in der heute herrschenden Denk- und Anschauungsweise aufgewachsen und, wenn vielleicht auch unbewußt, von ihr beeinflußt. Ihre Beobachtungen und Urtheile können also durchaus nicht der Ueber- treibungen geziehen werden, im Gegentheil, die Wirklichkeit ist weit viel schlimmer, als sie im Spiegel der Berichte erscheint. So löst sich von ihnen eindringlichst die Mahnung los, daß wir nimmer rasten dürfen im Kampfe für die Gesundheit, die Kraft und das Recht des arbeitenden Volkes. Wir wollen auf diese Berichte verweisen, sie gleichsam als Flammenzeichen aufrichten, wenn man von Seiten des Unternehmerthums von der unersättlichen Begehrlichkeit und Unzufriedenheit der Arbeiterklasse zu reden beliebt und all das zu rühmen weiß, was zu ihrem Schuh gethan wurde. Henriette Fürth . Das Zuchtlzausgrsetz. Wilhelm II. hat im Bad Oeynhausen gegen die kämpfenden Arbeiter wieder einmal eine jener scharfen Reden gehalten, von denen es scheint, daß sie dem impulsiven, vielseitigen Herrscher zum unabweisbaren Bedürfniß geworden sind und von ihm als eine besonders wichtige Seite seiner Regierungsgeschäfte eingeschätzt werden. Die Schroffheit der Kaiserrede mag gar unangenehm in das Ohr der Heuchler geklungen haben, welche die Masse so gern über den Krieg zwischen Kapital und Arbeit und damit zwischen Staatsgewalt und Arbeit täuschen möchten, um die Frohndenden desto bequemer und gründlicher rupfen und niederbütteln zu können. Sie mag recht unsanft jene unverbesserlichen Schwärmer aus ihre» Träumen gerüttelt haben, welche der Fülle der Thatsachen zum Trotz noch immer von der Mär des sozialen Königthums fabeln. Das deutsche Proletariat dagegen hat die Oeynhausener Worte mit jener kühlen Genug- thuung gehört, mit welcher der erprobte Kämpfer noch jederzeit es begrüßt, wen» die gegnerischen Absichten aufs Hellste umrissen vor seinem Blick auftauchen. Denn was diesen Worten ihre Bedeutung verleiht, ist nicht etwa der Umstand, daß der Kaiser sie gesprochen, das ist vielmehr die Thatsache, daß sie der Ausdruck sind von den Wünschen und Absichten der Schlot- und Krautbarone. Mit der Schärfe des Scheinwerfers offenbaren sie, wessen das deutsche Proletariat sich seitens der ausbeutenden und herrschenden Klassen zu versehen hat. Ueberraschend kommt ja diese Offenbarung nicht. Die Oeynhauser Rede ist nur eine verschärfte Auflage des Bielefelder Programms, das schwerste Strafe Jedem androhte, der„Arbeitswillige" an der Arbeit hindert. Und der erste Schritt zur Verwirklichung des Programms geschah bereits Ende vorigen Jahres mit dem famosen Erlaß Die Geschichte vom artigen kleinen Jungen. Skizze von Mark Twain . Es war einmal ein guter, kleiner Knabe, der hieß Jakob Blivens. Der gehorchte seinen Eltern stets, wie abgeschmackt und unvernünftig ihre Forderungen auch waren, und er lernte immer seine Aufgabe und kam nie zu spät in die Sonntagsschule. Er wollte nicht Stunden schwänzen, selbst wenn sein Verstand ihm sagte, daß es das Nützlichste sei, was er thun könne. Keiner von den anderen Knaben konnte je aus diesem klug werden, so sonderbar handelte er. Er log nie, wie dienlich es ihm auch gewesen wäre. Er sagte nur, es sei unrecht, zu lügen, und das genügte für ihn. Er machte sich einfach lächerlich mit seiner Ehrlichkeit. Die sonderbare Art, die dieser Jakob hatte, übertraf alles Dagewesene. Er spielte Sonntags nie Anschlagens, nahm keine Vogelnester aus, gab den Drehorgelspieleraffen keine heißen Pfennige; auch schien er kein Interesse an irgend welcher vernünftigen Belustigung zu haben. Die anderen Knaben suchten es auszuklügeln und ihn zu verstehen, kamen aber zu keinem befriedigenden Schluß. Wie ich oben sagte, sie konnten nur zu einer Art unbestimmter Vorstellung gelangen, daß er„schwachköpfig" sei, und so nahmen sie ihn gefällig unter ihren Schutz und hielten alles Unangenehme sorgsam-von ihm fern. Dieser gute, kleine Knabe las alle Sonntagsschulbücher; sie waren sein Entzücken. Das war das Geheimniß. Er glaubte an die guten kleinen Knaben in den Büchern und hatte volles Vertrauen zu ihnen. Einen davon einmal lebend zu begegnen, war seine größte Sehnsucht, aber es geschah nie. Vielleicht starben sie alle vor seiner Zeit. Wenn er von einem ganz besonders guten las, blätterte er rasch bis zum Ende, um zu sehen, was aus ihm Pvsadowskys, den vorgeblichen Terrorismus der Streikenden betreffend, jenem Erlaß, der eingestandenermaßen von den berüchtigtsten Unternehmerorganisationen angeregt worden ist. Uebrigens kehrt der Zickzackkurs mit dem Vorstoß gegen das Streikrecht, d. i. die Koalitionsfreiheit der Arbeiterklasse nur kapitalgehorsam zu seinen Anfängen zurück. 