beseitigten sie ihn, und Lueger meinte bei feiner Rückkehr, wenn die Regierung nicht will, kann man nichts machen". Diese Mameluken­sprache führte derselbe Mann, der die Regierung mit den äußersten Mitteln bekämpfte, als sie seine Wahl zum Bürgermeister nicht der faiserlichen Sanktion unterbreitete.

Von einem zweiten Wahlreformentwurf, der voll der perfidesten, wiederträchtigsten Bestimmungen zu Gunsten der Christlichsozialen war, glaubte Niemand, daß er angenommen werde. Dennoch geschah das Unerhörte. Auf die schwindelhafteste Weise wurde der Entwurf durchgepeitscht, und ein gemeiner Gaunerstreich verhinderte die Op­position im Landtag sogar am Reden. Der mit den schmutzigsten Mitteln zum Gesetz erhobene Entwurf ist der reinste Hohn für die Rechtlosen. Zu den bisherigen Wahlkörpern tritt ein vierter, für alle früher vom Wahl­recht Ausgeschlossenen und für alle Personalsteuerpflichtigen. Während die drei privilegirten Wahlkörper je 46 Vertreter wählen, soll der vierte Wahlkörper, der alle Arbeiter umfaßt und auch alle, die schon in den ersten drei Wahlkörpern das Wahlrecht besitzen, nur 20 Man­date erhalten. Die fünfjährige Seßhaftigkeit bleibt als Vorbedingung für das Wahlrecht im vierten Wahlkörper bestehen. Neben diesen ungeheuerlichen Ungerechtigkeiten enthält der Entwurf noch so viele Kniffe, daß ein Blinder sieht: das Wahlrecht soll nur Gesetz werden, um den Christlichsozialen die Herrschaft zu sichern. Die Lehrer, welche als Vertreter der Intelligenz bisher im zweiten Wahlkörper wählten, wurden, da sie dort dem System Lueger gefährlich werden fonnten, in den dritten Wahlkörper degradirt, indeß der gefährdete zweite Wahlkörper durch einen Schub unbedingter Luegerianer aus dem dritten Wahlkörper verbessert" wurde.

Diese nichtswürdige Wahlrechtsreform, die man in Wien furz Wahlrechtsraub" nennt, hat nun die langzurückgehaltene Empörung zum Ausbruch gebracht.

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Auch die Frauen kamen durch die Wahlreform nicht zu ihrem Recht. Dieselben Christlichsozialen, deren treueste Garde der christ­liche Frauenbund ist, und die den Frauen so viel verdanken, sind nicht nur über das Frauenwahlrecht schweigend hinweggegangen, sondern sie haben auch gleichzeitig mit der Wahlrechtsreform in Wien eine Aenderung der Wahlordnung für die Landgemeinden vorge­nommen, woselbst mit Ausnahme von einigen Städten die Frauen wahlberechtig waren. Wahlberechtigt waren allerdings nur diejenigen Frauen, welche eine direkte Steuer zahlten, doch auch diesen sollte das Stimmrecht durch die Christlichsozialen genommen werden, die in ihrem Wahlrechtsentwurf nur von Personen männ lichen Geschlechts sprachen. Erst nach einer Interpellation oppo­sitioneller Abgeordneter wurde den unverheiratheten Frauen der Landgemeinden das Wahlrecht zurückgegeben. Die verheiratheten Frauen bleiben rechtlos, weil, wie Dr. Geßmann, einer der bedeu­tendsten" und zugleich widerlichsten Erscheinungen der Christlich­sozialen, sagte in der Politik zwischen Mann und Frau ein Unter­schied sein müsse". Jetzt werden also nur die Frauen der Land­gemeinden, wenn sie eine direkte Steuer zahlen und ledig bleiben, das Wahlrecht besitzen, alle anderen Frauen haben kein Recht zu wählen.

Arbeiterinnen und auch bürgerliche Frauen forderten darauf in großen Versammlungen das Wahlrecht für alle Frauen, unter den gleichen Bedingungen, wie es für die Männer verlangt wird. Nur die christlichsozialen Frauen schweigen, sie fühlen nicht die Schmach, von ihrer eigenen Partei entrechtet zu werden. Mit keinem Wort weisen sie in ihrem Blatt auf die Niederträchtigkeiten ihrer Partei hin, ja, sie höhnen und schmähen die Sozialdemokraten, weil diese Dr. Luegers Wahlentrechtungskomödie nicht mit jubelndem Dank hinnahmen. Sie und die Polizei bewähren sich jetzt, wo es von allen Seiten Verachtung auf ihren Abgott regnet, als die treuesten Stützen Luegers; sie sind blind für die Thatsache, daß die Arbeiter Wiens, die auf die Straße gegangen sind, um laut und energisch gegen den Wahlrechtsraub zu protestiren, auch für ihr Recht kämpfen.

Selbst der große Kampf um das Reichsrathswahlrecht von 1893-1895 wurde in Wien nicht mit so vieler Leidenschaft geführt, wie jetzt der Kampf um das Gemeindewahlrecht. In hunderten von Versammlungen hat nicht allein die Partei, sondern haben auch alle Gewerkschaften zum Wahlrechtsraub Stellung genommen. Von Ge­werkschaftsversammlungen wurden sogar Resolutionen, welche die Parteileitung vorgeschlagen hatte, als zu wenig scharf abgelehnt. In den bedeutendsten Straßen der Stadt kam es zu imposanten De­monstrationen. Die Polizei ist immer schneidig am Play, am schnei­digsten aber ist sie bei der letzten Demonstration, dem Ringstraßen­forso, aufgetreten. Nachdem sich nämlich die Empörung der Arbeiter gegen die Christlichsozialen wiederholt durch deren Führern gebrachte liebliche Katzenmusiken Luft gemacht hatte, trieben die beispiellosen Beschimpfungen Luegers, dem durch die Polizei liebevoll Beschützten, die Proletarier zu einer Massendemonstration auf die Straße.

