daß die nämlichen Bestimmungen, welche die Sozialdemokratie abwürgen solle», gelegentlich auch gegen die zahmste bürgerliche Opposition zur Anwendung gelange» konnem Die Regierung freilich wirdwohl kaum auf ein Schachern über das Mehr oder Weniger der Vorlage eingehen. Wenn sie auch recht gut weiß, daß der Rede- undPreßfreiheit gegenüber schon jetzt dem Ermessen der Richter, denUebergriffen der Polizei kaum Grenzen gezogen sind, so wird sie dochauf ihrem Schein bestehen. Denn eine Reichstagsauflösung wegenAblehnung der Umsturzvorlage verschafft der Regierung eine Wahlparole, welche sich der Masse Derer gegenüber, die nicht alle werden,»och immer als zugkräftig erweist. Mittels des Schlachtrufs: fürOrdnung, Familie, Monarchie, Eigenthum und Religion hofft sie eineKartellmajorität zusammen zu krebsen, welche nicht blos der geplantenFinanzreform, der Mehrbelastung des Volks durch Steuern zustimmt,sondern auch mit Begeisterung eine Beschränkung der Koalitionsfreiheitund des Wahlrechts apportirt.Die Sozialdemokratie als Partei steht dem Hexensabbath derReaktion kühl bis ans Herz hinan gegenüber. Nicht mit verschränktenArmen, sondern in Kampfesstellung, Gewehr bei Fuß und das Pulvertrocken. Denn die Verwirklichung des Maulkorbgesetzes bedeutet fürHunderte und Tausende klassenbewußter Proletarier, zumal aber fürdie Vorkämpfer der Arbeiterbewegung, Chikanen und Verfolgungenschlimmster Art. Dem Kampf der deutschen Arbeiterklasse um bessereLöhne, kürzere Arbeitszeit, günstigere Arbeitsbedingungen würde sieschwere Fesseln anlegen. An der Sozialdemokratie als Partei dagegenprallen die Pfeile reaktionärer Gesetzespfuscherei wirkungslos ab.Die Verhältnisse, in denen die Sozialdemokratie wurzelt und ausdenen sie ihre Kraft saugt, entziehen sich dem Einfluß der behördlichenRücken und Tücken. So lange der Gang der wirthschaftlichen Entwicklung Riesenreichthum für Wenige auf der einen Seite, Massen-armuth auf der anderen schafft, so lange die Reichen reicher, dieArme» immer ärmer werden, kurz so lange die Klassengegensätze bestehen, werden auch Klassenkämpfe gekämpft werden, und die Sozialdemokratie wird als bewußte Vorkämpferin und Führerin der Enterbten auf dem Plan stehen und von Sieg zu Sieg fortschreiten.Aus Berichten einer amerikanischen Fabrik-Inspektvrin.Der Artikel„Weibliche Fabrik-Inspektoren"(Nr. 23 der„Gleichheit") hob hervor, daß die Fabrik-Jnspektorin für Illinois, FrauFlorence Kelley, durch ihre Amtsführung hohes Ansehen und bedeutenden Einfluß unter ihren Kollegen erlangt hat. Wie gewissenhaft,Kind auf die Tragbahre. Grollend gegen die Wöchnerin, geschwätziggegen die Männer leuchtet Frau Braun die Treppe hinunter.Die Träger schreiten im gleichmäßigen Takt vorwärts. Indunkler Einförmigkeit ziehen sich rechts und links die Häuserreihen.Harziger Tannenduft, ein Grüßen des Waldes da draußen, flattertdurch die Straßen. Die hohen Fenster des Doms funkeln im ScheinHunderter von Kerzen.„Zu Bethlehem geboren, Ist uns ein Kindelein" jubelt eine mächtige Harmonienfluth aus der Kirche in die Nachthinaus.Weihnachten! Marie hat es über der Arbeit der letzten Tageund den Schmerzen der letzten Stunden vergessen. Weihnachten!Ihre Gedanken wandern nach Bethlehem. Sie sieht den Stall, dieKrippe, das neugeborene Kind, die jungfräuliche Mutter, den Stiefvater, die Hirten auf dem Feld, die Menge der himmlischen Heer-schaaren.... Neben sich fühlt sie das Kind, ihr Kind, ein. Christkindauch.... Rhythmisch, leicht schaukelnd bewegt sich die Tragbahrevorwärts. Marie schläfert's, ihre Lider senken sich, ihre Gedankenaber wandern noch immer, wandern traumhaft hin und her zwischenfrommer Legende und greifbarer Wirklichkeit. Und Legende und Wirklichkeit weben und wirren sich ineinander zu holdem Traum.In lichtumflossener Grotte sitzt Maria, die Jungfrau, und dochnicht sie, die Himmelskönigin. Sie selbst ist's, Marie, die armeNäherin, im Seidenkleide der Frau Rath. Aus der Krippe strecktihr lächelnd ein Kind die Aermchen entgegen, nicht ein rothes, runzliges Geschöpf, ein rosiges Engelchen, mit wunderbar tief leuchtendenAugen. Und daneben, rechts, der Vater Joseph— Herr Gott, dasist ihr eigener längst verstorbener Vater! Sie erkennt ihn genau ander Narbe über dem einen Auge. Mild und fragend schaut er siean. Sie will den Mund zur Antwort öffnen, da schütteln die Schafeund Kühe in der Ecke der Grotte ihr Glöckchen, daß sie hell klingen.Sie klingen, klingen, klingen plötzlich so laut und schrill, daß Marieerschreckt emporfährt....Die Bahre steht vor einem langen, weißen Gebäude, und dereine der Träger hat soeben die