Nr. 22 der ,, Gleichheit" gelangt am 31. Oktober 1895 zur Ausgabe.

die mächtiger ist als Ueberlieferung und Schlendrian, mächtiger sogar als alle thatsächlichen Wehre, welche sich noch überall dem Volkswohl entgegenstellen. Diese Strömung ist das erwachte Volksbewußtsein, welche selbst den heutigen Staat gezwungen hat, sich mit dem Schein­bild einer Sozialreform zu befassen. Das Unfallversicherungsgesetz war es, das Credé zuerst die Augen öffnete und noch mehr der Um­stand, daß die Berufsgenossenschaften, angesichts der durchaus unzu­länglichen Nachbehandlung in den öffentlichen Krankenhäusern und der ihnen daraus erwachsenden Kosten, anfingen, eigene Krankenhäuser zu bauen. Das sei ein Armuthszeugniß für die öffentlichen Kranken­häuser, meint Credé, dahin dürfe man es nicht kommen lassen, sondern ,, müsse Einrichtungen treffen, die den durchaus berechtigten For derungen der Jehtzeit entsprechen".

Daß diese Forderungen berechtigt sind, entdeckte man aber erst, nachdem sie von unten her gestellt wurden, und je nachdrücklicher sie von dort gestellt wurden, desto rascher und allgemeiner wird man zur Erkenntniß ihrer Berechtigung gelangen. Nicht von der hinkenden Einsicht der Gelehrten dürfen wir auch nur die unschuldigsten Reformen erwarten. Am Volke selbst und nur am Volke liegt es, eine große Anzahl dringender und heute schon möglichen Verbesserungen seiner Lage durch deutliches und unablässiges Fordern zu erringen.

Das Lied der Hacke.

Eine Aerztin.

Das rauhe Schwert bin ich, das durch das Erdreich zieht, Bin Stärke und Unwissenheit.

Ich hör' den Hunger schrei'n, seh' wie die Sonne glüht, Bin Noth und Hoffnung beffrer Zeit.

Ich kenn' ihn wohl, den scharfen Peitschenhieb

Der brennend heißen Mittagsgluth,

Des rauhen Sturms, der in die Thale trieb Die Wolkenmassen voller Wuth.

Ich kenne ihn, den feuchten, frischen Duft, Den aus der üpp'gen Erde Schooß

Der Mai mit tausend Blüthenkelchen ruft Und mit Insekten klein und groß.

Bei steter Arbeit, ohne Ruh und Rast Wetz' ich zu hellerm Glanze mich,' Beständig, kraftvoll, muthig und gefaßt Zermalm' den harten Boden ich.

In niedre Hütten, dumpfig, eng und klein, In Kammern, wo die Armuth haust Und durch die Fensterhöhlungen hinein

Der Schnee und Sturm des Winters braust, Wo um das Feuer auf dem Herde kriecht Der frost'ge fümmerliche Schwarm, Und auf den gelblich blassen Zügen liegt Des bittern Hungers Noth und Harm, Da tret' ich ein; im Winkel lehne ich, Allmälig bricht die Nacht herein, Senkt schauernd auf die feuchte Ebne sich, Aufs raucherfüllte Kämmerlein.

Und während glühend heißer Fiebertraum Den Schlaf der müden Frauen stört,

Und sonst man keinen Laut im dunklen Raum Als dumpfes, rauhes Athmen hört Wach' ich und heiße Wünsche füllen mich, Mir träumt von neuem Morgenroth, Der Oriflamme gleich, die königlich Im Strahl der Sonne aufwärts loht.

Und aus dem Erdreich steig' ich neu empor, Ein freies Volk nimmt mich zur Hand Und hebt begeistert, freudig mich empor Und stolz durchschreite ich das Land.

Doch sind die Klingen nicht von Blut befleckt Und weiß und licht die Fahnen wehn, Von tapfern, kräft'gen Schlägen hingestreckt, Muß Schlange Haß im Tod vergehn.

Und aus der Erde, ganz von Lieb' erfüllt,

Von süßen Rosendüften voll,

Wo jetzt die reine, neue Gluth gestillt

Des bittern Wettstreits Neid und Groll,

Hinauf zum Azurblau des Himmels dringt

Von Menschenstimmen, rauh von Noth,

Ein Hymnus, der zugleich wie Schluchzen flingt, Er lautet: Frieden!... Arbeit!... Brot!"

Ada Negri .

Aus der Gedichtsammlung Schicksal"( Fatalità), deutsch von Hedwig Jahn. Berlin , Verlag von Alex. Dunder.

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Kleine Nachrichten.

Verschiedene Werthschätzung. Nach der Ansicht des Fabrik­inspektors für Plauen ( Sachsen ) stellen die Löhne der Textilarbeite rinnen seines Bezirks, die in arbeitsreicherer Zeit" 8-12, höchstens 15 Mark pro Woche betragen, hohe" Löhne dar. Wir erachten die­selben dagegen als durchaus unzureichend für eine fulturwürdige Lebenshaltung, aber die Ansicht des Herrn Fabrifinspektors ist erklär­lich, wenn man festhält, daß laut dem Bericht des Freiberger Gewerbebeamten die Arbeiterinnen der Holzwaarenindustrie seines Bezirks wöchentlich 5-8 Mark verdienen. Wie mögen die betreffen­den Arbeiterinnen in Kartoffeln und Häring prassen und schlemmen.

