Nr. 22.

Die Gleichheit

9. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3033) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart

Mittwoch, den 25. Oktober 1899.

Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Zetkin ( Eißner ), Stuttgart , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Juhalts- Verzeichniß.

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Nach dem Parteitag.- Arbeiterinnenschutz in der Schweiz . Von D. Z.­Aus der Bewegung. Beschlüsse des Parteitags zu Hannover . Zur Ethik des Kampfes". Eine Entgegnung von Dr. Fr. W. Foerster. Feuilleton: Herrn Foerster zur Erwiderung. Von Lily Braun .

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Ebbe. Novelle von Adele Gerhard .

Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Sittlichkeitsfrage. Frauenbewegung.

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Nach dem Parteitag.

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Welches sind die Ergebnisse des sozialdemokratischen Partei­tags zu Hannover , des zehnten sozialdemokratischen Parteitags, der seit dem Falle des Sozialistengesetzes, schmachvollen Angebenfens, stattgefunden hat? Das ist die Frage, die Freund und Feind bewegte, kaum daß die Verhandlungen der Rothen" geschlossen waren. Was die Gegner anbelangt, so ist ihre Werthschäzung der sozialdemokratischen Berathungen und Beschlüsse eine zweifache. Die Presse der gewohnheits- und berufsmäßigen Scharfmacher, die sich nicht gleich dem freisinnig- demokratischen Zeitungsgeschwister ein für ein U betreffs der sicheren Spaltung und Mauserung X der Sozialdemokratie vorgemacht hat, betont den umstürzlerischen" ,, vaterlandsfeindlichen" Charakter des Parteitags und hezt mit Hurrah und Hussah zu neuen Ausnahmemaßregeln gegen das tämpfende Proletariat. Die bürgerlich- demokratischen und reform­lerischen Blätter und Blättchen dagegen leitartikeln über den Partei­tag in der Rolle des betrübten Lohgerbers, dem die Felle davon­geschwommen sind, der sich aber mit der närrischen Hoffnung tröstet, im Laufe der Zeit könnten selbige doch vielleicht einmal den Strom Das Gefühl der Hoffnungslosen zurückgeschwommen kommen. Schwäche der demokratischen und reformlerischen Parteien und Grüppchen hat den Wunsch geboren, durch das Erbe einer ge­mauserten Sozialdemokratie zu erstarken, und dieser Wunsch läßt eine richtige Würdigung der einfachsten Thatsachen nicht zu. So schlußfolgern Blätter des demokratischen und reformfreundlichen Bürgerthums" auf eine Mauserung", auf eine innere Umbil­dung" aus dem Umstand, daß der Parteitag weder über Bernstein noch sonst Jemand den Bannfluch" verhängte eine Vermuthung, deren Kindlichkeit wiederholt hervorgehoben worden ist, ferner aus der hohen Werthschäzung, welcher" Radikale" wie" Oppor­tunisten" der praktischen Gegenwartsarbeit beimaßen. Den Rekord wunschseliger Gedankenlosigkeit schlägt die Frankfurterin", die scharf­sinnig ist, wo es sich um die Börse, stumpfsinnig, wo es sich um den proletarischen Klassenkampf handelt. Sie delirirt bereits den Sankt Nimmerleinstag voraus, wo für die Sozialdemokratie über der praktischen Reformarbeit das Endziel zur bloßen Sonntags­idee" geworden ist, offenbar wie die Spekulation auf Hausse und Baisse für die Männer der sozialen Demokratie", die mit ihrer Gesinnung und ihrem Geldbeutel hinter dem Sonnemann­blatt stehen.

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Die Sozialdemokratie selbst kann mit dem Ergebniß des Parteitags zu Hannover vollauf zufrieden sein. Was Noth that, ist geschehen. Eine Auseinandersetzung und Klärung über die Meinungsverschiedenheiten, über die erhobene Kritik und Gegen­fritik in den eigenen Reihen hat stattgefunden. Die Partei unter­30g ihre Grundanschauungen wie ihre Taktif einer eingehenden

Revision".

