Nr. 26 der ,, Gleichheit" gelangt am 24. Dezember 1894 zur Ausgabe.

Wie Dividenden zu Stande kommen. Die Oschatzer Zucker­fabrik ist Tag und Nacht in Betrieb, die Tagschicht dauert von früh 7 Uhr bis Abends 7 Uhr, die Nachtschicht von Abends 7 Uhr bis Morgens 7 Uhr. Für viele Arbeiter der Fabrik giebt es keine be­stimmten Pausen zum Essen. Der Lohn beträgt für Arbeiter und Arbeiterinnen 14-20 Pfennig pro Stunde. Arbeiterinnen werden nur sehr selten mit dem höchsten Sage entlohnt. Wer während der Nachtschicht zum ersten Male schläft, zahlt eine Mark Strafe, wird er zum zweiten Male schlafend angetroffen, so erfolgt seine Entlassung. Die Strafgelder, welche für bestimmte Ver­gehen" erhoben werden, steigen bis zu drei Mark. Bei solch hoch­gradiger Auspressung der proletarischen Arbeitskraft muß die Fabrik eine gedeihliche Entwicklung" aufweisen, eine gedeihliche Entwicklung ad majorem gloriam Dei, zu Nuß   und Frommen des kapitalistischen  Profits.

Auswucherung weiblicher Arbeitskraft. Eine Zigaretten Papierspitzenfabrik in Leipzig  , welche Arbeitskräfte anwarb, machte einer Arbeitsuchenden folgendes glänzende Angebot: Vierzehn Tage Lehrzeit ohne jede Entschädigung( die Arbeit kann in ein paar Stunden gelernt werden), darauf drei Wochen Arbeit gegen einen Lohn von 3 Mark wöchentlich, später Affordarbeit. Die Inhaber der betreffenden Fabrik wissen, welcher Weg zum Kommerzienrath führt.

Zu sparagneslicher Enthaltsamkeit sind offenbar die in Buch­bindereien und verwandten Berufszweigen beschäftigten Arbeiterinnen in Glogau   gezwungen. Dieselben erhalten nämlich einen Wochen­lohn von 4 bis 6 Mark; nur ausnahmsweis gut gestellte Arbeite­rinnen bringen es auf einen wöchentlichen Verdienst von 7 bis 8 Mark. Zu dem geschichtlich gewordenen Kapitälchen" werden es die Aermsten wohl trotz aller Enthaltsamkeit" nicht bringen. Oder doch, verehrter Vater der Sparagnes?

Eine Reform der rechtlichen Stellung der Frau ist für den Kanton Genf   zu verzeichnen. In zwei neuen Geſetzartikeln wird be­stimmt, daß das, was eine Ehefrau durch ihre eigene Arbeit erwirbt, ihr und nicht dem Manne gehört, daß sie darüber rechtsgiltig verfügen kann und daß die Gläubiger des Mannes fein Recht haben, Anspruch darauf geltend zu machen. Daß der Erwerb der Frau dem Mann und seinen Gläubigern gegenüber sicher gestellt wird, ist gewiß ein Fortschritt, den wir mit Freuden begrüßen. Aber den anderen, ebenso nothwendigen, ja nothwendigeren Fortschritt: den Ertrag der Arbeit der proletarischen Frau gegen die Aneignung durch einen Kapitalisten zu schüßen, dieser Fort­schritt wird durch keine Reform der rechtlichen Stellung des weib­lichen Geschlechts bewirkt werden. Er findet seine Verwirklichung einzig und allein durch eine Revolution der wirthschaftlichen Ver­hältnisse der Arbeiterklasse, durch die Zertrümmerung der Klassen­herrschaft, durch den Umsturz" der Gesellschaft aus einer kapitalisti­ schen   in eine sozialistische.

Frauenkonferenz in London  . Am 26. November trat in London   eine Frauenkonferenz zusammen, welche sich folgende Auf­gabe stellte: a) Organisation der Arbeiterinnen; b) Spezielle und systematische Umfragen über die Arbeitsbedingungen der Frauen in den verschiedenen Gewerben; c) Sammlung und Veröffentlichung statistischer Daten; d) Abhaltung von Konferenzen zur Diskussion über alle Fragen, welche die materiellen Interessen der Arbeiterinnen betreffen. Wir hoffen demnächst Näheres über diese Konferenz berichten zu können.

Frauenstimmrecht in England. Für die nächsten Londoner  Gemeinderathswahlen haben sich auch Frauen unter den Kandidaten gemeldet. Im aristokratischen Viertel der Stadt sollen fünf weibliche Kandidaten aufgestellt worden sein. Was sagt der deutsche ehrsame Zopf dazu?

Weibliche Aerzte in England. Miß E. Winifred Diron ist für Geburtshilfe und Frauenkrankheiten an den drei staatlichen Krankenhäusern zu Dublin   angestellt worden. Die Universität Glas­ gow   verlieh kürzlich zwei Damen die Grade als Baccalaureus der Medizin bezw. Magister der Chirurgie. Es war dies das erste Mal, daß Frauen für die betreffenden Wissenschaften von einer schottischen Universität Grad und Titel erhielten. Wann werden sich deutsche Universitäten zu der gleichen Vorurtheilslosigkeit entschließen?

