Nr. 24 der ,, Gleichheit" gelangt am 27. November 1895 zur Ausgabe.

Die kapitalistische Profitgier kennt keine Rücksicht auf die Sicherheit des Arbeiterlebens, das erweisen die Zustände, welche nach den in öffentlicher Versammlung gemachten Angaben in der Dresdener   Strohhutfabrit von Lewy herrschen. In dieser Fabrik werden an dem Ausgange die Strohhüte mit Spiritusfarbe gefärbt, und der Fußboden und die Wände sind in Folge dessen mit Spiritus getränkt. Bei dem Ausbruche einer Feuersbrunst wären die Nähe rinnen im Maschinensaale vollständig eingeschlossen, da kein zweiter Ausgang vorhanden ist. Der Maschinensaal ist in der zweiten Etage gelegen, und es ist leicht, sich die Folgen auszumalen, welche ein während der Arbeitszeit ausbrechender Brand haben würde. Der Profit vor allem", das ist der leitende Grundsatz der Kapitalisten.

Zunahme der Zahl der Prostituirten. Wie in anderen Städten so hat sich in Chemnitz   im Jahre 1894 die Prostitution bedeutend ausgedehnt. Im Jahre 1893 waren der Polizei 119 Pro­stituirte, 68 Prostitutionsverdächtige und 65 Zuhälter bekannt; 1894 dagegen 130 Prostituirte, 179 Prostitutionsverdächtige und 74 Zu hälter. Diese Zahlen werden Niemand verwundern, der die arm­seligen Erwerbsverhältnisse der Chemnitzer   Arbeiterbevölkerung und ins­besondere der Arbeiterinnen kennt, und der die sozialen Erscheinungen mit anderen als den Augen vermuckerter Sittlichkeitsvereinler betrachtet.

Wie das Unternehmerthum das Familienleben, den ,, Naturberuf der Frau und die vaterländischen Interessen rettet, wird recht erquicklich dadurch illustrirt, daß diesen Sommer bei den Bahnbauten vor den Thoren von Rostock   polnische Frauen und Mädchen beschäftigt wurden. Durch die Einstellung der pol nischen Arbeiterinnen ging den einheimischen Arbeitern die erhoffte Beschäftigung verloren. Dafür aber erhebender Gedanke!- wuchs der kapitalistische Profit, denn die Polinnen wurden ihrer Fügsamkeit und Billigkeit wegen verwendet. Wenn eine Steigerung des kapita­ listischen   Profits in Frage kommt, wiegen Bedenken aller Art auch nicht einen Strohhalm. Sela!

Elektrische Stubenheizung mit Wasser. Die zersetzende Eigen­schaft der Elektrizität wird bereits vielfach direkt und indirekt praktisch verwendet. Die neueste Erfindung in dieser Art ist auf dem Gebiete der Zimmerheizung gemacht worden. Amerika   ist im Begriffe, eine elektrische Stubenheizung mit Wasser einzuführen, nachdem diese gründlich geprüft und von Fachleuten als bedeutsam begutachtet wor­den ist. Die Erfindung ist darauf basirt, daß der elektrische Strom das Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. In einem mäßig großen Wasserbassin, dem fortgesetzt Wasser zugeführt wird, befinden sich auf dem Boden befestigt die beiden Leitungsdrähte, deren Pole mit Plattinblechen versehen sind, über welche Glaszylinder luftdicht gestülpt werden. Die beiden Pole liegen unter Wasser, und es ent­wickelt sich bei geschlossenem Strome an einem Pole Wasserstoff, am anderen Sauerstoff in mächtigen Blasen. Beide Gase werden durch einen Hahn mit zwei konzentrischen Oeffnungen geleitet. Durch den äußeren Schlitz drängt Wasserstoff, welcher, entzündet, eine hohe Flamme bildet, deren Intensität beziehungsweise Hitze durch Zublasen des Sauerstoffes aus dem inneren kreisformigen Schlitze auf 1200 Grad Reaumur gebracht wird. Diese Flamme wird auf eine Chamotteplatte geleitet, welche nach 30 Minuten in Weißgluth strahlt und die Wärme an das Zimmer zur Heizung abgiebt. Die Erfindung stellt ein Stück Zukunftswirthschaft" dar, in welcher, Dank der Fortschritte der Technik, die allen zu Gute kommen, die Hausarbeit der Frau auf ein Mindestmaß beschränkt sein wird.