Thorglocke gezogen. Mälig ver-kenntniß- und einsichtsreich und mit welch pflichttreuer Energie unsereGenossin— Frau Kelley ist Sozialistin— ihres Amtes waltet, daserhellt u. a. aus den Berichten über die Ergebnisse ihrer Inspektion.Diese Berichte enthüllen gleichzeitig ein Bild der schmachvollen Verhältnisse, welche das kapitalistische System der Ausbeutung im„freienAmerika", wie überall für die werkthätige Masse gezeitigt hat. Wegenihres hohen Interesses in dieser zweifachen Richtung geben wir inFolgendem Stellen aus Berichten der Frau Kelley wieder. Der ersteBericht, den die Fabrikinspektorin für Illinois über ihre Thätigkeiterstattete, beschäftigt sich besonders eingehend mit der Kinderarbeit.Frau Kelley sagt über ihre diesbezüglichen Erfahrungen:„Die ärztlichen Untersuchungen, welche in unserem Bureau vorgenommen werden, behufs Ausstellung von Gesundheitsscheinen, enthüllen einen unglaublichen Grad von Schmutz an Kleidern und Personen. Die Kinder aus den Zuckerbäckereien sahen besonders schlimmin dieser Beziehung aus und beweisen aufs Neue die dringende Noth-wendigkeit für Badegelegenheiten, sowohl in dem Heim des Arbeiters,wo Badewannen eine unbekannte Sache zu sein scheinen, als auchim Freien, wo es zahlreiche und leicht zugängliche Schwimmbädergeben sollte, die es dem Arbeiter nach Feierabend möglich machen,ins Wasser zu springen. Knaben, deren Hände offene Wunden haben,arbeiten an Zuckerwaaren, und Mädchen wickeln sie ein und verpackensie, deren Arme mit Schmutzgeschwüren behaftet sind. Knaben ausKniehosen-Werkstätten haben sich uns vorgestellt, die so mit Ungezieferbedeckt waren, daß eine genaue Untersuchung beinahe zur Unmöglichkeit wurde.„Jede ärztliche Untersuchung, die in unserem Bureau gemachtworden ist, wurde klassifizirt und gebucht. Die in dieser Weise angelegten Akten sind eine wahrhaft erschreckende Enthüllung überdie Entartung der heranwachsenden Generation.„Das menschliche Produkt unserer Industrie ist eine Armee sichplackender Kinder, ungewöhnlich klein, mit der englischen Krankheitbehaftet, mißgestaltet, zur Schwindsucht disponirt, wenn nicht schonschwindsüchtig. Fortwährend geschwächt durch die ihnen in denkritischen Jahren der Entwicklung auferlegte Arbeit, werden dieseKinder unvermeidlich in den frühen Jahren der Mannbarkeit unddes Weibwerdens sich als Fehlschläge erweisen. Jetzt schon sind sieein gutes Stück Weges gegangen auf der Straße, leidende Lasten derGesellschaft zu werden, lebenslange Opfer der Armuth ihrer Elternund der Habsucht, welche den Kindern das heilige Recht auf Erziehungdurch die Schule, und das Recht auf Muße verweigert.„Die Frauengesellschaft von Chicago machte uns auf eine Knallbonbonsfabrik aufmerksam, deren Eigenthümer gerichtlich verfolgthallen ihre letzten Schwingungen. Das Spital.... Marie meintdurch das Thor hindurch Jodoform und andere Desinfektionsmittelzu riechen. Sie schauert in sich zusammen. Sie hat von jeher eineArt Grausen vor dem Spital empfunden.Das Thor hat sich geöffnet. Langsam und würdig kommt derHerr Hausmeister dem kleinen Zuge entgegen. Ungern nur hat ersich erhoben. Eben war der Skat, den er zu Ehren des Festes mitalten, bewährten Spielfreunden„abklopft", am entscheidenden Punktangelangt. Und„Muttern" hatte soeben erst die Gläser frisch mitlieblich duftendem Punsch gefüllt. War das eine Sklaverei....Was?... etwa nicht?...Ingrimmig runzelt der Herr Hausmeister die Brauen, bis einanderer Gedanke als der an die zu erwartenden„Quengeleien" dieStirn wieder glättet. So mitten in der Nacht.... Eine Tragbahre.... Offenbar ein interessanter Fall.... Ein Lächeln fliegtüber seine breiten Züge.„Ich und die Fakultät, wir habennämlich unsere Freude an interessanten Fällen, die machen uns berühmt...."Langsam und würdig steuert er auf den„interessanten Fall" zu.Rede und Gegenrede, kurz, bündig. Der Herr Hausmeister ist imKlaren. Und nun bricht der kaum zurückgedrängte Grimm mit doppelter Gewalt los.Also das, nichts weiter?... Ei da soll doch gleich... Soein Lumpenmensch.... In der heiligen Nacht.... Gerade als diePartie sich entscheiden sollte.... Konnte das nicht etwa bis morgenwarten!... Herein mit dem Frauenzimmer und dem Balg!Entsetzt starrt Marie nach der polternden, schimpfenden Gestalt.Neben ihren Traum von Bethlehem schiebt sich die Ahnung einesandern Bildes: die des Kreuzes, an welches die konventionelle Moral,das konventionelle Christenthum die gattenlose Mutter, das vaterlose Kind schlägt. Instinktiv preßt sie ihr Kind zärtlich, schützend ansich, daß es leise wimmert. Heilige Nacht! Bethlehem?........Kalvarienberg. Helene.