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Wir haben viel erreicht, wenn wir das einmal erreicht haben. Aber das Martyrium unserer Kinder ist damit noch nicht beendet. Die Berufsstatistik von 1895 und eine Untersuchung deutscher Lehrervereine hat den Schleier aufgehoben, hinter der es sich in all seinen Leidensstationen verbarg. Bekanntlich hat unsere Arbeiterschutzgesetzgebung die Kinderarbeit in Fabriken verboten. Es sind trotzdem nach den lezten Berichten der Gewerbeinspektoren noch 988 Kinder darin thätig. Wie winzig aber erscheint diese Zahl gegenüber den Ermittelungen der Berufsstatistik, wonach in Deutsch land 214954 Kinder unter 14 Jahren, von denen 32398 sogar noch nicht 12 Jahre zählen, erwerbsthätig sind. Und zwar gilt diese Zahl nur für die im Hauptberuf und im Hausgesindedienst Thätigen. Wir finden darunter Kinder, die in Ziegeleien, Schlossereien, bei der Erz-, Stein- und Braunkohlengewinnung, ja sogar in Steinbrüchen arbeiten. Selbst im Staats- und Gemeindedienst werden sie beschäftigt. Die Erhebungen des Deutschen Lehrervereins er= gänzen die Berufsstatistik, da sie auch die Kinder berücksichtigen, die im Nebenberuf, d. H. nebenbei und zeitweise für den Erwerb arbeiten. Darnach wären ungefähr 10 Prozent aller Schulpflichtigen, d. h. 800000 Kinder erwerbsthätig!
In unserer besten aller Welten ist Armuth ein Verbrechen. Wer arm ist, der wird in der Welt herumgestoßen; wer arm ist, den glaubt man straflos in Wort und That kränken zu dürfen; wer arm ist, der wird von vornherein mißtrauisch behandelt, als wäre er schon ein Verbrecher. Aber unter der ganzen Gefolgschaft der Armuth ist nichts so traurig, als die Noth der Kinder. Nicht nur, daß sie um ihre Jugend schmählich betrogen werden, man unterdrückt auch systematisch alles Gute und Große schon im Keime in ihnen. Selbst das, was die Volksschule an geistiger Nahrung bietet, vermag ein müdes, hungerndes Kind nicht zu fassen. Das Wenigste, was wir darum verlangen können, ist, daß das Kind vor dem Unterricht gesättigt werde. Schon haben sich in verschiedenen Städten, wie z. B. in Dresden und Breslau , wohlthätige Vereine diese Aufgabe gestellt; in Dresden hat es sich dabei gezeigt, daß 3400 Schulkinder hungrig zur Schule kamen! In Berlin find es ihrer gar 12000! Wir aber wollen nicht auf Wohlthätigkeit angewiesen sein, die sich immer als unzulänglich erweist, bei der kirchliche Rücksichten, Frömmelei und Kriecherei eine so große Rolle spielen. Wir wollen nicht, daß schon den Kindern das Ehrgefühl ausgetrieben wird und sie zu Bettlern erzogen werden. Wir verlangen, daß der Hunger der Kinder aus dem Säckel, den die Steuerzahler so reichlich füllen, gestillt werde, und wir fordern weiter, daß ein Reichsgesetz jegliche Erwerbs= arbeit schulpflichtiger Kinder aufhebt. Solch ein Gesez würde jedoch wirkungslos bleiben, wenn es nicht mit einem anderen Hand in Hand geht: der Ausdehnung der Gewerbeordnung und der Gewerbeaufsicht auf Hausindustrie, Heimarbeit, Handel, Verkehr und Landwirthschaft, und der Anstellung weiblicher Gewerbeinspektoren.
Die wichtigste Reform aber, welche die Frauen von der Reichsgesetzgebung zu verlangen haben, ist jene alte Forderung, unter der sich die Arbeiter aller Länder vereinigt haben: der Achtstundentag. Oder kann eine unter Euch Frauen behaupten, daß es für das Wohl ihrer Kinder belanglos ist, ob sie elf oder acht Stunden lang sich in der Fabrik abrackert, ob sie zwölf, vierzehn und mehr Stunden in der Schwitzhöhle vor der Nähmaschine fizt oder ob sie schon nach acht Stunden aufstehen und heimgehen darf? Die lange Arbeitszeit der Mütter trägt mit die Hauptschuld an dem physischen und moralischen Untergang der Kinder.
Wohl ist es für Euch nicht leicht, Ihr Proletarierinnen, in das ganze, ausgedehnte Triebwerk des politischen Lebens thatfräftig einzugreifen. Euch fehlt die frühe Schulung des Geistes, Euch fehlt die Zeit, und Eure Kraft ist durch harte Arbeit frühzeitig aufgerieben. Euch fehlen vor Allem die Bürgerrechte! Ihr dürft Euch schinden und quälen wie der Mann, und noch schlimmerwie er, Ihr dürft Steuern zahlen die helle Menge und Euch abrackern im Dienste des Kapitalismus; Ihr steht in Bezug auf die Pflichten zwar innerhalb, aber in Bezug auf die Rechte außerhalb der Geseze.