189», als er noch mit dem billigen Flittergold sozialer Reformverheißungen geputzt war, bot er dem deutschen Proletariat einen mehr als dürftigen Arbeiterschutz mit der einen Hand, mit der anderen dagegen einen so unverfälschten Arbeitertrutz, daß sogar die bürgerliche Majorität des Reichstags erklärte, nicht mitthun zu können. Allerdings hat sich der Arbeitertrutz seit jenem Jahre von einem verhältnißmäßig bescheidenen Gesellen zu einem maßlos begehrlichen Lümmel ausgewachsen. Damals sollte dem Gefängniß verfallen, wer unter Anwendung von Drohung und Gewalt zur Niederlegung der Arbeit zwingt. Heute dagegen wird das Zuchthaus wie dem Mörder und schweren gemeinen Verbrecher Jedem angedroht, der zum Streik „anreizt". Entspricht die nahezu ausgearbeitete Gesetzesvorlage den Kaiserworten, so läuft so ziemlich jeder Deutsche Gefahr— es sei denn, er war so vorsichtig, als Unternehmer geboren zu werden— als Kollege von Ehren-Hammerstein das Zuchthaus zu bewohnen. Denn Allah ist groß, größer noch ist aber die Deutungsfreudigkeit, das Findetalent und der amtliche Pflichteifer deutscher Polizeier und Juristen, welche hinter dreh- und deutelbaren Worten und Begriffen auf Vergehen und Zuchthauskandidaten zu fahnden haben. Die deutsche Arbeiterklasse beantwortet das Geschrei der Reaktionäre nach einem Zuchthausgesetz mit der Forderung: Erweiterung und Sicherstellung der Koalitionsfreiheit. Denn schon jetzt stehen die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen auf dem Gebiete des Koalitions- rechls unter einem schmachvollen Ausnahmegesetz. Die Bestimmung über die Wahrung berechtigter Interessen, welche in Z 193 des Strafgesetzbuchs festgelegt ist, findet auf die sogenannten Streikvergehen keine Anwendung. Dagegen giebt es eine stattliche Zahl von Paragraphen, Nöthigung, Erpressung, grobe» Unfug zc. betreffend, welche gegen die„Anreizer" zum Streik und gegen Streikende mit kunstfertigster Auslegung der Begriffe und äußerster Strenge angewendet werden. Selbstverständlich„von Rechtswegen", wie es im Kapitalistenstaat von Rechtswegen geschieht, daß nie ein behördlicher Hahn darüber kräht, wenn Fabrikanten mittels von schwarzen Listen Arbeiter von Werkstatt zu Werkstatt Hetzen, wenn Unternehmerverbände gegenüber den organisirten oder politisch kämpfenden �Arbeitern einen Terrorismus ausüben, welcher deren staatsbürgerliche Rechte schlankweg aufhebt. Erst das unbeschränkte Streikrecht macht die Koalitionsfreiheit vollständig. Die Organisation wird ihrer schärfsten Waffe beraubt, würde, weil er Tausende von Meilen gereist sein würde, um ihn anzustaunen: aber es nützte nichts; dieser gute kleine Knabe starb unfehlbar im letzten Kapitel, und das Begräbniß war abgebildet, wie alle seine Verwandten und die Kinder aus der Sonntagsschule um sein Grab herumstanden mit Beinkleidern, die zu kurz, und Hüten, die zu groß waren, und wie alle in Taschentücher weinten, die anderthalb Ellen lang waren. Er wurde immer so angeführt, er konnte nie einen von den kleinen, guten Jungen sehen, weil diese immer im letzten Kapitel starben. Jakob hatte den edlen Ehrgeiz, in ein Sonntagsschulbuch zu kommen. Er wünschte darin aufgenommen zu werden, mit Bildern, die ihn darstellen, wie er rühmlichst verweigerte, seine Mutter zu belügen, und wie sie Freudenthränen darüber vergoß: wie er auf den Thürstufen stand und einer armen Bettlerin mit sechs Kindern einen Pfennig gab und ihr erlaubte, ihn ohne Zagen auszugeben, aber nicht zu verschwenden, weil Verschwendung eine Sünde sei; wie er es heldenhaft ablehnte, den bösen Knaben zu verrathen, der ihm immer auf seinem Schulweg an der Ecke auflauerte, ihn mit einer Latte über den Kopf schlug und ihn nach Hause jagte, indem er ihm nachrief:„hi! hi!" Das war der Ehrgeiz des jungen Jakob Blivens. Er wünschte in ein Sonntagsschulbuch aufgenommen zu werden. Manchmal hatte er ein etwas unbehagliches Gefühl, wenn er überlegte, daß die guten, kleinen Knaben immer starben. Er liebte das Leben, wißt ihr, und das Sterben war die unangenehmste Seite am Dasein eines Sonntagsschulbuchknaben. Er wußte, es war nicht gesund, gut zu sein. Er wußte, es war verhängnißvoller als die Schwindsucht, so übernatürlich gut zu sein wie die Knaben in den Büchern; er wußte, daß es keiner von ihnen lange hatte aushalten können, und es schmerzte ihn, zu denken, daß, wenn sie ihn je in ein Buch aufnehmen würden,
Ausgabe
8 (28.9.1898) 20
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