Nr. 13.
Die Gleichheit.
8. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die ,, Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2970) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch, den 22. Juni 1898.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
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Juhalts- Verzeichniß.
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Vor der Schlacht. Prostitution und Frauenkrankheiten. Hygienische und volkswirthschaftliche Betrachtungen von Professor Dr. M. Flesch. Besprochen von Henr. Fürth . Aus der Bewegung. Kaffeeverleserinnen als Heimarbeiterinnen. Von Louise Zietz. - Hymnus. Von Heinrich Heine . Feuilleton: Die Reinen. Von Dorothee Goebeler.( Fortsetzung.) Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Frauenarbeit auf dem Gebiete Gewerkschaftliche der Industrie, des Handels und Verkehrswesens. Arbeiterinnen- Organisation. Kinderarbeit. Sozialistische FrauenFrauenstimmrecht. Frauenbewegung. bewegungen im Auslande.
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Vor der Schlacht.
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Wenn diese Nummer der Gleichheit" in die Hände der Leserinnen und Leser gelangt, so ist die Hauptschlacht im Wahltampfe bereits geschlagen, und die Tageszeitungen haben ihre Nesultate in alle Winde verkündet. Wir bedauern, daß wir am Vorabend des Wahltages schreiben müssen, an dem die Vertreter des entschiedenen geschichtlichen Vorwärts und die Anhänger des Rückwärts oder mindestens Stillstandes ihre Kräfte messen. Undankbar ist ja die Rolle des politischen Schäfers Thomas, der aus Zeichen heraus, die nur allzu leicht trügen, orakelt und prophezeit, und sehr oft durch die Ereignisse Lügen gestraft wird. Ebenso mißlich aber ist bekanntlich die Aufgabe, sich über eine Situation zu verbreiten, die sich geklärt hat, an Stelle der Vermuthung die Gewißheit treten ließ, an Stelle des Werdenden das Gewordene, noch ehe das geschriebene Wort in die Oeffentlichkeit gelangt ist. Mühsam und schwerfällig humpelt dann das Geschriebene hinter den Thatsachen her und schaut gleichsam aus alten, welfen Zügen dem Leser entgegen. Troßdem kommen wir an dieser Stelle und im gegenwärtigen Augenblick um das Mißliche des Prophezeiens und Nachhinkens nicht herum. Sei's darum! Der Wahlkampf ist es, der augenblicklich unser gesammtes öffentliches Leben beherrscht, und sein Ausgang greift so entscheidend in das Geschick der proletarischen Frauenwelt Deutschlands ein, er ist so maßgebend für ihre nächſtliegenden Gegenwartsinteressen, wie für ihre dauernden Klassenziele, daß trotz Allem ein Ueberblick über das Kampfesfeld und den Kampfescharakter am Vorabend der großen Schlacht sich aufdrängt.
Schärfer umrissen als je eine Wahlbewegung charakterisirt sich die gegenwärtige Wahlkampagne als ein Abschnitt des gewaltigen, modernen Klassenkampfes zwischen Reich und Arm, zwischen Kapital und Arbeit, wie er durch die neuzeitliche Entwicklung der Wirthschaftsverhältnisse in Deutschland entfesselt worden ist. Gewiß spielt sich neben diesem Kampfe ein anderer ab, der nicht minder in dem Umschwung unseres ökonomischen Lebens begründet ist. Der Kampf, den die in ihrem Erwerbsleben durch die moderne Wirthschaftsordnung am meisten bedrohten gesellschaftlichen Schichten, der Kampf, den der Mittelstand gegen das siegreiche Großkapital führt. Das Handwerk will goldenen Boden zurückerobern, der Kleinkaufmannsstand möchte wieder auf einen grünen Zweig kommen, und das Kleinbauernthum sträubt sich mit der trogigen Hartnäckigkeit der Verzweiflung gegen seine Proletarisirung. Und wie der auf dem Boden des Wirthschaftslebens erwachsende Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit auf politisches Gebiet überschlägt und hier zum Austrag kommen muß, also auch der
Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart , RothebühlStraße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
wirthschaftliche Gegensatz zwischen Kleinbesiz und Großbesiz. Der gegenwärtige Wahlkampf spiegelt das zum Greifen deutlich wieder. Die Rettung des Mittelstandes, das ist in diesen kapitalistischen Zeitläuften die Quadratur des Zirkels, die zu finden breite Schichten der Bevölkerung von den politischen Parteien, von der Gefeßgebung fordern. Die Rettung des Mittelstandes ist deshalb das Schlagwort, mit dem wie bisher so auch im tosenden Wahl= kampf einsichtslos ehrliche, aber öfter noch skrupellos- unehrliche Politiker den kleinen Mann" für ihre Zwecke einzufangen trachten. Konservative und Nationalliberale, eine starke Gruppe der Herren von Zentrum nicht zu vergessen, sie alle, welche die politischen Schildknappen der großen Kapitalbesizer sind, gehen mit diesem Schlagwort frebsen, um an ihre Fahne die Masse der Handwerker, Kleingewerbtreibenden, Kleinbauern zu fesseln. Die kleine Klasse der Kapitalmagnaten braucht eben die Stimme dieser Schichten, um ihre eigene politische Herrschaft aufrecht zu erhalten und zu sichern. Wie auf dem Gebiete des Wirthschaftslebens das Großkapital triumphirt, indem es die wirthschaftliche, selbständige Eristenz des Mittelstandes vernichtet, so vermag es auf staatlichem Gebiete nur zu herrschen, indem es den Unverstand der Massen" politisch ausbeutet. Nicht behufs Rettung des Mittelstandes begehren die waschecht- staatserhaltenden Parteien die Kleinbürger und Kleinbauern zu sammeln", vielmehr als Schußtruppe des Großbefizes gegen die vorwärtsdrängende Arbeiterklasse. Welche Ironie, wenn der Mittelstand sein Heil in einem Rückwärts in die Ver= gangenheit, Hand in Hand mit den reaktionären Vertretern des Großkapitals erblickt, statt in einem kräftigen Vorwärts in die Zukunft, Schulter an Schulter mit der revolutionären Partei des Indem er damit die politische klassenbewußten Proletariats!
Machtstellung der Kapitalistenklasse befestigt, stärkt er ihre wirthschaftliche Gewalt und beschleunigt seine eigene Vernichtung durch den übermächtigen Konkurrenten. Indem er damit dem kämpfenden Proletariat in den Rücken fällt, wirkt er den Reformen entgegen, die seine Proletarisirung weniger schmerzvoll, den Aufstieg der Gesellschaft zu einer höheren Form des Wirthschaftslebens weniger schwierig und langwierig gestalten.
Gewiß auch, daß im Lager der Kapitalistenklasse verschiedene Gruppen mit tiefgehenden Interessengegensäßen vorhanden sind, und anläßlich der Reichstagswahlen um die Oberhand ringen. Die Sippe der Krautjunker will fette Profite einheimsen durch Wucherpreise der unentbehrlichsten Lebensmittel. Sie ruft deshalb nach Aufder unentbehrlichsten Lebensmittel. hebung der Handelsverträge, nach höchsten Getreide- und Lebensmittelzöllen. Reichen Gewinn will sie säckeln aus der Ausbeutung eines bedürfnißlosen, in stumpfer Ergebung robottenden und zinsenden Proletariats, das in halber Hörigkeit an die Scholle gefesselt ist. Sie möchte deshalb die Freizügigkeit beseitigen, welche den Heloten der edlen Schloßherren die Uebersiedelung in die Städte und Industriezentren ermöglicht, sie begehrlich" macht nach genügend Brot, nach Freiheit und Menschenwürde. Der Klüngel der Schlotjunker dagegen bedarf der Handelsverträge, bedarf des Freihandels, um seinen industriellen Erzeugnissen die auswärtigen Märkte zu erschließen und offen zu halten. Niedrige Lebensmittelpreise sind ihm im Allgemeinen erwünscht, denn diese sind von Einfluß darauf, daß die Industriearbeiter sich mit niedrigen Löhnen begnügen. Das Ausbeutungsbedürfniß des Induſtriekapitals verlangt nach einem Proletariat, das von der Scholle losgelöst, unſtät und flüchtig jeden Augenblick der Konjunktur folgend nach einem