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Arbeiterinnenelend in Basel  . Die Leiter der Basler   Schappe­fabrik, welche für die innere und äußere Mission stets eine offene Hand haben, zahlen ihren Arbeiterinnen recht niedrige Löhne. Die­selben erhalten bei elfstündiger Arbeitszeit 1 Fres. 20 Cts. bis 2 Fres. ( 96 Pf. bis 1 Mt. 60 Pf.). Als die Arbeiterinnen fürzlich einen Durch­schnittslohn von 2 Frcs. 50 Cts.( 2 Mt.) pro Tag forderten, wurde dieses Begehren als eine Unverschämtheit bezeichnet und mit Rücksicht auf die auswärtige Konkurrenz abgelehnt. So knauserig die Leitung im Punkte der Löhne ist, so rasch ist sie mit Abzügen bei der Hand. Verspätet sich eine Arbeiterin um 5 bis 15 Minuten, so werden 25 bis 50 Cts.( 20 bis 40 Pf.) am Lohne   abgezogen, also weit mehr als der Verdienst in einer Stunde beträgt. Ueber die Verwendung der Strafgelder erfahren die Arbeiterinnen nichts. Vielleicht dienen sie zur Beseitigung der geistigen Noth armer Heidenkinder in Afrika  . Um den Ueberfluß der schlemmenden Arbeiterinnen in der Heimath braucht sich natürlich ein biederes Kapitalistenherz nicht zu sorgen.

Eine Frau als Kapellmeisterin eines Operntheaters. Das Manzoni- Theater in Verona   hat kürzlich eine Frau, Madame Epanina Rieschi, Schülerin des Konservatoriums in Neapel  , zur Kapellmeisterin ernannt. Die Dame begann ihre Thätigkeit gelegentlich der Auf­führung des Barbier von Sevilla  " und fand allgemeine Anerkennung.

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Eine Prinzessin mit dem Doktorhut. Fräulein Dr. Margit Melik Beglarion, die erste Armenierin, welche den medizinischen Doktorgrad erlangte ,, stammt aus einem uralten armenischen Fürsten­haus. Großes Vermögen und persönlicher Liebreiz schienen ihr mit Recht nicht genug, um das Leben einer Frau ganz auszufüllen, und es gelüftete sie nach Vollführung von Männerwerk", zu dem Frauen nach Professor Albert und anderen wissenschaftlichen Größen angeblich ganz und gar unfähig sind. In ihrem Heimathsdorfe Talisch  , in dem Khanthum Karabach am Südabhange des Kaukasus  , wuchs die Fürsten­tochter auf. Die Eltern legten dem Drange der Tochter nach höherer Bildung nichts in den Weg, und nachdem sie, wie es bei reichen Armeniern Sitte  , gründlichste Vorbildung durch armenische und fran zösische Hofmeister erhalten, wurde sie, vierzehn Jahre alt, in das Mädchengymnasium in Tiflis   geschickt. Nach Ablegung des Schluß­examens wandte sich Fräulein Melit Beglarion, von ihrer Mutter be gleitet, nach Bern   und Zürich  , um Medizin zu studiren. Einer großen Praxis erfreute sich die Prinzessin mit dem Doktorhut, als sie nach ihrer Promotion sieben Monate lang in der Heimath weilte. Vier­undzwanzig Stunden weit kamen die Kranken, es gab Tage mit 70, feinen Tag unter 15 Patienten. Die letzten drei Monate verbrachte sie als Assistentin der Frau Dr. Rosa Kerschbaumer, die bekanntlich mit Genehmigung des Kaisers von Oesterreich   eine Heilanstalt für Augenkranke in Salzburg   leitet. Nunmehr kehrt die junge Aerztin nach dem Kaukasus zurück, um dort aus eigenen Mitteln ein armeni sches Spital, das erste in ihrer Heimath, zu errichten.

