Nr. 25.

Die Gleichheit

5. Jahrgang.

Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen.

Herausgegeben von Emma Ihrer   in Pankow   bei Berlin  .

Die ,, Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nro  . 2756) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Inseratenpreis die zweigespaltene Petitzeile 20 Pf.

Stuttgart  

Mittwoch, den 11. Dezember 1895.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Wir pfeifen darauf!

Der preußische Staat, der schneidigste, aber auch der bornirteste politische Vertreter der deutschen   Kapitalistenklasse, hat es für pflicht­gemäß und ehrenvoll erachtet, wieder einmal durch reaktionäres Thun zu erhärten, daß er den Lehren der Geschichte, den Er­fahrungen der letzten zwanzig Jahre zum Troß nichts gelernt und nichts vergessen hat. Herr Köller, dessen staatsmännisches Erfassen unserer Zeit und ihrer Aufgaben wir ebenso wenig erörtern wollen, wie sein weltberühmt gewordenes Literaturverständniß, dessen ernsten Willen zur Gesellschaftsretterei wir aber rückhaltslos anerkennen, hat durch einen kühnen polizeilichen Handstreich die sozialdemo fratische Partei bis ins Mart treffen wollen. Als Kleiner von den Seinen wandelte er aber keine neuen Pfade. Wohl kaum erröthend, aber jedenfalls in dem Gefühl seiner Mission beglückt, folgte er den Spuren, welche vor Jahren Herr Tessendorff berühmten An­gedenkens in der Geschichte des deutschen   Klassenkampfes hinter­lassen hat. Am 30. November wurden laut Verfügung des Berliner  Polizeipräsidenten elf Organisationen bezw. Organe der sozialdemo kratischen Partei als Vereine" vorläufig geschlossen". Eingeleitet wurde die neueste Köllerei durch Massenhaussuchungen bei so ziemlich allen Personen in Berlin  , welche im Vordergrund des Parteilebens stehen. Ihre Begründung wurde unter Anrufung der§§ 8 und 16 des sattsam bekannten preußischen Vereinsgesetzes gegeben, welches das Inverbindungtreten" politischer Vereine untersagt.

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Die Sozialdemokratie steht dem Kapitalistenstaat in unver­söhnlicher Gegnerschaft gegenüber und ist es deshalb gewöhnt, nie auf seine Toleranz zählen zu dürfen und stets mit all seinen Schärfen und Machtmitteln rechnen zu müssen. Sie hat deshalb allzeit die Vorschriften der Vereinsgefeße mit einer Sachkenntniß und Gewissenhaftigkeit eingehalten, die gar manchen Polizeigewal­tigen zu preislicher Nacheiferung anspornen könnten. Mögen deshalb die Haussuchungen mit äußerster Sorgfalt bis in die Wichs- und Stammtästen verschiedener Beargwöhnten ausgedehnt worden sein: sie dürften kaum das nöthige Belastungsmaterial ergeben, daß die Juristerei sogar den guten Willen vorausgesetzt so heiß ißt, als die liebe Polizei gefocht hat.

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Der Moment scheint uns schlecht gewählt, um die stärkste Partei des Reichs in den Maschen des preußischen Vereinsgefeßes zu fangen und abzuwürgen. So veraltet sind dessen Bestimmungen, so wenig entsprechen sie den politischen Bedürfnissen unserer Zeit: daß gegen einzelne seiner Vorschriften die sich ihrer Gesetzlichkeit rühmen­ben bürgerlichen Parteien strupellos verstoßen; daß die zahmen, reichsfrommen bürgerlichen Frauen gegen sie protestiren; daß die Reichstagsverhandlungen kaum verhallt sind, in denen Anhänger aller Parteien die Konservativen ausgenommen die außer ordentliche Reformbedürftigkeit der Vereinsgesetze in den meisten deutschen   Bundesstaaten unumwunden erklärte. Warum das? Offen­bar nicht der schönen Augen abstrakter politischer Prinzipien zu Liebe, sondern weil unter dem jetzigen Stande der Dinge ge­legentlich alle Parteien leiden, von Seiner Majestät allergetreuester Oppositionspartei" an bis zu den weiland ultramontanen Reichs feinden hinauf.

