Nr. 25.
Die Gleichheit
9. Jahrgang.
Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3033) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 6. Dezember 1899.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Juhalts- Verzeichniß.
Halbe Arbeit.
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Zum Arbeitgeber- Paragraph der lex Heinze.
Mädchen
Aus
heime des Evangelischen Diakonievereins. Von Jda Altmann. der Bewegung. Feuilleton: Der Murrkopf. Aus den Memoiren eines Jägers. Von J. Turgenjew. Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Weibliche Fabrikinspektoren. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Koalitionsrecht.
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Halbe Arbeit.
Schneller und gründlicher als man nach der ersten Lesung und der Haltung der Partei der Zweideutigkeit, des Zentrums, erwarten durfte, hat der Reichstag in der zweiten Lesung mit der Zuchthausvorlage aufgeräumt. Mit einem verächtlichen Fußtritte hat er sie bei Seite geschleudert. Vergebens versuchte der auf die nacktesten Unternehmerinteressen eingeschworene Flügel der Nationalliberalen durch einen ebenso heuchlerischen als bösartigen Antrag dem reaktionären Balge eine Kommissionsberathung zu sichern und die Arbeiter mit dem halben Zuchthaus zu beglücken. Ihre Pose als Retter der individuellen Freiheit, als Vertheidiger der„ Koalitionsfreiheit" gegen den„ Koalitionszwang", wirfte als grobe, lächerliche Posse. Ebenso erfolglos war Herrn von Stumms Liebesmüh, zum Schuße der bedrohten Mark- und Thalermillionäre soviel Zuchthaus als nur irgendmöglich zu retten. Auch die herzlich ungeschickte Mirbachiade Posadowskys, des Ministers für Regierungsniederlagen, verfehlte ihre Wirkung vollständig. Der Reichstag ließ der Zuchthausvorlage nicht einmal die Ehre einer Kommissionsberathung zu Theil werden, er warf sie furzerhand auf den parlamentarischen Kehrichthaufen.
Ausschlaggebend für diesen Ausgang war die Haltung des Zentrums, das nach langem Hin und her zwischen seinen kapitaliftenfreundlichen reaktionären und seinen demokratischen Tendenzen in letzter Stunde wieder einmal sein arbeiterfreundliches Herz entdeckte. Die schwere Proletarierfaust hatte mit allzu deutlicher Geberde auf dieses höchst eigenthümliche, unzuverlässige Ding gezeigt. Auch das entschiedene Nein der übrigen bürgerlichen Gegner der Zuchthausvorlage gründet weit mehr in der Furcht vor dem Abfall der proletarischen Wähler, als in der Liebe zur Koalitionsfreiheit. Indem wir diese Thatsache betonen, wollen wir gewiß nicht bestreiten, daß es auch in den bürgerlichen Parteien Männer giebt, die aus höherer Einsicht in das gesellschaftliche Getriebe und aus ehrlicher Sympathie für das Proletariat aufrichtige Freunde des Koalitionsrechts sind. Aber ihre Zahl ist winzig klein, und was ihre Bedeutung noch weit mehr herabmindert ihr persön= liches Verstehen und Wollen ist ohne Einfluß auf das Sein und Thun der bürgerlichen Parteien, auf das politische Leben ihrer Klasse. Die Ueberzeugung der Bassermann, Rösicke in allen Ehren; alle Achtung vor dem mannhaften Eintreten Brentanos und einer handvoll anderer Reformler für das Koalitionsrecht der Arbeiter, aber was diese Männer geredet und geschrieben hat das Schicksal der Zuchthausvorlage nicht bestimmt. Nichts ist deshalb grundloser als das bürgerliche Gefasel, welches die Ablehnung der Zuchthausvorlage als ein Sich- besinnen des deutschen Bürgerthums auf seine geschichtlichen Aufgaben feiert, als ein Anzeichen für die Wiedergeburt des bürgerlichen Liberalismus und anderes Schöne
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Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Zetkin ( Bundel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
mehr. Nur die lächerlichste Anmaßung kann auf Grund der er= folgten Abstimmung vom Proletariat Vertrauen und Dank für die bürgerlichen Parteien einfordern und diese als sturmerprobte Verfechter der proletarischen Interessen anpreisen.