Berufung einer Frau in das statistische Amt des Arbeits­Ministeriums in Belgien  . Der neue belgische Arbeitsminister, Nyssens, hat beschlossen, in die statistische Abtheilung des Ministeriums eine Frau zu berufen, der die Aufgabe obliegt, die Lage der weib­lichen Arbeiter in Belgien   klarzustellen. Wie lange werden in Deutschland   die Arbeiterinnen noch auf eine so vernünftige, ge rechte und durchaus bescheidene Maßregel in ihrem Interesse warten müssen?

Wie die kapitalistische Profitgier die Berufssphäre der Frau erweitert, dafür ein Beispiel von vielen. In London   beschäf tigen die Leiter der East India- und Millwall- Docks neuerdings eine größere Anzahl Frauen beim Entladen von Schiffen. Das Ausfrachten der Ladungen ist eine sehr schwere Arbeit, die einen großen Kräfteaufwand erfordert und deshalb bisher von Männern verrichtet ward. Nun fehlt es auch gegenwärtig feineswegs an Ar­beitern, welche das Entladen der Schiffe übernehmen würden. Zu vielen Hunderten drängen sich die Beschäftigungslosen, Arbeit und Brot suchend. Aber die weibliche Arbeitskraft ist zu billigeren Preisen feil als die männliche, und um ihrer Billigkeit willen zieht das Unternehmerthum sie der theuren Arbeitskraft der Männer vor. Wobei es nicht unterläßt, sich mit den Lippen zu dem Grundsatze zu bekennen: die Frau muß ihren natürlichen und sittlichen Pflichten als Gattin und Mutter erhalten bleiben. Profitwuth im Bunde mit Heuchelei kennzeichnet die berufenen Stüßen der gesellschaftlichen Ordnung" allerorten.

Frauen als Leiterinnen der Armenpflege in England. Im Armenpflege- Kollegium für den Londoner   Bezirk Hampstead  wurde in diesem Jahr Frau Finlay als Vizevorsitzende gewählt. GS ist dies das erste Mal, daß in England einem weiblichen Mitgliede der Vorsitz im Armenrath übertragen wurde. Sicherlich werden sich die Frauen als Leiterinnen der Armenpflege ebenso bewähren, wie sie sich als Mitglieder der Armenpflege- Kollegien durchweg vorzüglich bewährt haben. Die Thatsache wird allgemein anerkannt und da durch bestätigt, daß die Zahl der weiblichen Mitglieder der Armen räthe mit jeder Wahl wächst. Dem Armenpflege Kollegium von Hampstead   gehören z. B. fünf Frauen an, und bald wird kaum noch eine betreffende Körperschaft zu finden sein, in welcher nicht weibliche Mitglieder Sitz und Stimme haben. Stetig erweitert sich in England der Kreis der sozialen Pflichten und Rechte des weiblichen Geschlechts, während Deutschland   in den einschlägigen Verhältnissen an einer beschämenden Rückständigkeit festhält.

Die Frau als Rabbiner. In den Vereinigten Staaten   haben bekanntlich viele protestantische Sekten den Frauen das Recht ein geräumt, Theologie zu studiren und als Geistliche zu amtiren. In Californien   ist nun auch die Frau zum geistlichen Amt im jüdischen Tempel zugelassen worden. Beim letzten jüdischen Neujahrsfest versah im Tempel Emmanuel zu San Francisco   eine junge israelitische Theologin, Fräulein Rachel Frank von Datland, das Amt des Rabbiners. Die israelitische Gemeinde von San Francisco   hat eine neue Synagoge erbaut, und Fräulein Frank, welche Doktorin der Gottesgelahrtheit ist, befindet sich unter der Zahl der Rabbiner, welche die Tempelweihe vollziehen sollen.

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin  ( Eißner) in Stuttgart  . Druck und Verlag vor J. H. W. Diez in Stuttgart  .

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