Nr. 12 der ,, Gleichheit" gelangt am 12. Juni 1895 zur Ausgabe.
Es starben in den Jahren 1880-1888 unter je 10 000 Geborenen im ersten Lebensjahre:
bei der Gesammtbevölkerung
beim
in
Gesinde
3374
2499
Westpreußen
4028
2623
3354
2772
3676
3026
Pommern
2907
2308
Posen
3342
2507
Schlesien
3547
2918
3312
2479
2827
1839
2444
1820
Westfalen
2300
1779
2824
1883
Rheinland
3505
2160
Worin liegt der Grund dieser auffälligen Unterschiede?
Natürlich in sozialen Zuständen! Der ganzen Natur des Gesindeverhältnisses nach können in dieser Bevölkerungsschicht die weitaus meisten Geburten, die übrigens den 15. Theil sämmtlicher Geburten in Preußen ausmachen, nicht eheliche Geburten sein, ist doch Ehelosigkeit eine der Vorbedingungen für das weibliche Gesinde. Die armen Kleinen, die so schnell dahingerafft werden, sind ihrer Mehrzahl nach uneheliche Kinder, deren Mütter aus dem Gesindeverhält nisse nicht heraustreten können, die sie nicht als Mütter zu betreuen vermögen, und deren äußerst niedriger Geldlohn nicht ausreicht, dem Kinde auch nur die nothdürftigste Pflege zu sichern. Wenn wir noch erwähnen, daß es in Deutschland nach der Berufszählung vom 5. Juni 1882 855 425 weibliche Dienstboten gab, so wird man ersehen, welch fürchterliche Anklage gegen die heutige Wirthschaftsordnung in den oben angeführten Zahlen verborgen liegt.
Wie stark die Säuglingssterblichkeit bei den Dienstbotenkindern ist, geht aus der Thatsache hervor, daß sie in einigen preußischen Landestheilen sogar größer war, als die der unehelichen Kinder überhaupt. Eine kleine Tabelle wird dies veranschaulichen: Es starben von je 10000 Kindern im ersten Lebensjahre
im
Preußischen Staate.
bei den unehelichen Kindern
beim Gesinde 1877 und 78
1877-79
4268
4388
Ostpreußen
5327
4938
Westpreußen
5731
5293
4528
4387
Pommern
4313
3968
Posen
5547
5195
Schlesien
4176
4632
3941
3908
4141
3822
3301
3326
Westfalen
2797
3318
3419
3366
3307
3765
In den Stadtgemeinden einiger Provinzen mit besonders hoher Sterblichkeit der Dienstbotenkinder, wie Ost- und Westpreußens , Pommerns , Posens und Schleswig- Holsteins , kamen auf zehn eheliche Geburten in der Gesindeklasse in Ost- nnd Westpreußen 185, in Pommern 165, in Posen 80 und in Schleswig- Holstein 125 uneheliche Geburten.*
Daß die Säuglingssterblichkeit bei den Dienstbotenkindern noch größer ist, wie bei den unehelichen Kindern aller Bevölkerungsschichten, muß lediglich auf den Umstand zurückgeführt werden, daß eine Aufziehung der Kinder durch die dienende" Mutter fast immer ausgeschlossen ist, während in anderen Bevölkerungsschichten jedenfalls ein größerer Prozentsatz der unehelichen Kinder unter der mütterlichen Obhut verbleibt.
Statistisch läßt es sich freilich nicht nachweisen, wer die Väter der Dienstbotenkinder sind. Daß die Mehrzahl derselben aber die direkten Arbeitgeber" der geschwängerten Mädchen sind, liegt bei der außerordentlichen Abhängigkeit des Gesindes von dem„ Herrn" außer ordentlich nahe. Niemandem gegenüber ist das Dienstmädchen schutzund wehrloser, als ihrem Dienstgeber gegenüber, Niemandem gegenüber
* Die thatsächlichen Angaben sind entnommen dem V. Bande der ,, Beiträge zur Geschichte der Bevölkerung in Deutschland seit dem Anfange dieses Jahrhunderts." Herausgegeben von F. T. Neumann: Dr. Seutemann, Kindersterblichkeit sozialer Bevölkerungsgruppen, insbesondere im preußischen Staate und seinen Provinzen. Tübingen 1894.
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ist der Klassenhochmuth, das Machtgefühl, der Sklavenhaltercharakter des modernen Bourgeois fester ausgebildet, als gegenüber dem modernen Haussklaven, dem Dienstmädchen. Diesem darf keine Arbeit zu viel und zu schwer sein, kein Auftrag zu früh oder zu spät gegeben werden. Aller Freiheit bar muß sie sich auch alles bieten lassen, und wo das geschriebene Recht" der Gesindeordnung nicht ausreicht, da tritt als Ergänzung die Machtfülle des Bourgeois ein. So ist es leicht zu erklären, daß unzählige Dienstmädchen jahraus jahrein der Sinneslust gewissenloser Bourgeois zum Opfer fallen, die sich am Ausgange des 19. Jahrhunderts ein jus primae noctis armen Prole tarierinnen gegenüber ebenso anmaßen, wie die Feudalherren des Mittelalters gegenüber ihren weiblichen Hörigen.
