Siechthum des Kindes, noch ehe es geboren, ja ehe es empfangen. Der erschöpfte mütterliche Organismus kann kein lebenstrozendes Kind zeugen, von der frühzeitig erschöpften Mutter stammt ein fümmerliches Geschlecht. Jedoch nicht nur dadurch ist die kapitalistisch ausgebeutete Berufsarbeit der verheiratheten Frau von verhängnißvollem Einfluß auf die körperliche Entartung des proletarischen Nachwuchses. Es giebt Industrien, Beschäftigungsarten, wo die Verwendung von schwangeren Frauen und Wöchnerinnen geradezu ein Todesurtheil für das Kind bedeutet, ein Todesurtheil, das unfehlbar noch vor der Geburt oder innerhalb der ersten Lebensjahre vollstreckt wird. Wieder und wieder haben wir das in dieser Zeitschrift durch entseßliche, anklagende Zahlen erhärtet. Man gedenke der angeführten Ziffern über die ungemein häufigen Tod und Fehlgeburten der Arbeiterinnen in Schriftgießereien, Buchdruckereien, Quecksilberbelegen, in Industrien, wo Bleiweiß berarbeitet wird; über die Kränklichkeit und den frühen Tod der lebend geborenen Kleinen der betreffenden Lohnstlavinnen; über die hohe Sterblichkeit der Kinder der Zigarren- und Tabatarbeite rinnen. Hat nicht Professor Etienne in Nanch zahlenmäßig nachgewiesen, daß die Sterblichkeit der Säuglinge von Zigarrenarbeiterinnen besonders hoch ist, wenn die Frau die nächſtliegende, natürlichste Mutterpflicht erfüllt und das Kind an der Brust nährt, deren Milch sich unter dem Einflusse der Berufsarbeit aus einer Quelle des Lebens und der Kraft in tödtliches Gift verwandelt?
Mit diesen Greueln sind die mit der Berufsarbeit der Mutter verknüpften Uebel noch nicht erschöpft. Was an findlichem Leben, an findlicher Gesundheit und Kraft noch nicht vernichtet worden ist, dem droht Verkümmern in Folge mangelnder Pflege. Die Proletarierin darf nicht in erster Linie, in vollem Umfange Mutter sein; sie ist zunächst nur kapitalistisch ausgebeutete Arbeitskraft, feine volle Person, eine bloße Hand" nach der Redeweise englischer Unternehmer. Die Berufsarbeit im Dienste des Kapitals saugt ihre Persönlichkeit auf, ihr gehört der beste und größte Theil von Zeit und Kraft, das Kind fann nur nebenher versorgt werden. Nur nebenher versorgt werden in der Zeit, wo das fleine, hilflose Geschöpf steter gewissenhafter und liebevoller Betreuung bedarf! Welche Fülle des Elends schließen nicht diese vier Worte ein. An Stelle der natürlichen Nährung tritt die künstliche und zwar nur in den seltensten Fällen in Gestalt von Stuhmilch erster Qualität, die im ärztlich empfohlenen Apparat vorbereitet wird. Das Würmchen wird schlecht und recht mit geringer Milch, Kindermehlen, Breichen und Abkochungen großgepäppelt, der efelhafte Lutschbeutel wird ihm in den Mund gestopft, es erhält ein Opiat oder einen Zusaß von Branntwein, damit es in Abwesenheit der Mutter„ hübsch ruhig liegt" oder diese bei der Arbeit nicht stört. Die von Marr angeführten Ziffern über die hohe Sterblichkeit der Säuglinge in den englischen Industriezentren bleiben klassische Zeugen für den bethlehemistischen Stindermord", dessen sich das Kapital durch die Ausbeutung der proletarischen Mutter schuldig macht. Erhebungen der britischen medizinischen Gesellschaft, Berichte von Fabrikinspektoren, Forschungen von Arzten und Sozialpolitikern haben Beweise über Beweise angehäuft für den engen Zusammenhang zwischen hoher Kindersterblichkeit und industrieller Berufsarbeit der Mutter.
Und welchen Einfluß auf die weitere Entwicklung von Körper, Geist, Charakter des Kindes vermag die Industriearbeiterin zu nehmen, wenn die Lebenskraft des Säuglings zäh genug ist, allen Fährnissen zu troßen, die aus mangelnder Pflege folgen? So gut wie feinen.
Gewiß, daß Schule, Kindergarten, Kinderbewahranstalt einen großen und wichtigen Theil der erzieherischen Aufgaben lösen, welche früher der Mutter und dem Elternhaus zufielen. Wir sind auch überzeugt, daß die Grenzen für das erzieherische Wirken dieser Anstalten noch bedeutend weiter gesteckt werden müssen. Und zwar nicht blos, weil die Frau sich fünftighin mit ihrem Sein und Thun nicht auf das Haus beschränkt, sondern vor Allem mit Nücksicht auf die höheren Leistungen der gemeinsamen, öffentlichen Erziehung und ihren Werth für die Geistes- und Charakterbildung des Kindes. Heute jedoch haben wir noch nicht die genügende Anzahl der betreffenden Anstalten, und ihre Organisation, ihr Charakter, ihre Leistungen genügen nicht den zu stellenden An
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sprüchen. Aber selbst nach der einen und anderen Seite hin ideale Zustände vorausgesezt, bleibt doch neben dem Gebiet der gemeinsamen Erziehung ein sehr breites Feld für die Erziehung der Kinder durch die Mutter und das Heim.
