Ten Thaten der Anarchisten soll die Vorlage angeblich dadurch besonders zu Leibe rücken, daß sie mit Gefängniß bis zu einem Jahre bestraft, wer durch Androhung eines Verbrechens den öffentlichen Frieden stört. Hat aber der Thäler in der Absicht gehandelt, auf den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staatsordnung hinzuwirken und darauf abzielende Bestrebungen zu befördern, so tritt Zuchthaus­strafe bis zu fünf Jahren ein und eventuell Unterstellung unter Polizei­aufsicht. Auf Zuchthausstrafe soll auch erkannt werden, wenn Mehrere zu dem gleichen Zwecke die Ausführung eines Verbrechens vorbereitet haben, oder wenn sie sich verbinden zu fortgesetzter Be­gehung mehrerer, wenn auch im Einzelnen noch nicht bestimmter Ver­brechen. Straffällig sind die Betreffenden ungeheuerlicher Weise auch dann, wenn sie noch nicht einmal durch Handlungen den An­fang zur Ausführung ihres Vorhabens gemacht haben. Also schon die bloße Absicht einesVerbrechens" soll mit Zuchthaus­strafe geahndet werden, und was alles unterVerbrechen" in diesem Sinne fallen ka�n, erhellt daraus, daß z. B. die Verbreitung der anarchistischenAutonomie" durch richterliche Entscheidung zu Hoch­verrath gestempelt worden ist. Der Kernpunkt des geplanten Maulkorbgesetzes, seinJuwel", um im sächsischen Ministerialstil zu reden, ist jedenfalls die Um­gestaltung der 130 und 131, die Aufreizung zum Klassenhaß und die Verächtlichmachung von Staatseinrichtungen betreffend. Bisher wurde mit Geldstrafe bis zu 300 Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft, wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich aufreizte. Die nämliche Strafe soll in Zukunft auch den treffen, welcher in einer den öffentlichen Friede» gefährdenden Weise Religion, Ehe, Familie, Eigenlhum und Monarchie durch be­schimpfende Aeußerungen öffentlich angreift. Dasselbe Strafmaß ist festgesetzt für Jede», der Staatseinrichtungen oder Anordnungen der Obrigkeit dadurch verächtlich zu machen sucht, daß er erdichtete oder entstellte Thatsachen, von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß, daß sie erdichtet oder entstellt sind, öffentlich behauptet oder verbreitet. Schon in ihrer jetzigen Fassung ließen die betreffenden Para­graphen der wundersamen Kunst richterlicher Gesetzesauslegung und unterlegung den denkbar weitesten Spielraum. In ihrer geplanten künftigen Gestalt knebeln sie vollständig jede, auch die sachlichste Kritik sozialer Schäden. Tadelnde Aeußerungen über die Dürftigkeit der dürftigen Sozialreform, über den volksschädigenden Charakter der Liebesgaben an Schnapsbrenner und Rübenbarone vermag dann der Richter als Behauptung erdichteter oder entstellter Thatsachen zu ahnden, Reißen und Ziehen, ein Ziehen und Reißen, daß die ganze Gestalt erbebt. Ticktick, ticklick... Und wieder das Ziehen und Reißen, nur stärker, anhaltender, schneidender. Marie schnellt empor und tritt von der Maschine tiefer ins Zimmer. Marie ein Weib, ein hochschwangeres Weib. Der Schmerz schüttelt ihren Körper mit rasender Gewalt. Ihr ist's, als müßte er den unförmigen Leib auseinandersprengen. Un­willkürlich fassen die zitternden Hände nach ihm, dem unförmigen Leib, den sie haßt, weil er ihr Unglück die Leute sagen ihre Schande aller Welt verräth. Und plötzlich begreift sie. Kalter Schweiß netzt die Stirn, das dumpfe, schmerzliche Stöhnen geht in einen schrillen Schrei über. Sie will nach der Thür. Da packt sie ein Schmerz, stärker, schneidender, anhaltender als alle anderen. Mechanisch wirft sie sich aufs Bett, mechanisch stößt sie darauf einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Mit einmal fühlt sie sich so wohl, so frei. 'Aber müde, ach so todtmüde. sie möchte schlafen... Ein leises wim­merndes Geguieck, fast wie von jungen Kätzchen, Ältarie fährt zu sammen. Ja so, das Kind, ihr Kind... wie nimmt es zu sich empor, sie hüllt es sorglich in die Decke des Bettes. Dann hämmert sie wie verzweifelt gegen die dünne Wand, die ihr Zimmerchen von der Wohnung ihrer Wirthsleute trennt.Frau Braun! Frau Braun!".... Nebenan wird's lebendig. Schlürfend und pustend, den Unter­rock nur lose befestigt, tritt Frau Braun ins Zimmer. Unter vielen Jesses Jesses" undo du mein" nimmt sie Kenntniß von dem, was geschehe».Nur gleich ins Spital, auf der Stelle", erklärt sie mür­risch und sehr bestimmt.Hier können Sie doch nicht bleibe». Nein, keinesfalls Das gäb' eine Wasch! Und das Kindergeschrei! Jesses, Jesses, das könnte mir passen... Und mein schönes Bett... Der Alte muß gleich zur Sanitätswache." Damit schießt sie hinaus. Gleich darauf hört man Jemand eilig die Treppe hinabpoltern. Frau Braun aber kommt ins Zimmer zurück. Sie wickelt das Kleine in ein altes Wäschestück, das sie auf Maries Geheiß der Kommode entnommen, breitet eine mitgebrachte Decke über Mutter und Kind sobald seinem Ermessen nach Sozialreform und Liebesgaben die zarteste