Kleine Nachrichten.
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Das Frauenstimmrecht ist in der Gemeinde Friedrichstadt in Schleswig- Holstein eingeführt worden. Ohne Unterschied des Ge schlechts sind sämmtliche Gemeindeangehörige stimmberechtigt, sobald sie ihre Großjährigkeit erreicht haben. Die Gemeinde steht mit dieser Reform einzig in Deutschland da. In Sachsen und soviel uns erinnerlich auch in Baden besitzen die Frauen ebenfalls das aktive Wahlrecht zu den Gemeinderathswahlen, aber nur wenn sie Grundbesitzerinnen, unverheirathet oder verwitwet sind. Das Wahlrecht ist hier aber an den Besitz und nicht an die Person gebunden, während in Friedrichstadt die Frau als Person das Wahlrecht erlangt hat. Wir hoffen, daß der treffliche Herr von Köller, dessen Verständniß für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts bekanntlich seinem Verständniß für Literatur ebenbürtig ist, über diesen frevlen„ Umsturz" der Friedrichstädter nicht den burschifosen Gleichmuth seiner schönen Seele verliert.
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Der gesundheitsschädigende Einfluß der Nähmaschinenarbeit ist kürzlich von dem französischen Fabrikinspektor Laporte betont worden. Derselbe sagt u. A.:„ Es ist selten, daß eine Arbei terin an der Nähmaschine, selbst wenn sie kräftig und von guter Kon stitution ist, lange ihrer Beschäftigung nachgehen kann, ohne brustkrank zu werden." Die Inhaberin einer Nähstube, erklärte dem Fabrik inspektor auf Befragen:„ Nach Ablauf von 10 Jahren ist eine Maschinennäherin reis für das Hospital." In dem Bericht eines Arztes, der dem Gesundheitsrathe des Departements Seine angehört, und den Laporte zitirt, heißt es:„ Schon eine zweijährige Thätigkeit an der Nähmaschine genügt, um auch den stärksten Organismus eines Mäd chens zu zerstören. Veränderungen der Lage der Gebärmutter und Menstruationsstörungen mit all ihren Begleiterscheinungen treten ein, und noch einige Jahre weiterer Thätigkeit genügen, um die Organe des Unterleibs so zu beeinflussen, daß eine Maschinennäherin nicht mehr im Stande ist, ein Kind vollständig auszutragen, sondern meist Früh- und Fehlgeburten macht." Den Unternehmern ist der gesundheits schädliche Einfluß des Maschinennähens auf den weiblichen Organis mus wohl bekannt. Trotz alledem treiben sie denselben auf die Spize durch Hungerlöhne, welche die Arbeiterinnen zwingen, angespannt und unbegrenzt lange Zeit die Maschine zu treten. Auch die Maschinen näherinnen wissen sehr wohl, wie unheilvoll ihre Beschäftigung Gesundheit und Lebenskraft beeinflußt. Trotz alledem zwingt sie die bitterste Noth, von früh bis spät, oft bis in die folgende Frühe an der Maschine zu schuften und zu schanzen. Die herrliche kapitalistische Ordnung(!) der Dinge führt durch den Provithunger auf der einen Seite, durch die Armuth auf der anderen zur wüstesten Vergeudung menschlicher Lebenskraft, zum gewissenlosen Raubbau mit Menschenleben.
Gesetzliche Maßregeln zur Hebung des Arbeiterinnenverdienstes sollen- beruhige dich deutscher Kapitalist- nicht etwa in Deutschland , sondern im Staate New York ergriffen werden. Jm Repräsentantenhaus des Landes wurde eine dahin lautende Re solution eingebracht und angenommen. Dieselbe stellte fest, daß in der Stadt New York allein 100 000 Frauen arbeiten, welche im Durch schnitt 60 Cents Tagesverdienst haben, und daß bei einer solchen Ein nahme auch eine bescheidene Existenzführung nicht möglich sei. Die Resolution forderte deshalb die Einsetzung eines Fünferkomites, das in New York öffentliche Versammlungen behufs Untersuchung der Arbeiterinnenlöhne veranstalten soll und beauftragt ist, geeignete gesetzliche Maßregeln vorzuschlagen, um die ungünstigen Erwerbsverhält nisse der Arbeiterinnen zu verbessern. Die Resolution fand eine starke Majorität. Wer die amerikanischen Verhältnisse auch nur an nähernd kennt und weiß, mit welcher Frechheit gerade das amerikanische Prozenthum alle gesetzlichen Maßregeln zum Schuße des Proletariats übertritt, der wird dem obigen Beschluß keine allzu große praktische Bedeutung zumessen. Bezeichnend und erwähnenswerth bleibt er trotz alledem.