Die Träger der Klassenbewußten Arbeiterbewegung können ruhig und ohne sich das Geringste zu vergeben, anerkennen, daß sich die bürgerliche Opposition den Oeynhausener Anregungen gegenüber steifnackig gehalten hat. Allein sie wären thöricht, wollten sie darüber vergessen, daß sie selbst es sind, welche die bürgerlichen Nacken gesteift, welche den bürgerlichen Lippen das feste Nein abgezwungen haben. Die Agitation der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie hat die tiefsten proletarischen Schichten ergriffen und zum kraftvollen, einmüthigen Protest emporgepeitscht. Diese Thatsache hätten unter dem Regime des allgemeinen Wahlrechts nur Parteien mißachten können, die auf dem fürzesten Wege ihre Selbstvernichtung erstrebten und die proletarischen Wähler in hellen Haufen der Sozialdemokratie zutreiben wollten. Das wirklich entscheidende Urtheil über die Zuchthausvorlage ist nicht im Reichstag gefällt worden, vielmehr in den Protestversammlungen von den proletarischen Massen. Zwei Thatsachen beweisen das finnenfällig: daß das Scheusal nicht bereits in der ersten Lesung verscharrt wurde; daß Niemand am Morgen des Entscheidungstags sicher wußte, welche Haltung das Zentrum einnehmen werde. Das Vertrauen und der Dank des Proletariats gebühren nur ihm selber. Die bewiesene Tugend kommt übrigens der bürgerlichen Opposition recht billig zu stehen. Die stillen und verschämten Feinde des , Streifterrorismus" wissen sehr gut, daß trop der Ablehnung der Zuchthausvorlage der Zuchthauskurs in Kraft bleibt. Wozu gäbe es denn Gesezesterte, welche Zuchthausurtheile ermöglichen, und Richter in Dresden und anderwärts welche auf Grund der Gefeße Zuchthausurtheile verhängen!
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Hoffnungsvolles Zutrauen gegenüber den bürgerlichen Parteien, insbesondere aber gegenüber dem Zentrum wäre seitens des Prole= tariats umsoweniger am Blaze, als die Zuchthausvorlage zwar für den Augenblick abgethan ist, dafür aber die Annahme der Flottenvorlage bedenklich droht. Die verrathreiche Vergangenheit des Zentrums zwingt geradezu den Verdacht auf, Die um Lieber hätten sich durch die Ablehnung der Zuchthausvorlage die Absolution ihrer Wählermassen billig sichern wollen für die ratenweise zu verschachernde Zustimmung zu den Forderungen der Marineschwärmer.
Vor Allem aber kann und darf das Proletariat eines nicht vergessen: daß die bürgerliche Majorität des Reichstags mit der Ablehnung der Zuchthausvorlage nur halbe Arbeit geleistet hat und nicht mehr. Sie hat einen beispiellos frechen Angriff der Scharfmacher gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter zwar zurückgeschlagen, fie hat jedoch nichts gethan, um dieses Recht sicherzustellen. Und daß die bürgerlichen Parteien ausnahmslos ebenso wenig fähig als gewillt sind, diese positive Aufgabe zu erfüllen, dafür spricht die Beurtheilung oder richtiger Verurtheilung, mit welcher schwarze wie rosenrothe und himmelblaue Politiker über den sozialdemokratischen Antrag herfallen, der die proletarische Koalitionsfreiheit von einer Der Antrag papiernen zu einer wirklichen Eristenz erwecken will. hat nicht einmal Gnade vor den Augen der sozialen Demokratie gefunden, deren Organe mit mühsam verhehltem Aerger vor dem ,, berechtigten Kern" der sozialdemokratischen Forderungen kniren, gleichzeitig aber die wichtigsten Bestimmungen des Antrags für unannehmbar erklären. Was soeben noch arbeiterfreundlich und