung, welche dem Kern der Auseinandersetzungen innewohnt, scheint es uns, gelinde ausgedrückt, ein sehr müßiges Beginnen, an der Schale derselben herumzumäfeln, ihre Stacheln zu zählen, heftig und höchst persönlich darüber zu streiten: ob Bebel dem Parteitag gegenüber das Recht der Kritik zusteht, ob er die Grenzen dieses Rechts überschritten, ob im gegenwärtigen Augenblick das Anschneiden der Frage geboten war, ob er hier und da im Einzelnen über die Schnur gehauen, zu pessimistisch gesehen und ähnlichen welterschütternden Kleinkram mehr.
Gewiß, die beiden gekennzeichneten Strömungen, eine„ gemäßigte" und eine" radikale", um die landläufigen Ausdrücke zu gebrauchen, hat es zu jeder Zeit innerhalb der deutschen Sozialdemokratie gegeben. Und an gelegentlichen Scharmüßeln zwischen den„ orthodoren Hütern des Prinzips" und den praktischen Zweck mäßigkeitsaposteln" hat es wohl fast nirgends gefehlt. Aber bis jetzt trugen die Vorstöße der letteren so gut wie ausnahmslos den Charakter vereinzelter Erscheinungen. Sie wurden als ein Antasten des Lebensnerves der Partei empfunden und aufgefaßt; die Rücksicht auf die Zweckmäßigkeit, auf den Tagessieg galt nicht als Ausfluß einer staatsmännischen Weisheit, welche die Bewegung fördert, sondern als Mangel an Prinzipienfestigkeit, welcher diese schädigt. Soweit Parteitage sich mit Fragen befaßten, bei welchen es sich um eine Entscheidung zwischen Zweckmäßigkeit" und" Prinzip"
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Zuschriften an die Redaktion der„ Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , RothebühlStraße 147, IV. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
handelte, erklärte sich noch stets eine erdrückende Mehrheit gegen die Taktik der vom gesunden Menschenverstand" angepriesenen Zweckmäßigkeit. Wir erinnern in der Beziehung an die Beschlüsse des Erfurter Parteitags in Sachen der von Vollmar befürworteten Taktik, an die Haltung der Parteigenossen und die Resolution des Berliner Parteitags in der Frage des Staatssozialismus 2c.
Der Parteitag zu Frankfurt a. M. hat sich seinerseits in verschiedenen Punkten, wo bezüglich der Taktik Zweckmäßigkeit gegen Prinzip stand( Budgetabstimmung der bayerischen sozialistischen Landtagsfraktion, Agrarfrage 2c.) nicht mit der gleichen Energie und Einheitlichkeit als seine Vorgänger für eine streng prinzipielle Taktik erklärt. Gewiß, in der Agrarfrage ist die letzte Entscheidung noch nicht gefallen, und die von den Bayern geforderte Taktik der freien Hand für jede" Landsmannschaft", d. h. für Rechnungsträgerei den rückständigsten Volksschichten gegenüber wurde nicht offiziell gebilligt. Aber der Umstand, daß sich für diese Taktik die bedeutende Minorität von 93 Stimmen erklärte, ist ein Anzeichen für den Umfang, den die Strömung der alleinseligmachenden Zweckmäßigkeitstaktik gewonnen hat. Allerdings haben unseres Erachtens bei dem Ausfall der betreffenden Abstimmung weit mehr zufällige und persönliche Momente mitgewirkt, als Genosse Bebel annimmt. Aber der Umstand, daß eben zufällige und persönliche Momente bestimmend sein fonnten in einer Frage von solcher Wichtigkeit für die fernere Gestaltung der Parteitaktik, ist sehr charakteristisch und noch weit mehr bedenklich und läßt auf mangelnde Klärung der Auffassung vom Charakter und dem Ziele der Sozialdemokratie innerhalb der eigenen Reihen schließen.
Aber nicht nur als Anzeichen für den Umfang der Strömung, welche allen Schichten der Bevölkerung den Sozialismus mundgerecht machen möchte, forderte der Frankfurter Parteitag besondere Beachtung und besondere Kritik heraus. Er zeigte auch, daß das, was in Erfurt angebahnt, aber offiziell zurückgeschlagen worden war, sich unterdeß, fast unbemerkt, bis zu einem gewissen Grade verwirklicht hatte. Die vereinzelten und gleichsam planlosen Versuche, die Taktik der Bescheidenheit zu verfolgen, die praktische Reformarbeit in den Vordergrund zu stellen, den Augenblicksinteressen und noch mehr den rückständigen Anschauungen der verschiedensten Bevölkerungsschichten Rechnung zu tragen, die Endziele der Sozialdemokratie, um„ Niemand zu erschrecken", theelöffelweiſe und verdünnt einzugeben, hatten einem systematischen und planmäßigen Vorstoß der Richtung Plaz gemacht.
Damit nicht genug. Die Richtung hat in der Person des Genossen Vollmar einen Führer gefunden, der zu den geistig her= vorragendsten Vorfämpfern der Bewegung zählt. Die Taktik, die bisher aus den verschiedensten Gründen vereinzelt, schüchtern, verschämt Der oder Jener anstrebte, der sich vielleicht über den Frontwechsel nicht recht klar geworden war, die will Genosse Vollmar flar bewußt einschlagen und konsequent weiterführen. Die Anhänger der Zweckmäßigkeitstaktit haben damit ein Haupt erhalten, wie sie es fähiger und geschickter nicht finden würden.
In der Folge all dieser Umstände liegt aber für die Partei die Nothwendigkeit vor, Stellung zur Frage der Taktik zu nehmen, zu klären und zu entscheiden, auf welcher Marschlinie die Sozialdemokratie in nächster Zukunft ihrem Endziele zustrebt. Ein Nebeneinander der