Darum ist der Kampf, zu dem wir Euch auffordern, besonders schwer. Es giebt aber einen Zauber, der ihn erleichtert,
der Alles überwindet, der Euch stark macht und unbesiegbar: die Mutterliebe. So agitirt denn, klärt auf, wirkt im kleinen Kreise Eurer Familie, Eurer Freunde, Eurer Arbeitsgenossen. Keine halte sich für zu gering, als daß ihre Kraft im Kampfe nicht wichtig und nothwendig wäre. Er ist in dieser Form für die Frauen nur ein Nothbehelf. Aber er soll auch den Beweis dafür liefern, daß die Frauen des Proletariats politisch reif sind. Mitten in den heißesten Schlachten des Klassenkampfes dürfen die Proletarierinnen niemals vergessen, das wirksamste Mittel zur Erkämpfung ihrer Befreiung zu fordern: das Wahlrecht.
Nur eine Partei hat die Ebenbürtigkeit der Frau anerkannt und kämpft unentwegt für ihre rechtliche und politische Gleichberechtigung. Sie ist der bitterste Feind der herrschenden Klassen und von allen Seiten wird die geistliche und die weltliche Kriegsmacht gegen sie ins Feld gerufen. Thörichte, zagende Frauen mag es geben, die davor zittern. Wenn sie aber erkannt haben, daß die Sozialdemokratie allein die Partei der Unterdrückten, der Unglücklichen und Armen ist, seien sie nun groß oder klein, so wird ihre Angst verfliegen.
Die Mutterpflicht, Ihr Frauen, ruft Euch zum Kampfe. Seht die endlosen Schaaren blasser, hungernder Kinder, wie sie die Arme ausstrecken nach Euch, wie sie wimmern und weinen, wie ihre Augen sehnsüchtig ausschauen nach dem erlösenden Lichte einer auch ihnen leuchtenden Sonne!
Hört nicht auf die Lockungen falscher Freunde. Wenn sie vorgeben, im Namen der Religion zu Euch zu kommen, so weist sie auf die Worte in jenem Buche hin, das sie heilig zu halten behaupten, und in denen es heißt: Wer aber ärgert der Geringsten einen, der ist des höllischen Feuers schuldig. Und wenn sie Euch mit Flinten und Säbeln drohen, so fürchtet Euch nicht, denn Eure Söhne werden nicht die Waffen wider Euch zücken. Keine Bitte, keine Drohung mache Euch der Fahne untreu, die Euren Kindern vorausflattern soll in das Land ihrer Erlösung! Nicht Eigenliebe, nicht Ehrgeiz, sondern Mutterpflicht sei der Anker Eurer Treue, sei der nie versiegende Born Eurer Kraft!
Das preußische Abgeordnetenhaus und die Frage des Frauenstudiums.
Die Erörterung der Frauenfrage, die sich das preußische Abgeordnetenhaus am 30. April leistete, dürfte, wenngleich es sich dabei in erster Linie um die Frage des Frauenstudiums handelte, doch auch für die Arbeiterinnen nicht ohne Interesse sein. Nicht etwa, daß sie aus dem Lauf der Debatte irgend etwas für die Erweiterung ihres Gedankenkreises hätten lernen können! So hohe Anforderungen darf man an ein Klassenparlament nicht stellen. Hat sich doch die große Mehrzahl dieser Vertreter von Geldsacksgnaden noch nicht einmal zu der Erkenntniß durchgerungen, daß sich die Frauenfrage von der sozialen Frage nicht trennen läßt; steht sie doch immer noch auf dem Standpunkt, daß die Frauenfrage in eine Reihe von Einzelfragen zerfällt, die um so leichter gelöst werden können, je weniger man sich dabei um die Allgemeinheit kümmert! Wir sind gewiß die letzten, die vom preußischen Abgeordnetenhause in seiner heutigen Zusammensetzung eine Debatte erwarten, die auch nur annähernd auf der Höhe der Zeit steht, aber das müssen wir doch offen zugeben: so seichte Argumente gegen die moderne Frauenbewegung, so abgedroschene Phrasen, wie sie vom Regierungstische und, mit wenigen Ausnahmen, von fast allen Mitgliedern des Hauses fielen, hätten wir selbst diesem Parlament nicht zugetraut. Nicht aus den wirthschaftlichen Verhältnissen, nicht aus natürlichen Ursachen ist die Frauenbewegung entsprungen, nein, um Gitelfeitsgründe, um bloße Modebestrebungen, die man im Interesse der Frauen selbst unterdrücken muß, handelt es sich nach Ansicht der Mehrheit des Hauses bei dieser ganzen Frage.
Eigentlich war es weniger die Frauenfrage, über die debattirt wurde, als vielmehr die sogenannte Damenfrage. Die zahlreichen, im Betriebe der Eisenbahnverwaltung beschäftigten Frauen, die zwar dieselben Pflichten, wie die Männer zu erfüllen haben, denen aber die Regierung trotzdem nicht dieselben Rechte, ja nicht einmal die Pensionsberechtigung zuerkannt hat, die Frauen, die in staatlichen Bergwerken oder in Fabriken frohnden und denen trotz des dringendsten Bedürfnisses und troz wiederholten Verlangens keine weiblichen Fabrikinspektoren gewährt werden, die Frauen, die den nothleidenden