Das Resultat der Verhandlungen erweist klärlich, daß sie als die alte revolutionäre Sozialdemokratie auf dem Boden des Klassenkampfs steht, an den marristischen Theorien festhält und bei aller Energie, mit der sie in der Gegenwart für Reformen kämpft, das Ringen um das große Endziel weder abschwächen noch verschleiern will.

Besonders gründlich war die Abrechnung, welche durch Bebels glänzendes, thatsachenreiches Referat wie durch die mehrtägigen Debatten mit der Bernsteinschen Theorie des Opportunismus er­folgte. Mit geradezu erdrückender Wucht, aber in streng sachlicher Weise und in den ruhigsten Formen gelangte es zum Ausdruck, daß die deutsche Sozialdemokratie Bernsteins Kritik der Verelen­dungstheorie, seine Auffassung von der Bedeutung der ethischen" Faktoren, von der Entwicklung des Mittelstands und der Ein­fommensverhältnisse zurückweift; ebenso seine Bewerthung des bürger. lichen Liberalismus, seine Ansicht von der allmäligen Sozialisirung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, seine Bedenkten gegen die " Freßlegende" und die Eroberung der politischen Macht. Die vom Genossen Dr. David entwickelte famose Aushöhlungstheorie" trug, wenn auch ungewollt, so doch redlich das Ihrige dazu bei, die Bernsteinsche Auffassung ad absurdum zu führen. Bebels Resolution bedeutet denn auch ein entschiedenes Nein auf die freundliche Aufforderung, die Sozialdemokratie möge sich zu einer demokratisch- sozialistischen Reformpartei ausmausern. Diese ihre Bedeutung wird unseres Erachtens nicht dadurch beeinträchtigt, daß auch die Anhänger Bernsteins ihr beistimmten, ja daß Bernstein selbst sich für sie erklärt hat. Im Zusammenhang mit dem Referat und den Debatten steht die Resolution wie Bebel in seinem Schlußwort Punkt für Punkt nachwies in so schroffem Gegen­satz zu der Bernsteiniade, daß die Zustimmung zu ihr nicht mehr und nicht weniger ist, als eine nicht umzudeutende Absage an die leitenden Grundsäße der opportunistischen Revisions- und Reform= vorschläge. Bernstein selbst aber hat seit seinem Auftreten als ,, Ueberwinder der marristischen Irrthümer" eine so widerspruchs­volle, unklare, vieldeutige Haltung eingenommen, daß seine Er­flärung am allerwenigsten geeignet ist, der Resolution gleichsam den revolutionären Stachel" auszuziehen.

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Erfreulich wie die Stellungnahme des Parteitags gegenüber der Theorie des Opportunismus, ist der geradezu leidenschaftliche Gifer, mit der die Delegirten sich an den einschlägigen Debatten Die Genossen betheiligten. Das Warum liegt auf der Hand.

und Genoffinnen theilen nicht jene Auffassung, nach der die Er­örterung theoretischer Streitfragen nur eine müßige Spielerei ist. Sie erkennen die Bedeutung, welche eine richtige an den Thats sachen geprüfte Theorie für die Praris hat, und gerade mit Rück­sicht auf die praktische Tagesarbeit und auf den zu führenden Kampf erachteten sie eine Klärung unserer grundsätzlichen Auf­fassung für nöthig. Kennzeichnend für diese Auffassung ist es, daß der Parteitag gleichsam im Handumdrehen eine Reihe von Verhandlungsgegenständen erledigte, deren Erörterung sonst tage­lang zu bauern pflegt. Kennzeichnend für diese Bewerthung ist es ferner, daß sich 29 Genossen und Genossinnen an der Diskussion betheiligten, und daß damit die Reihe der eingezeichneten Redner noch keineswegs erschöpft war.

Was die Debatten anbelangt, so hielten sie sich- soweit sie sachlich geführt wurden auf einer wahrhaft achtunggebietenden Höhe. Auf keinem Parteitag war das durchschnittliche Niveau der