führung der spärlichen Schutzbestimmungen die Kinderarbeit betreffend in Illinois zu überwachen hatte, bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Frage der Kinderarbeit nur wirksam gelöst werden kann, wenn man alle Kinder in der Schule läßt, sämmtliche kindliche Arbeiter in Schulkinder verwandelt.
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Wir nehmen z. B. Alle an, daß es ,, Kassenkinder"* und„ Zeitungsjungen" geben muß. Wir vergessen, daß beides amerikanische Erfindungen sind, welche das Staunen und die Mißbilligung der Fremden erregen, die unser Schul- und Erziehungswesen kennen lernen wollen. Wir gründen Heime, Küchen und Sparbanken für die Zeitungsjungen; wir organisiren für sie Picknicks und Ausflüge und sogar von Zeit zu Zeit Theatervorstellungen. Aber wir werfen nicht die Frage auf: muß es überhaupt Zeitungsjungen geben? Warum sollen nicht arbeitslose Männer die Zeitungen verkaufen und austragen und die Knaben zur Schule gehen, wie unsere eigenen Kinder?
Sorgen wir dafür, daß jedes Kind ohne Unterschied des Geschlechts bis zum sechzehnten Lebensjahre jeden Tag des Schuljahres dem Unterricht beiwohnt! Sorgen wir für die Dauer der Schulzeit für Handarbeitsunterricht, die letzten zwei Jahre für technische, berufliche Ausbildung! Sorgen wir dafür, daß alle Lohnarbeit von Kindern unter sechzehn Jahren verboten wird mit Ausnahme der Beschäftigung in der Landwirthschaft*** und Gärtnerei! Wenn diese Maßregeln zehn Jahre lang mit aller Strenge durchgeführt worden sind, so wird sich zeigen, ob nicht unerwartet viel geschehen ist, um der Zunahme des Verbrecherthums, der Vagabondage und der Arbeitslosen entgegenzuarbeiten."
Frau Kelley zählt darauf die wichtigsten Gegner auf, welche sich dem gesetzlichen Verbot der Kinderarbeit entgegenstemmen. Da sind die Verbände der Industriellen, die Besitzer der Riesenmagazine, da ist die sehr einflußreiche Telegraphen- Aktiengesellschaft, welche- wenn man das ganze Land in Betracht zieht wahrscheinlich mehr Kinder ( als Boten) beschäftigt, wie irgend ein Unternehmer der Welt. Da sind vor allem die zahlreichen und sehr angesehenen Menschenfreunde" besonders weiblichen Geschlechts, welche in dem Verbot der Kinderarbeit eine Gefahr erblicken für das höchste moralische Wohl des würdigen kleinen Knaben, der Mutter und Geschwister durch seine Arbeit" erhält und dem die Möglichkeit erhalten bleiben muß, seine volle Menschenpflicht zu erfüllen".
,, Eine kurze
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Sehr eindringlich schildert Frau Kelley den verderblichen Einfluß, den die frühzeitige Erwerbsarbeit gerade auf die Charakterentwicklung der Kinder ausübt. Sie hat viele Duzende von Knaben und Hunderte von Mädchen kennen gelernt, welche mit zehn, zwölf und vierzehn Jahren voller Eifer waren, der Mutter beizustehen und die Zufriedenheit des Unternehmerthums zu erwerben. Eine furze Beit lang zeichnen sie sich durch in der Selbstachtung wurzelnde Eigenschaften, durch Lust und Liebe zur Arbeit aus. Aber Frühreife ist für die Sittlichkeit ebenso gefährlich, als für den Verstand und das Talent. Der vielversprechende Knabe ist mit siebzehn Jahren eine ganz andere Persönlichkeit geworden. Der moralische Ruin äußert sich je nach dem Temperament des Kindes verschieden. Vielleicht erzeugt er nur einen müden Arbeitssklaven, der all des Strebens, der Ausdauer und des Muthes ermangelt, deren in unserem Jahrhundert Jeder für den Konkurrenzkampf des Lebens bedarf. Oder der kindliche Arbeiter fällt einer moralischen Erschlaffung zum Opfer. Diese Krankheit ist zum Mindesten ebenso häufig wie Nervenerschöpfung, wenn sie auch nicht so freimüthig wie diese von den Aerzten für soziale Leiden festgestellt wird. Oder aber, wie es nicht selten geschieht, der kleine Knabe unterliegt Versuchungen, denen er nie hätte ausgesetzt werden dürfen, er stiehlt von dem Gelde, das wir in unserer Gedankenlosigkeit ihn tragen hießen, während ringsum Dinge lockten, nach denen sein Herz sich sehnte.