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Lueger hatte schon gelegentlich im Gemeinderath den demonstri­renden Arbeitern den Titel unreife Burschen mit und über 20 Jahre" beigelegt. Damit nicht genug. Auf einem großen Fest der christlichsozialen Frauen Wiens, dem der schöne Karl" nebst dem Vizebürgermeister Strobach, einem unwissenden Hausbesitzer­prozen, beiwohnte, nannte er in einer Rede die Wiener Arbeiter ,, nichtsnuzige Buben und eine ehrlose nichtsnutzige Bande". Die Frauen forderte er auf mit den" Buben" Abrechnung zu halten. Strobach, Luegers würdiger Schildknappe, schimpfte die Sozialde­mofraten furzweg elendes Diebsgesindel".

Die Parteileitung ersuchte in einem flammenden Aufruf die Arbeiter, gegen diese unerhörten Beschimpfungen zu protestiren und zwar durch einen großen Korso auf der Ringstraße, der prächtigsten Straße Wiens. Am 6. Juli, Abends 7 Uhr fand der Korso statt. Unter strömendem Regen bewegten sich schon um 1/27 Uhr dichte Massen zum Rendezvousplatz. In Werkstättenkleidern, mit berußten Gesichtern, alt und jung, kamen die Proletarier und die Proletarier­innen herangezogen. Der Korso machte einen packenden, erhebenden, imponirenden Eindruck, der sich nicht mit Worten wiedergeben läßt. Ein Wagen, auf dem die Arbeiter einer Fabrik mit den Werkzeugen in der Hand saßen, zeigte Lueger und seinen Anhängern, womit die ,, nichtnußige Bande" sich beschäftigt. In vollkommener Ruhe be­wegten sich die kolossalen Menschenmassen durch die Straße, deren Häuser von Zuschauern dicht besetzt waren. Da erklingt plötzlich am Kärntnerring lautes Pferdegetrappel. Wie eine Windsbraut rast eine Abtheilung Berittener daher, an ihrer Spitze der verhaßteste der Polizisten Wiens , der Polizeiinspektor Anger, der Führer der wildesten und gefährlichsten Reiterattaken. Mit der Stille ist's nun vorüber, Pfui Lueger", Nieder mit dem Wahlrechtsräuber"," Hoch das all­gemeine, gleiche und direkte Wahlrecht" braust es über die Ring­straße. Der ersten Reiterattake folgen bald mehrere, und die Polizisten zu Fuß wetteifern mit den Berittenen in brutaler Behandlung der Demonstranten. 47 Personen wurden verhaftet. Wer Pfui Lueger" rufend von der Polizei ertappt wurde, mußte auf das Wachtzimmer folgen. Unter den Verhafteten befanden sich auch die Genossen Reumann, Bretschneider und Dr. Adler, welche bemüht waren, mög­lichst die Ordnung unter den Demonstrirenden aufrecht zu erhalten. Troß aller Polizeiangriffe behaupteten sich die Arbeiter zwei Stunden lang auf der Ringstraße. Ohne die Polizei wäre die Demonstration um 8 Uhr beendet gewesen, so zogen die Arbeiter erst um 9 Uhr ab, naß bis auf die Knochen, aber mit dem Gefühl, daß sie die Schlacht gewonnen hatten.

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Der echte Demokrat" Lueger , welcher an demselben Abend einer Feier anwohnte, wurde auf seinem Heimweg von einer starken Po­lizeieskorte begleitet. Anders wagt sich der Volksmann" überhaupt nicht mehr unter das Volk.

Für Montag den 10. Juli wurden elf Volksversammlungen einberufen, jedoch verboten. Das gleiche geschah mit einer auf den 12. angesetzten großen Versammlung der Arbeiterinnen. Die von den Christlichsozialen so unerhört beschimpften Arbeiterinnen werden trotzdem Gelegenheit finden zu reden und ihr Recht zu fordern. Nach einer Praterversammlung schrieb das christlichsoziale Partei­organ: die Arbeiter seien mit ihren Kallen" ausgerückt, die wo­möglich noch häßlicher seien, als die Männer. Ein anders Mal nennt das Blatt die demonstrirenden Arbeiterinnen ,, öffentliche Dirnen, welche zu den Demonstrationen kommen um Verhältnisse anzu­knüpfen", oder es schreibt, daß man die Sorte Frauen", die bei den Demonstrationen dabei sind, schon kennt, und wenn diese Damen " von der Polizei Hopp" genommen werden, es für das Publikum nur eine Erleichterung sei.

Alle diese Gemeinheiten werden die Arbeiterinnen nicht schrecken oder beirren. Sie werden immer wieder demonstriren, so lange sie rechtlos, ausgebeutet und geknechtet sind. Schon in der nächsten Woche werden sie, trotz der Polizei, in einigen Versammlungen* die Meinung der proletarischen Frauen über Dr. Lueger und seine Partei zum Ausdruck bringen.

Wien im Juli 1899.

Adelheid Popp .

Jeannette Schwerin f.

Frau Jeannette Schwerin , eine der besten, hervorragendsten Frauenrechtlerinnen Deutschlands , ist Mitte Juli durch den Tod ihrem weiten, vielseitigen Thätigkeitskreise entrissen worden. Sie starb an den Folgen einer Operation, die ein Jahre langes Leiden nothwendig gemacht hatte.

* Am 20. Juli hat eine imposante Versammlung stattgefunden, in der die Arbeiterinnen gegen den Wahlrechtsraub protestirten. Unter stürmischem Beifall sprachen die Genossinnen Glas und Popp.