Zahlen als Ankläger. Nach genauen Untersuchungen von 2983 Todesfällen von Arbeiterkindern konnte die statistische Gesell­schaft von London   feststellen, daß 2968 dem Hunger, bezw. der ungenügenden Ernährung geschuldet waren. Diese trockenen

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upharsin! Die kapitalistische Gesellschaft, die Tausende, Millionen von Kindern durch die Armuth und Ausbeutung der Eltern dem Verkommen, dem Siechthum, dem Hungertode überantwortet, ist von der Geschichte gewogen und zu leicht befunden worden. Das Prole­tariat wird zu geeigneter Stunde das Urtheil der Geschichte an dieser Gesellschaft des straflosen bethlehemitischen Kindermordes vollstrecken.

Dem Vater der Strampel- Annie und gewissen bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zur Kenntnißnahme. Der englische   Staats­minister des Innern empfing fürzlich eine Abordnung der Britischen Medizinal Gesellschaft", welche die Regierung ersuchte, der steigen­den Kindersterblichkeit in den Industriestädten die ernsteste Aufmerksamkeit zuzuwenden. Von je 1000 Kindern im Alter unter einem Jahre starben 1885 in London   148, im Jahre 1893 jedoch 164; in einem Induſtriedistrikte der Hauptstadt betrug die Sterblichkeits­ziffer sogar 208. Nach sorgfältig durchgeführten statistischen Er­hebungen über die Kindersterblichkeit sind von je 100 000 Geburten am Leben geblieben: in den rein ländlichen Distrikten 90 283; in den gemischten Distrikten 83 081; in den Induſtrieſtädten 78 197. Auf je 10 Todesfälle auf dem Lande kommen 12 Todesfälle in der Industrie­stadt. Als Ursache der Erscheinung gab die Abordnung der Medizinal­Gesellschaft an: durch die Industrie wird die Mutter zu früh dem Kinde entzogen. Tausende und Abertausende von Kindern sterben, weil ihnen die mütterliche Pflege nicht zu Theil werden kann. Die Thatsache ist bereits oft genug ziffernmäßig festgestellt worden. Mary hat in seinem Kapital" aus den Berichten englischer Fabrik­und Sanitätsinspektoren beweiskräftigste Belege dafür angeführt, daß die kapitalistische Gesellschaft Schaaren proletarischer Kinder zartesten Alters zum Tode verurtheilt, indem sie ihnen die Mutter raubt, um diese als billige werthschaffende Kraft in die Fabrik zu sperren. Die kapitalistische Gesellschaft aber kümmert sich weder um Thatsachen, noch Wissenschaft, noch Menschlichkeit, sie folgt nur ihrem Polarsterne: Profit. Nicht einmal einige Stunden des Tages will sie den Kindern die Mutter zurückgeben, wie ihre Weigerung darthut, den Achtstunden­tag wenigstens zunächst für Frauen einzuführen.

Einen weiblichen Lehrer der Mathematik hat zum zweiten Male die Universität Stockholm. Die Kandidatin der Mathematik, Anna Vedel, Tochter eines höheren Staatsbeamten, ist an die Uni­versität berufen worden und bekam damit das Recht, Vorlesungen zu halten. Bis 1891 hatte Sofie Kowalewska die Professur für Mathe­matik an der Universität Stockholm inne. Sofie Kowalewska, die 1891 im Alter von 38 Jahren starb, war bekanntlich nicht blos eine aus­gezeichnete Mathematikerin, sondern auch eine hochbegabte, feingeistige Schriftstellerin, eine Frau von ebenso vielseitigem und umfassendem Wissen, als edlem, selbstlosem Charakter. Sie gehörte der idealistischen russischen Jugend an, welche in den siebziger Jahren den Kampf für Frauenfreiheit und Volksfreiheit führte; bis zu ihrem Tode blieb sie ihren Jdealen, den Zielen der internationalen Sozialdemokratie, treu

Neue weibliche Berufsthätigkeit. Nach Cassell's" Family Magazine" finden in Newyork   mehr als hundert junge, alleinstehende Mädchen und Frauen eine sehr ausfömmliche Eristenz dadurch, daß sie die Lieblingshunde vornehmer Familien täglich waschen, bürsten, kämmen, ihnen Frühstück serviren" und sie eine Stunde lang spazieren führen. Diese Berufsthätigkeit charakterisirt recht sinnenfällig den Wahnsinn unserer kapitalistischen Gesellschaft. Die süßen" Hunde­viecher werden sorgfältig gehätschelt, gepflegt und erzogen. Die schmutzigen" Proletarierkinder, deren Mütter durch die Noth, d. h. die Profitgier der Kapitalisten, an die Maschine geschmiedet werden, können dagegen in Wind und Wetter auf der Straße verwahrlosen und verrohen. Aber trotzdem leben wir in der besten und sittlichsten aller Welten!

Quittung.

Zu Agitationszwecken von den Kieler Genossinnen 50 Mark er­halten zu haben, bescheinigt dankend Die Frauen- Agitationskommission Berlin  .

Zur Beachtung.

Alle für die Berliner Frauen- Agitations- Kom­mission bestimmten Briefe, Geldsendungen 2c. sind zu richten an:

Zahlen allein schon erheben gegen die kapitaliſtiſche Gesellschaft die Frln. Ottilie Baader  , Berlin   NO,

furchtbarste Anklage und gleichzeitig sprechen sie ihr ein Schuldig, wie es vernichtender nicht gedacht werden kann. Mene mene tekel

Weberstraße 24, Querg., 1 Treppe.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zettin( Eißner) in Stuttgart  . Druck und Verlag vov J. H. W. Diez in Stuttgart  .