,, Wie viele Kassen-, Telegraphen- und Zeitungsjungen den ihnen aufgezwungenen Versuchungen unterlegen sind, das wird nicht bekannt. Aber wir, die wir die Kinder kennen, weil wir unter ihnen leben und die Versuchungen beobachten, welche die elende häusliche Umgebung den mit der Arbeit verbundenen Lockungen hinzufügt: wir wissen gar wohl, daß so mancher Knabe( dessen Fall sorgfältigst diskutirt wird, nachdem er sich vergangen hat) ein Opfer der ungesunden sittlichen
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,, Kassenkinder" sind unseres Wissens Knaben und Mädchen, welche in den amerikanischen Riesenmagazinen die Käufer von den einzelnen Abtheilungen zur Kaffe begleiten, die eingekauften Waaren und die Rechnungen tragen, letztere dem Kassirer einhändigen, erstere von besonderen Angestellten einpacken lassen.
" Zeitungsjungen" und" Zeitungsmädchen" zählen durch Kapitals Gnaden schon längst zu den„ Errungenschaften" deutscher ,, Kultur".
*** In Deutschland macht die skandalöse Ausbeutung kindlicher Arbeitskraft durch die Edelsten und Besten des schloßgesessenen Krautjunkerthums das gesetzliche Verbot der landwirthschaftlichen Kinderarbeit äußerst nöthig. Siehe das Rübenziehen"!
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Anschauung geworden ist, welche ihn arbeiten hieß, um Mutter und Geschwister zu unterstützen, bevor seine moralische Kraft der Aufgabe gewachsen war. Er ist durch Abheben zu Grunde gerichtet worden, wie ein junges Pferd durch Abheten auf der Rennbahn ruinirt wird. ,, Wie schwer fällt es nicht dem Heim für jugendliche Arbeiter, einen Broterwerb für die Knaben zu finden, welche der Uniform der Boten und Telegraphenjungen entwachsen sind! Diese Knaben haben bei ihrer bisherigen Arbeit nichts gelernt, was für einen Beruf von Nutzen wäre. Sie stehen in den Flegeljahren und ermangeln der Gewandtheit, welche sie gesucht machen könnte. Die frühere Zuvorkommenheit, das Bestreben, es allen Anderen an Schnellfüßigkeit und Flinkheit zuvorzuthun, ist dahin. Die Aussicht, 2 oder selbst 4 Dollars in der Woche zu verdienen, lockt sie nicht länger. Sie kennen ganz genau die Kauffraft des zu erwartenden Lohnes, und indem sie Anstrengung und Bezahlung gegeneinander abwägen, sizzen sie, die Hände im Schooß, und warten einen glücklichen Zufall ab.
,, Nicht etwa, als ob jedes erwerbsthätige Kind durch die Arbeit moralisch zu Grunde gerichtet wird. Wohl aber ist die Wahrscheinlichkeit, daß dies geschieht, um so größer, je früher ein Kind zu arbeiten beginnt. Das eingehende Studium der Verhältnisse der kindlichen Arbeiter wirft helle Schlaglichter auf Vagabondage, Arbeitsa losigkeit, Trunksucht und das jugendliche Verbrecherthum."