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Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Fr. Klara Zetkin  ( Eißner  ), Stuttgart  , Rothebühl= Straße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

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Gewiß, daß der preußische Staat den besten Willen hat, einzig und allein die sozialdemokratischen Umstürzler" mit der Nuthe   des Vereinsgesetzes zu streichen. Aber noblesse oblige". Wenn auch die Gleichheit aller Preußen vor dem Geseze ein frommer Wahn ist, so besteht nichtsdestoweniger in unserer Zeit des abhanden ge­tommenen beschränkten Unterthanenverstandes" auch für Preußen der Zwang, bis zu einem gewissen Grade das Dekorum zu wahren. Nicht spurlos würde die neueste Aera der Möchtegern- Reaktion an den bürgerlichen Parteien vorübergehen, und um so tiefer in ihr Fleisch könnten die der Sozialdemokratie gegönnten Hiebe schneiden, als in der Folge des Eingreifens unberechenbarer, unkontrollirbarer Mächte in unser politisches Leben feine bürgerliche Partei gegen das Schicksal gefeit ist, Abends in den Jammerwinkel der Reichs­feindlichkeit geworfen zu werden, nachdem Morgens noch ihrer Gesinnung vollster Gnadenglanz leuchtete. Es ist also eine sehr offene Frage, ob Herr Köller in der aufgerollten Situation den politischen Selbsterhaltungstrieb der bürgerlichen Parteien ebenso niedrig einschätzen darf, wie ihre politische Mannhaftigkeit und Prinzipientreue, ja ihre politische Klugheit. Aber wie immer auch die Ereignisse diese Frage beantworten werden, eins steht über jeden 3weifel hinaus fest: die Sozialdemokratie fann wohl im schlimmsten Falle durch die aufgewärmte Tessendorfferei vorübergehend gehemmt, aber durch sie in keinem Falle auf die Dauer bezwungen werden.

1873 sollte die Eisenacher   Partei, 1874 die Partei des All­ gemeinen Deutschen Arbeitervereins   in dem Hinterhalt einer sinnigen und minnigen Auslegung des preußischen Vereinsgesetzes gemeuchelt werden. 1875 gab der Vereinigungskongreß der beiden Parteien zu Gotha   die richtige Antwort auf das Beginnen. 1876 wurde die sozialdemokratische Partei für Preußen getessendorfft. Bei der folgenden Wahl quittirte die Sozialdemokratie prompt über die Erfolglosigkeit der Maßregel. Das 1878er Schmachgesez brachte in ganz Deutschland   Verfolgungen ohne Gleichen für die Partei, brachte ihre vollständige Knebelung und Aechtung: sie aber erschien nach zwölf Jahren unerhörten Druckes als stärkste Partei des Reichs an der Wahlurne. Welch ein Schauspiel und welch ein Beispiel! Von politischen Kindsköpfen als politisches Glückswunder angestaunt, aber das naturwüchsige Ergebniß einer sich gefeßmäßig vollziehen­den geschichtlichen Entwicklung, kein Zufall, ein ehernes Muß!

Die innigen, unzerreißbaren Zusammenhänge der Partei sind nicht durch das Spinngewebe der Statuten der sehr schäzenswerthen Organisation geknüpft. Des Proletariats Noth hat sie geschmiedet aus dem Erze der gemeinsamen Klasseninteressen aller Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter und ihren Staat. Aus der lebendigen Kraft der wirthschaftlichen Verhältnisse, der herrschenden Gesellschafts­ordnung werden sie tagtäglich aufs Neue geboren, gespeist, gestärkt, gefestigt. Der zwingende Gang der geschichtlichen Entwicklung ver­dichtet innerhalb des Proletariats die Solidarität der Interessen zur Solidarität des Zieles, des Wollens, des Thuns. Er läßt auf dem Boden des Klassenkampfes in den Idealen der Sozial­demokratie neue Menschheitshoffnungen emporsprießen, zum macht­vollen Baum aufwachsen, dessen weitverzweigte Wurzeln in dem festen Grunde des wirthschaftlichen Lebens haften, dessen hoch- und weitgreifende Aeste dem sonnigen Blau der edelsten Kultur für Alle zustreben, die unfällbare Weltesche" der Zukunft.

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