Es ist gewiß ein schönes Ding, daß junge Arbeiterinnen gemeinschaftlich ausgebildet, wirthschaftlich gut gestellt, mit dauernder Arbeit versehen und dabei noch in manchen nützlichen und angenehmen Dingen unterrichtet, daß sie zu Sittlichkeit und guten Sitten erzogen werden und dabei noch bis zum Alter von etwa 20 Jahren eine Er- sparniß von mindestens 1000 Mark gemacht haben sollen, die sie nur ihrer Arbeit verdanken. Aber unwillkürlich steigen bei den schönen Verheißungen einige Fragen und Bedenken auf: Wie soll es geschehen, daß die Mädchen die angegebene beträchtliche Summe erübrigen, während es doch sonst fleißigen Arbeiterinnen mit sehr bescheidenen Lebensansprüchen unmöglich ist, irgend welche auch nur nennens- werthen Beträge zu ersparen(die gute Agnes vom Stamme Eugen Richters ist allbekannt eine glänzende Ausnahme)? Ist die Lebenshaltung, die Ernährung im„Heim" so beschaffen, daß der junge, zu anhaltender Arbeit angespannte Organismus sich vollkräftig entfalten kann?— Ist eine Arbeitszeit von 10 bis 11 Stunden in der Fabrik in Verbindung mit dem am Abend ertheilten Unterricht nicht beängstigend viel und zu anstrengend für Mädchen in den Entwicklungsjahren? Für die Wahrung der Gesundheit der Mädchen tritt der Verein, bezw. das Kuratorium ein; auch wird seitens desselben Sorge getragen, daß die Sittlichkeit der jungen Mädchen in der Fabrik nicht gefährdet oder bedroht wird. Wenn nun die Fabrikleitung in der Beziehung ihren Verpflichtungen thatsächlich nachkommt, wie kommt es dann, daß die Spinnerei trotz Jnserirens in Zeitungen und der Vermittlung von Agenten nicht die genügende Arbeiterinnenzahl auftreiben konnte, wie d.„Bl. a. d. Ev. D." berichten? Sollte etwa der Lohn so niedrig sein, daß Arbeiterinnen, die ihr Leben außerhalb der Fabrik nach eigenem Geschmack regeln wollen, damit nicht auskommen können? Und dienen nicht die jungen„Schülerinnen" des Vereins dazu, die Löhne und vielleicht auch andere Arbeitsbedingungen auf einem den anderen Arbeiterinnen nicht zusagenden Stande zu erhalten? Herr Professor Zimmer sagt wörtlich:„Der bäuerliche Grundbesitz ist zu. klein, als daß man davon leben könnte, und so wird durch Arbeit in den Fabriken das Nöthige hinzu verdient; wie seiner Zeit die Eltern in den Fabriken gearbeitet haben, bis sie ihr Landgut aus den Schulden herausgebracht hatten, so gehen später wieder die Kinder in die Fabrik. Die Fabrikarbeit ist also mit der Landarbeit völlig verwachsen; das sind die gesunden Verhältnisse dieser Fabriken in kleinbäuerlichen Landstrichen." Es zeigt eine ganz eigenthümliche Ausfassung, um nicht zu sagen Verkennung der sozialen Verhältnisse, wenn die hier vorliegende Verquickung von Land- und Fabrikarbeit in der kapitalistischen Gesell- eme kleine ärmliche Hütte mitten in einem großen Hofe, welcher eingezäunt war. Aus einem der kleinen Fenster leuchtete ein bescheidenes Licht. Der Förster führte mein Pferd bis zur Freitreppe und pochte an die Thür. „Sogleich, sogleich!" erschallte drinnen eine zarte Stimme; das Geräusch von nackten Füßen wurde hörbar. Ein Riegel kreischte und ein Mädchen von zwölf Jahren, in einem Hemdchen, eine Laterne in der Hand, erschien auf der Schwelle. „Leuchte dem Herrn", sagte er zu ihm,„ich will indessen Euren Wagen unter ein Wetterdach schieben." Das Mädchen blickte mich an und kehrte in die Hütte zurück. Ich folgte ihr. Die Wohnung des Försters bestand aus einer Stube, verräuchert, eng und niedrig und war ohne andere Zimmer; ein zerrissener Schafpelz hing an der Wand. Auf einer Bank lag eine einläufige Flinte, und in der Ecke lag ein Haufen alter Kleider. Zwei große Töpfe standen bei dem Ofen. Auf dem Tische brannte ein Licht, trübe flackernd und halb verlöschend. Mitten in dem Zimmer hing eine Wiege, welche an dem Ende einer langen Stange angebunden war. Das Mädchen blies die Laterne aus, setzte sich auf eine kleine Bank und begann mit der rechten Hand die Wiege zu schwingen, während sie mit der Linken den leuchtenden Kienspan verbesserte. Ich schaute mich im Kreise um; das Herz that mir weh. Es ist nicht erheiternd, des Nachts in eine Bauernhütte zu kommen. Das Kind in der Wiege athmete schwer und schnell. „Du bist wohl allein zu Hause?" frug ich das Mädchen. „Ja", versetzte dieses kaum vernehmlich. „Bist Du die Tochter des Försters?" Sie nickte. schaft als„gesund" bezeichnet wird. Es ist doch bekannt, daß die verelendende kleinbäuerliche