Frau Kelley bedauert, daß ihres Wissens der törperlichen Entwicklung und Beschaffenheit der erwerbsthätigen Kinder nicht genügend systematische Aufmerksamkeit zugewendet wird. Die Fabrifgesetze von New York und Illinois enthalten etliche Bestimmungen, die verhüten sollen, daß Kinder über ihr Leistungsvermögen hinaus mit Arbeit überbürdet werden. Allein diese Bestimmungen sind so allgemein gehalten, daß ihre Wirksamkeit gleich Null ist. Die Fabrifinspektoren und Inspektorinnen von Illinois fordern gegenwärtig energisch die Anstellung einer Aerztin, welche ausschließlich den Entwicklungs- und Gesundheitsstand der erwerbsthätigen Kinder, die hygienischen Bedingungen, unter denen sie arbeiten, leben 2c. überwachen soll. Eine solche Aerztin könnte das jetzt so gut wie mangelnde hochwichtige Material über die einschlägigen Fragen liefern. 1893 und 1894 nahmen zwei nicht amtlich angestellte Aerzte im Auftrage der Fabrikinspektoren Messungen an ca. 200 Kindern vor, welche in Fabriken und Werkstätten zu Chicago arbeiten. Das Resultat ihrer Untersuchungen ist in dem Bericht des Fabritinspektorats für 1894 enthalten. Es ist ein geradezu niederschmetterndes, denn es weist unter den untersuchten Kindern einen erschreckenden Prozentsatz von Unentwickelten, Rhachitischen und Schwindsüchtigen nach. Ferner: die durchschnittliche Körperlänge der erwerbsthätigen Kinder blieb beträchtlich hinter der= jenigen der Schulkinder zurück. Die Körperlänge gilt aber nach den Ergebnissen der Statistik der letzten zehn Jahre als ein Maßstab für die allgemeine Entwicklung des Kindes. Die ärztlicherseits festgestellten Thatsachen beweisen jedenfalls die Nothwendigkeit eingehender Untersuchungen der einschlägigen Verhältnisse.
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Frau Kelley befürwortet das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit auch mit Rücksicht auf den entsittlichenden Einfluß, den die Erwerbsthätigkeit der Kleinen auf die Eltern ausübe. Diese gewöhnen sich nach ihr daran, mit der in Geld ausgemünzten Arbeitskraft des Kindes zu rechnen. Ein großer Theil der Einwanderer aus Rußland , Polen , Böhmen und Italien , so meint sie, wird durch die Aussicht nach den Vereinigten Staaten gelockt, dort die Arbeitskraft ihrer Kinder gegen baar verkaufen zu können. Wir sind der Meinung, daß die Aussicht nicht die ihr von Frau Kelley zugeschriebene Rolle spielt. Zumal in Rußland , Polen und Italien wir erinnern nur an die Carusi der sizilianischen Schwefelgruben eristirt thatsächlich kaum eine Grenze für die Ausbeutung findlicher Arbeitskräfte. Aber die in Amerika landenden, meist mittellosen und sprachunkundigen Einwanderer fallen in der Regel der schlimmsten Ausbeutung anheim. Wo die rückständige, verkehrte Anschauung der Eltern nicht zum Verkauf der Arbeitskraft ihrer Kinder treibt, da thut es die Noth. Und unseres Grachtens fällt die Noth als treibende Ursache der Kinderarbeit weit schwerer ins Gewicht als andere Gründe. Als Grundursache des Raubbaus mit Kinderleben entpuppt sich überall das kapitalistische Wirthschaftssystem, dessen Polarstern der Profit ist. Schlimmer auch als der entsittlichende Einfluß der Kinderarbeit auf die Eltern ist unseres Erachtens der lohndrückende Einfluß findlicher Erwerbsthätigkeit auf die Arbeitsbedingungen der Erwachsenen. Jedenfalls hat Frau Kelley mit der Ansicht recht, daß das gesetzliche Verbot der Kinderarbeit ganz wesentlich dazu beitragen wird, das Niveau der Eingewanderten zu heben und ihrer Schmußkonkurrenz entgegen zu arbeiten. In ihren Schlußausführungen betonte die Vortragende
* Diese ungesunde Anschauung wurzelt auf Seiten der Arbeiterfamilie im Allgemeinen lediglich in ihrer wirthschaftlichen Nothlage, in der Ausbeutung, die sie erfährt; auf Seiten der Unternehmer in der Profitwuth, welche billigste Arbeitskräfte sucht.