Die Betheiligung der Wiener Genossinnen an der Wahl­rechtsdemonstration, welche am 22. September stattfand, war eine sehr große. Unter den 30-40 000 Manifestanten befanden sich mehrere Tausend proletarischer Frauen und Mädchen. Die großartige Demon­stration schloß mit einer Rede der Genossin Hötscher, welche betonte, daß noch weit mehr Frauen hier sein würden, wenn sie nicht ge= zwungen wären, Sonntags nachzuholen, was sie die Woche über im Dienste des Kapitals versäumen müssen. Die Rednerin hob hervor, daß die sozialdemokratische Partei die einzige sei, welche das Wahl­recht auch für die Frauen fordere. Im Lager der bürgerlichen Parteien halte man die Frauen wohl für fähig, vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu arbeiten, aber man spreche ihnen die Fähigkeit ab, dreinzusprechen in das, was ihnen nöthig sei. Genossin Hötscher schloß ihre mit lebhaftem Beifall aufgenommene Ansprache wie folgt: Die Frauen sind ein gewichtiger Faftor, und die sozialdemokratischen Ar­beiter fönnen in ihrem schweren Kampf feinen Erfolg erzielen, wenn die Frauen nicht an ihrer Seite stehen und sie zum Kampf anfeuern. Wenn der Moment des Kampfes kommen wird, werden wir Frauen alle am Plaze sein. Es lebe das allgemeine Wahlrecht!"

Zahlen als Ankläger. Nach dem offiziellen Bericht des Prager Findelhauses sind 1894 demselben 2869 Ammen und 3467 Kinder zugewachsen; vom Jahre 1893 befanden sich noch dort 79 Ammen und 86 Kinder. In Abgang sind gekommen und zwar Ammen: Gegen Tage entlassen 1, als Privatammen abgegeben 326, gegen zurückgestellte umgetauscht 58, in das Krankenhaus abgegeben 1, entwichen 1 und wegen Entbehrlichkeit oder Untauglichkeit entlassen 2435. Von Kindern verließen das Findelhaus: Jn auswärtige Pflege übergeben an fremde Parteien 2700, an Blutsverwandte gegen Sub­vention 220, als eigen übernommen 262, nach erreichtem Normalalter der Heimathsgemeinde übergeben 6, in die Karolinenthaler Filiale überführt 2, nach erreichtem Normalalter von der Mutter oder den Anverwandten in unentgeltliche Pflege übernommen 3, gestorben 254. Die Zahl der im Jahre 1893 bei der Prager Findelanstalt in Pflege befindlichen Kinder betrug 7088, mit Ende 1894 waren ihr 2943 Kinder zugewachsen. Das macht zusammen mehr als 10 000 Kinder, die verlassen in der besten aller Welten" standen. Von der Pflege, welche den armen Kleinen zu Theil wird, erzählen folgende Zahlen: Die Gesammtsterblichkeit der in der Findelanstalt in Pflege befindlichen Kinder betrug 14,22 Prozent, von je 500 Pfleglingen starben reichlich 71. Wie herrlich illustriren die vorstehenden Zahlen die herrliche Kultur unseres Jahrhunderts.

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Die Gleichberechtigung der Frau im sozialistischen Lager. Dem XIII. Nationalfongreß der französischen Arbeiterpartei" ( sogen. Marristen), der im September in Romilly tagte, wohnten die Bürgerinnen Corgeron, Renault , Thiriot und Valette als Delegirte bei. Auf dem Kongreß waren unter anderen sechs Frauen­organisationen beziehungsweise Gewerkschaften vertreten, welche Arbeiter und Arbeiterinnen der gleichen Branche umfassen: aus Deville- lès- Rouen die Gruppe sozialistischer Frauen"; aus Lyon die , Arbeiterinnen der Druckereien"; aus Paris die Gruppe der Arbeiter und Arbeiterinnen des Schneidergewerbes und verwandter Berufe"; aus Roubaix die Organisationen Das Frauenrecht", Die Frauen­emanzipation" ,,, Die Vergeltung der sozialistischen Frauen von Fontenoy". Der Kongreß nahm betreffs der Frauenrechte, beziehungsweise der Arbeiterinnenorganisationen zwei Resolutionen an. Die eine Reso­lution fordert auf zur energischen Unterstützung des Antrags der sozia­ listischen Deputirten, welcher für die Arbeiter und Arbeiterinnen der verschiedenen Industrien das Recht verlangt, männliche und weibliche Fabrikinspektoren zu erwählen. Die zweite Resolution macht es sämmtlichen Delegirten des Kongresses beziehungsweise den Organisationen zur Pflicht, mit aller Energie die Bestrebungen für die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen zu unterstützen. Wie in den beiden vorhergegangenen Jahren, so gehört auch jetzt wieder der Parteileitung der französischen Sozialdemokratie eine Frau an, die Bürgerin Valette.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin ( Eißner ) in Stuttgart . Druck und Verlag vor J. H. W. Diez in Stuttgart .

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