Nr. 23.

Die Gleichheit.

8. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2970) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch, den 9. November 1898.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Die Fleischnoth.

-

Jnhalts- Verzeichniß.

Die hausindustriellen Arbeiterinnen in der Berliner Blusen, Unterrock-, Schürzen- und Trikotkonfektion. Von Gertrud Dyhrenfurth  . Besprochen von Henr. Fürth  . II. Aus der Bewegung. Feuilleton: Die Proletarierfrau in der neueren französischen   Lyrik.

Von H. Thurow.

Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Weibliche Fabrikinspektoren.

Sozialistische Frauenbewegung im Auslande. Publikationen zur Frauenfrage. Frauenarbeit auf dem Gebiete der Industrie, des Handels und Verkehrswesens. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung

Die Fleischnoth.

"

Seit Monaten schon herrscht Fleischnoth, die von Woche zu Woche steigt. Die Fleischpreise ziehen stetig an, ab und zu ver­mögen die Fleischer den Bedarf nicht zu decken. Die proletarischen Frauen sind es, die in erster Linie und am schwersten unter diesem Stande der Dinge leiden. Denn schon in Zeiten, die nicht im Zeichen des Fleischmangels und der Fleischtheuerung stehen, ist es eine bittere Sorge für sie, den Tisch der Familie mit Fleisch zu bestellen, ohne in bösen Konflikt zu gerathen mit dem knappen Wirthschaftsgeld, das der Mann ihnen allwöchentlich in die hart­gearbeitete Hand drückt. Und wie viele Tage lernt trop der größten Wirthschaftlichkeit die Proletarierin nicht kennen, wo auf ihrem Küchenzettel die färglich bemessene Portion Fleisch ganz fehlt, fehlen muß; wo an Stelle des Pfündchens Fleisch für die gesammte, oft vielköpfige Familie der Arbeiterkarpfen", der Hering tritt oder der Braten vom alten, abgerackerten Hottehü". Das ärmliche Einkommen der Proletarier bedingt es eben, daß das Fleisch im Haushalt der Proletarierfamilie nicht ein Nahrungs­mittel ist, das täglich in der erforderlichen Menge und Güte auf­getischt wird, vielmehr nur ein Lurus, dem zu fröhnen" nur ab und zu möglich ist. Wenige nur sind der Proletarierfamilien, die täglich das Quantum Fleisch verzehren, das nach berühmten Hy gienikern für die Ernährung nothwendig ist: 250 Gramm für den Erwachsenen. Und wie groß ist die Zahl der proletarischen Haus­halte, in denen jederzeit nicht etwa Fleisch erster Qualität auf den Tisch gelangt, sondern minderwerthige Waare: das Fleisch perl­süchtiger Rinder, finniges Fleisch, Abfälle. Nur wenn man diese Sachlage im Auge behält, vermag man ganz zu würdigen, wie drückend die gegenwärtige Fleischnoth auf der Proletarierin lastet. Sie hat im Gefolge eine Steigerung der schweren Sorgen, unter denen die Arme auch ohnedies wirthschaftet; sie bedeutet eine Ver­schlechterung der ohnehin armseligen proletarischen Lebenshaltung, führt den Hunger dort als Gast ein, wo bisher" nur" die Ent­behrung haufte und macht die Mutter zum ohnmächtigen Zeugen des Darbens ihrer Kinder.

Und warum dieses Mehr an Leiden ihr, der vom Leben so wie so schon Schwerbebürdeten? Weil die Politik des Deutschen Reiches im Zeichen der Agrarier- Liebesgaben- Wirthschaft steht, weil im Rathe der Regierenden und Herrschenden die Rücksicht auf den Geldbeutel der Krautjunkersippe schwerer wiegt als die Rücksicht auf die Gesundheit, die Lebenskraft, das Leben selbst des werk­thätigen Volkes.