Die Industriearbeiterin der Gegenwart vermag die ihr auf diesem Gebiet zufallenden Aufgaben nur sehr unvollkommen oder auch gar nicht zu lösen. Die fapitalistische Entwicklung hat eine Grundbedingung dafür zerstört: ein geordnetes, behagliches Heim. Sie läßt das proletarische Familienleben immer mehr zur bloßen Tisch und Schlafgemeinschaft zusammenschrumpfen, sehr oft zur Schlafgemeinschaft allein. Von welchem Einfluß hierauf die Bes rufsarbeit der verheiratheten Frau ist, kann man mit Händen greifen. Von früh bis abends an die Erwerbsarbeit gefesselt, förperlich und seelisch durch schwere Frohn, Entbehrungen und den Stampf mit der Noth ermattet und überreizt, kann die Familienmutter weder ihr Theil zur Ausgestaltung eines traulichen, an= regenden, fördernden Heimlebens beitragen, noch sich der Erziehung der Kinder widmen. Mag sie ihre Sonn- und Feiertage opfern, halbe und ganze Nächte hindurch sich abrackern: im günstigsten Falle gelingt es ihr doch nur, Ordnung und Sauberkeit aufrecht zu erhalten, für die ärmliche Pflege der Kleinen zu sorgen, der schlimmsten Verwahrlosung vorzubeugen, in der vollen Bedeutung des Wortes ihre Kinder zu erziehen ist ihr unmöglich.
Für die Mutter selbst erwachsen aus diesem Stande der Dinge Kämpfe über Kämpfe. Herz und Pflichtbewußtsein treiben sie, aus der Gebärerin des Kindes seine Bildnerin zu werden. Die eiserne Nothwendigkeit aber zwingt zur Berufsarbeit, und diese Berufsarbeit ist gleichbedeutend mit Lohnstlaverei, d. h. der Umwerthung der Person zur Nichts- als- Arbeitskraft im Dienste des Kapitals. Für die Kinder aber ergiebt sich eine schwere Schädigung der förperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung. Davon zeugen Schaaren blasser, ungepflegter, freudloser, verkiüppelter Kindergestalten; das bestätigt mit eindringlicher Beredtsamkeit die erschreckend hohe Zahl der jugendlichen Verbrecher in den Kulturstaaten; das zeigt ein Blick auf Tausende und Tausende jugendlicher Gesichter, die das Gepräge des Stumpffinns, der Rohheit, des geistigen Todes tragen.
Die verhängnißvollen Folgen der kapitalistisch ausgebeuteten Berufsarbeit der verheiratheten Frau greifen somit weit über deren eigenes, persönliches Leben hinaus. Sie ziehen das Kind in Mitleidenschaft, sie drohen dem Nachwuchs des Proletariats mit förperDie Sünden der lichem, geistigem und sittlichem Verkommen. kapitalistischen Ausbeutung werden an deren Opfern heimgesucht bis ins dritte und vierte Glied. Die Arbeiterklasse hat aber ein Lebensinteresse daran, daß ein proletarisches Geschlecht heranwächst, stark und gesund an Leib und Seele. Denn nur ein solches Geschlecht vermag den Kampf für die Befreiung des Proletariats zu tragen und seine Schlachten siegreich zu schlagen. Die Arbeiterklasse muß deshalb die verheirathete Arbeiterin gegen das Uebermaß der kapitalistischen Ausbeutung schüßen. Daß aber der nöthige Schuß nicht in dem Verbot der Fabrikarbeit verheiratheter Frauen besteht und bestehen kann, werden wir in einem folgenden Artikel nachweisen.
Die Thätigkeit der Berliner Mittelspersonen zwischen Arbeiterinnen und Fabrikinspektion.
0. B. Seit Mai 1898 haben Genossinnen in Berlin , einer früheren Anregung der„ Gleichheit" entsprechend, eine Einrichtung getroffen, deren Zweck es ist, Beschwerden von Arbeiterinnen über Nichtausführung und Nichtinnehaltung der zum Schuße der Arbeiterinnen erlassenen Bestimmungen der Gewerbeordnung entgegen zu nehmen und sie der Gewerbeinspektion zu übermitteln. Die meisten Arbeiterinnen ertragen lieber alles Ungemach, ehe sie sich der Gefahr aussehen, wegen Aufdeckung von Mißständen gemaßregelt zu werden, wie es immerhin nicht selten vorkommt. Die vermittelnde Thätigkeit der Mittelspersonen beseitigt für die Arbeiterinnen diese Gefahr. Acht bekanntere Genossinnen, in den verschiedenen Stadttheilen Berlins wohnhaft, richteten Sprechstunden zu dem genannten Zweck ein, ebenso wurden im Gewerkschaftsbureau Beschwerden entgegengenommen.
Seit Mitte Mai bis Mitte Dezember 1898 sind insgesammt 31 Beschwerden bei den Mittelspersonen eingereicht worden. Fast