Fürsorge für das Wohl der Masse und die höchste staats­männische Weisheit bekunden. Der felsenfesten Ueberzeugung des Rich­ters werden eben alle Staatseinrichtungen w. so vortrefflich erscheinen, daß ihre Vortrefflichkeit von rechtswegen Jedermann einleuchten muß. Jede an ihnen geübte Kritik beruht deshalbden Umständen nach" auf erstunkenen Lügen über die Vortrefflichkeit ihrer Natur. Die schmutzige Kauf- und Schacherehe; das durch Luxus- und Müßiggang total zer­setzte Familienleben der oberen Zehntausend; kirchliches Dogma und kirchlicher Wahnglaube; staatsstreichlüsternes Gottesgnadenthum und asiatischer Despotismus; das so oft durch Raub oder Gaunerei erworbene Eigenthum; Klassenpolitik und Klassenjustiz: kurz schreiende soziale Uebelstände sollen mittels der erwähnten Kautschukparagraphen für denbeschränkten Unterlhanenverstand" auf dein Zwangswege über alle Kritik gestellt werden. Strebsame Staatsanwälte bringen es vielleicht mit Geschick und gutem Willen fertig, auch noch den Gedanken als straffällig zu fassen, daß gewisse Zustände unler jeder Kritik seien. Die beantragte Verschönerung des Preßgesetzes erweitert und verschärft die Macht der Polizeibehörden, auch ohne richterliche An­ordnung Druckschriften, ivelche gegen gewisse Gesetzesbestimmungen verstoßen, mit Beschlag zu belegen. Die hohe Polizei, die mit Recht so beliebte Polizei, wird damit zur Zensurbehörde erhoben, ihrer Willkür, pardon ihrer Weisheit steht es frei, mißliebige Zeitungen zu Tode zu konfisziren. Mit Annahme dieser Bestimmung würde die deutsche Preßfreiheit vollständig auf den Hund kommen, auf den Hund, der an der Leine und mit Maulkorb von Behelmten herum­geführt wird. Es ist äußerst bezeichnend für den politischen Tiefstand der bürger­lichen Parteien, daß die Reaktion in Gestalt der beantragten Vorlage dem Reichstag ein'Attentat schäbigster Art gegen die schwindsüchtige politische Freiheit im Reiche überhaupt anzusinnen wagt. Und daß sie ihre Pappenheimer richtig einschätzt, beweist eine Thatsache: an­läßlich der Etatdebatten erklärten die Vertreter sämmtlicher bürger­licher Parteien, die der beiden Volksparteien nicht ausgenommen, daß derberechtigte Kern der Vorlage in Erwägung gezogen werden müsse." Erwägung des berechtigten Kerns, wo keine Beurtheilung, wo nur die klipp und klare, schärfste Verurtheilung am Platze wäre! Die Aeußerung redet ganze Bände darüber, wie lief das deutsche Bürgerthum in politischer Hinsicht gesunken ist. Allerdings eins ist wohl sicher: daß die Vorlage in ihrer jetzigen monstruösen Fassung keine Majorität findet. Nicht etwa, daß ein Rest von Scham oder Freiheitsgefühl seitens der bürgerlichen Parteien dafür bestimmend wäre. Wohl aber die nur zu begründete Furcht, und schürt das Feuer im Oefchen.Das kostet nichts und die.Herren von der Sanität' sehen, daß Fräulein Marie bei Christenmenschen ist...." Willenlos, unwidersprochen läßt Marie Alles geschehen. Mit geschlossenen Augen liegt sie da. Sie schläft nicht... Wie kam es nur so...? Die alte, ewig neue Geschichte. Sie stand allein in der Welt, und sie war jung, frisch und hübsch. Warm, freude- und liebe­heischend pulsirte ihr Blut in den Adern. Da lernte sieIhn" kennen. Sie liebte ihn, sie gab sich ihm, ohne daß es seinerseits besonderer Ueberredung bedurft hätte. Sie gab sich ihm, weil sie sich ihm geben mußte, weil die Natur in ihr verlangt:sei sein, sei Weib!" Und dann kam der Tag, wo der Traum zu Ende geträumt war. Sie war wieder allein. Nein, nicht allein; ein neues Leben keimte und regte sich in ihr. Ihr unförmiger Leib erzählte es den Bekannten, erzählte es den Familien, in denen sie nähte. Sie verlor manche ihrer besten Kunden.Sie begreifen wohl. Mariechen... Ihr jetziger Zustand... Die Rücksicht auf unsere erwachsenen Töchter... Später..." Mariechen begriff: Sie konnte hungern, aber der Anstand inußte gegenüber erwachsenen Töchtern gewahrt bleiben. Sie fand andere Arbeit, freilich schlechter gelohnte Arbeit... Sie mußte nun um so mehr schaffen, und wie sauer fiel ihr die Arbeit in der letzten Zeit. Das ewige Sitzen und Treten, des Tags, die halbe Nacht, die ganze Nacht! Herr Gott , wenn sie nur daran dachte!... Aber nun war Alles wieder gut. Sie befühlte ihren wieder schlank gewordenen Leib. Ein schwaches Lächeln glitt über ihr Gesicht. Jawohl, Alles war zu Ende. Zu Ende? Wirklich? Nein, nein! Das Ende war der Anfang zu neuen Leiden. Nun mußte sie ja für zwei sorgen. Für zwei! Und wie schwer war es ihr oft gefallen, sich allein durchzuschlagen... Herr Gott , Herr Gott ... Brot für zwei! Ein fast feindseliger Blick streifte das neben ihr liegende Kind, dem sie gleich darauf zärtlich über das runzlige Gesichtchen strich. Das arme Wurm... Woher... und sie versinkt in schmerzliches Grübeln. Endlich schallen Schritte in der Hausflur und auf der Treppe. DieHerren von der Sanität". Behutsam betten sie Mutter und