Welches denn sind die Ursachen der gegenwärtigen Fleisch­noth? Die geriebenen Kniffe und Pfiffe der Zwischenhändler und

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Fr. Klara Bettin( Eißner), Stuttgart  , Rothebithl­Etraße 147, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Fleischer, so rufen die politischen und journalistischen Sachwalter der Jßenplize und Köferize mit jenem verdächtigen Eifer, mit dem des entwischenden Spizbuben Spießgesellen hinter dem ersten besten ehrlichen Vorübergehenden ihr: Haltet den Dieb! nachschreien. Und das Mädchen für Alles der Stummschen Schleifsteinpolitik, die " Post", hat gar noch andere Missethäter entdeckt, welche für die Fleischnoth verantwortlich sind: die Arbeiter. Das Organ für Wahlrechtsverschlechterung und Zuchthausgeseze erklärte nämlich, daß in Folge der gestiegenen Löhne in den Großstädten und industriellen Bezirken die Nachfrage sich beträchtlich erhöht hat". Die deutsche Arbeiterklasse müßte ebenso dumm sein, als das Junkerthum dreistbegehrlich ist, ließe sie sich durch derartige Flun­fereien über die Ursache der Fleischnoth täuschen. Nachweislich sind die Einzelpreise nicht schneller und nicht mehr gestiegen als die Großhandelspreise, und der Konsum von Fleisch ist in den meisten Großstädten und Handelskammerbezirken in den letzten Jahren gesunken. Die Berliner   Bevölkerung verzehrte z. B. 1888 pro Kopf 85,13 Kilogramm Fleisch, 1895 jedoch nur noch 73,53 Kilogramm. Für die Gegenwart  - genaue Berechnungen liegen Kilogramm. nicht vor darf man aber wohl einen noch niedrigeren Konsum annehmen, da in den letzten drei Jahren die Fleischpreise stetig angezogen haben. Im Handelskammerbezirk Plauen ist der Fleisch­berbrauch von 1896 bis 1897 um 4,50 Prozent zurückgegangen.

-

Die wahre Ursache der Fleischnoth ist männiglich bekannt. Es ist die Grenzsperre gegen die Einfuhr von Vieh und Fleisch, eine Maßregel, die von den ostelbischen Junkern gefordert und in ihrem Interesse verfügt wurde. Die Erschwerung, ja theilweise die Verunmöglichung der Vieh- und Fleischeinfuhr sollte die ver­billigende Wirkung der ausländischen Konkurrenz aufheben, die Preise in die Höhe treiben und dadurch den Säckel der raffgierigen Schweine und Rinder züchtenden Edelsten und Besten füllen. Es versteht sich am Rande, daß die Herren ihrem selbstsüchtigen Be­gehren das gleißende Mäntelchen gemeinnüßiger Rücksichten um­hängen. Die Grenzsperre war nöthig, um die Einschleppung von Viehseuchen abzuwehren, insbesondere um das deutsche Schwein" zu schüßen, so erklärten sie und ihre Handlanger. Die Maßregel werde das Volk nicht drücken, werde Fleischmangel und Fleisch­theuerung nicht nach sich ziehen, da die deutsche Landwirthschaft den Bedarf an Schlachtvieh gut decken könne, so fügten sie tröst­lich hinzu.

"

Nun ist aber festgestellt, daß die Einschleppung von Vieh­ seuchen   aus dem Ausland, zumal aus Rußland   und Oesterreich  her, gegenwärtig durchaus nicht zu befürchten ist. Die Seuchen­herde jenseits der Grenzen sind erloschen, und in Rußland   insbe= sondere sind in den lezten Jahren umfassende Maßregeln getroffen worden, welche die Ausfuhr von nur gesundem Schlachtvieh und Fleisch verbürgen. Und die schärfste Grenzsperre hat die Seuchen­herde in Deutschland   selbst nicht zu beseitigen vermocht. Daß aber die deutsche Landwirthschaft den Bedarf an Schlachtvieh nicht zu decken vermag, das hat Schäfereidirektor Heyne, eie Autorität auf dem Gebiete der Viehwirthschaft, ziffernmäßig aufgezeigt. Er berechnet, daß bei Zugrundelegung des sehr mäßigen Fleisch­konsums vom Jahre 1893 das Gesammtschlachtgewicht im Deutschen Reiche um 344,7 Millionen Kilogramm hinter dem Konsum zurückbleibt.

Je mehr Angesichts dieser Sachlage dem agrarischen Interesse zu Liebe die Einfuhr von ausländischem Vieh und Fleisch erschwert,