Bevölkerung, welche nebenbei der Fabrikarbeit nachgeht, einen verhängnißvollen Druck auf die Löhne ausübt. Fabrikanten verlegen deswegen mit Vorliebe ihre Betriebe in ländliche Gegenden, weil sie hier besonders billige„Hände" finden. Doch davon abgesehen finde ich in den vorstehenden Ausführungen einen seltsamen Widerspruch zu dem Wirken und Streben des Vereins. Dieser erkennt die Vortheile des genossenschaftlichen Betriebs in materieller wie ideeller Beziehung an, zeigt diese Vortheile anscheinend auch praktisch bestätigt durch Billigkeit der Lebenshaltung, die— wie oben angeführt— eine so große Ersparniß zur Folge haben soll. Das Ergebniß des sechs- bis achtjährigen Sparens nach angestrengter Arbeit aber soll in einem rentablen Großbetrieb angelegt werden, damit es zum Ankauf oder vielmehr als Anzahlung zur Erwerbung eines Landbesitzes dient, der nicht seine Besitzer nährt, so daß diese zur Fabrikarbeit gezwungen sind, um existiren zu können! Mir scheint übrigens, daß Leute, welche 10 bis II Stunden in der Fabrik gearbeitet haben, nur mit Ueberanstrengung ihrer Kräfte und auf Kosten ihrer Gesundheit noch die Arbeiten des bäuerlichen Betriebs verrichten können. Herr Professor Zimmer äußert seine Befriedigung darüber, daß dank der Thätigkeit des Vereins die nicht einheimischen Arbeiterinnen,„die sonst leicht über die Achsel angesehen werden und dadurch den Frieden stören", eine bessere soziale Stellung erhalten, d. h. geachtet werden; daß sie der evangelischen Kirchengemeinde sonntäglich einen Kirchenchor stellen, und daß nun für die Mädchen die Gefahr beseitigt wäre,„auf den Tiefstand sonstiger Fabrikmädchen hinab zu sinken". Angesichts dieser Aeußerungen bleibt mir nur die eine Erklärung: der für das Wohl der Arbeiterinnen so eifrig thätige Herr Professor hat aus persönlichem Verkehr Fabrikarbeiterinnen in Berlin und anderwärts wohl nicht kennen gelernt, sonst würde er nicht vom „Tiefstand" sonstiger Fabrikmädchen sprechen. Ich bin in Berlin wie in einigen anderen Großstädten mit solchen Mädchen näher bekannt geworden, und ihre sittliche Größe, ihr Seelenadel und ihre Bildung, die in stetem, ernstem Ringen selbständig und mühsam erworben war, haben mir hohe Bewunderung eingeflößt. Ich fand auch, daß die Arbeitsgenossen solche Mädchen stets respektvoll behandelten. Und wie können die Mädchen der Mühlenthaler Spinnerei für das verantwortlich gemacht werden, was sie erleiden mußten?—„Sie werden über die Achsel angesehen und stören dadurch den Frieden", dieser Satz ist beredt! Wäre ich an dem Orte evangelischer Geistlicher, ich hätte es für meine erste Pflicht gehalten, meine Gemeindekinder darüber zu belehren, daß es höchst unchristlich ist. Jemand über die Achsel anzusehen und echt pharisäisch sich zu Die Thür kreischte und der Förster trat mit gesenktem Kopfe über die Schwelle. Er nahm die Laterne vom Boden auf, trat an den Tisch und zündete das Licht an. „Sie sind doch des Kienspans nicht gewohnt?" sagte er, seine Locken schüttelnd. Ich blickte ihn an; selten hatte ich noch einen so schönen Mann gesehen. Er war hochgewachsen, breitschulterig und bewundernswerth gebaut. Unter dem nassen Leibhemd sah man seine mächtigen Muskeln hervortreten. Ein schwarzer, lockiger Bart bedeckte bis zur Hälfte sein ernstes, männliches Gesicht, unter dessen zusammengewachsenen, breiten Brauen die kleinen blauen Augen kühn hervorblickten. Er hatte die Arme in die Seite gestemmt und stand nun vor mir. Ich dankte ihm und frug nach seinem Namen. „Ich heiße Thomas, mit dem Beinamen.Murrkopfi", antwortete er. „Ah, Du bist der Trotzkops?" Mit gesteigerter Neugier blickte ich ihn an; von meinem Jermoley und Anderen hatte ich oft Erzählungen über den Förster „Murrkopf" gehört, welchen alle Bauern der Umgebung fürchteten wie das Feuer. Es gab nach ihren Worten keinen Zweiten auf der Welt, der ebenso wie er sein Handwerk verstanden hätte,„kein Bündel Reisholz läßt er einen forttragen und er erscheint zu jeder Zeit, mitten in der Nacht, wie der Schnee auf dem Haupte, und man kann ihm nicht Widerstand leisten, denn er ist stark und gewandt wie der Teufel. Mit nichts läßt er sich gewinnen, nicht mit Branntwein noch mit Geld! Auf keine Verlockung geht er ein. Wie oft haben ihm nicht schon die guten Leute das ewige Leben gewünscht, aber— er läßt sich zu nichts gewinnen."—
Ausgabe
9 (6.12.1899) 25
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