Nr. 7.
Die Gleichheit.
10. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3122) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mr. 2.60.
Mittwoch den 28. März 1900.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
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Inhalts- Verzeichniß.
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Um Freiheit und Kultur. Der Arbeitgeberparagraph der lex Heinze. Von Brutus. Wesen Die Untersuchung weiblicher Gefangenen.. und Entwicklung der Konsumgenossenschaft. Von Adele Gerhard. ( Schluß.) Aus der Bewegung.
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Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Frauenbewegung.
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Um Freiheit und Kultur.
Ein Kampf hat in den letzten Tagen im deutschen Reichstag getobt, so leidenschaftlich, so stürmisch, wie sich seinesgleichen noch nie in dieser Musteranſtalt parlamentarischen Wohlverhaltens abge= spielt hat. Das Kampfesobjekt waren der sogenannte Kunst- und der sogenannte Theaterparagraph der lex Heinze.
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Warum im Gesetzentwurf diese schmachvolle Zusammenkoppelung von Kunst und Literatur mit Kuppelei und Zuhälterthum? Weil wie wir schon beim ersten Auftauchen der Heinzerei betonten die Sittlichkeit die Maske ist, unter der die kulturhassende Reaktion die Freiheit der künstlerischen Entwicklung, die Freiheit des geistigen Lebens zu Knebeln hofft. Die fautschukartigen Bestimmungen, mit denen die genannten Paragraphen zur höheren Ehre einer vorgeblichen Sittlichkeit in Wirklichkeit der Furcht vor Wahrheit und Sittlichkeit operiren, ermöglichen die Erreichung dieses Zieles. Der aufgestellte Begriff dessen, was ohne unzüchtig zu sein das Schamgefühl gröblich verlegt"; der andere von dem„ Aergerniß erregenden Ausstellen oder Anschlagen an den Straßen, Pläzen oder anderen Orten", öffnet unbegrenzte Weiten, wo sich die Willkür und Deutungsfreudigkeit sittlichkeitsbeslissener, aber kunstunverständiger Polizeibehörden und Richter behaglich zu tummeln bermag.
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Allerdings erklären die katholischen und protestantischen Zeloten einer frankhaften, moderduftenden Sittlichkeitsauffassung, daß die Schärfe des Gesezes fürderhin nur die Zote, das Gemeine, Niebrige treffen solle und nicht die hohe, die reine Kunst". Aber es wäre mehr als eine Thorheit, es wäre ein unverzeihliches Ver brechen gegen die bedrohten Kulturgüter, wollte das deutsche Volk diesem gleißnerischen Beruhigungs- Eiapopeia glauben. Da sind die Erklärungen der Herren, um das süßsaure Gehabe, das heuch lerische Gefnire vor der„ reinen Kunst" Lügen zu strafen. Hat nicht seinerzeit Herr Spahn, ein Mitglied des Zentrums, Ibsen für unmoralisch erklärt, in dessen Schöpfungen doch eine ernſtere, tiefere Moral lebt, als in vielen dickleibigen, schweinsledernen Folianten von Kirchenvätern und Kirchengelehrten enthalten ist? Der Zen trümler Herr Roeren ist der Ansicht, daß es vom Standpunkt der Sittlichkeit aus zu begrüßen wäre, wenn manche Werke Suder manns verschwinden würden. Sein Bruder in Reaktion, Herr Rintelen, prägte gar mit herzerquickender Offenheit das Wort von ,, der Klassizität, die nicht fürs Volt ist", ein Wort, das die ganze Kulturfeindlichkeit des Besigenden und des Dogmengläubigen verräth. Bon all den wahrhaft barbarischen Aeußerungen zu schweigen, die zum Kapitel des+++ Nackten in der Kunst von Geschorenen und Gescheitelten gethan worden sind, und die von der rohesten Auffassung der Kunst, wie von dem gröbsten Begreifen der Sittlichkeit zeugen.
Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
Mit der Schärfe eines Scheinwerfers zeigt übrigens eine That, wohin die Herren steuern. Zentrümler und Konservative im holden Bunde haben den bei zweiter Lesung warm befürworteten Arbeitgeberparagraphen fallen lassen, die einzige werthvolle Be= stimmung der lex Heinze, die einzige, die geeignet war, thatsächlich eine Quelle der Prostitution einzudämmen. Warum? Um für diesen Paragraphen unwirksame Maßregeln gegen Kuppelei und Zuhälter und vor Allem um vermittelst des Kunst- und Theaterparagraphen die Knebelung des modernen Kunstlebens zu erschachern. Das Endziel Hebung der Sittlichkeit ist den Herren nichts, nach rückwärts alles!
die Bewegung
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Zurück darum mit der Kunst- und Kulturentwicklung ins Mittelalter, unter das Joch der Kirche, das ist es, was die Schwarzen um Roeren, wie die Schwarzen um Stöcker erstreben. Wie doch trumpfte Herr Gröber den sozialdemokratischen Antrag ab, daß die§§ 184 a und 184b auf fünstlerische Erzeugnisse und Darstellungen feine Anwendung finden sollten? Für uns ist es ganz egal, ob eine Darstellung künstlerisch ist oder nicht künstlerisch, wenn sie schamlos ist." Schamlos aber ist für die Heinzegarde alles, was nicht vor einem Sittlichkeitsbegriff besteht, der auf dem Profruftesbett katholischer oder protestantischer Orthodorie zusammengepreßt, gestreckt, gedehnt, kurz künstlich verkrüppelt worden ist und den lebendigen Menschen dem verknöcherten Glaubensartikel opfert.
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Im brünstigen Begehren nach einer Rückwärtsrevidirung der modernen Kulturentwicklung, nach der unumschränkten Herrschaft der Kirche der die Kunst als Werkzeug dienen soll, die Geister der Menschen zu knechten haften die tiefsten Wurzeln des bas nausischen Hasses gegen das Nackte in der Kunst und gegen die moderne Literatur. Gewiß, daß mancher Steinwurf, den der oder jener fromme Bilderstürmer gegen die marmorne Hoheit einer Venus von Milo schleudert, sich aus der Seelenstimmung des alten Betbruders erklärt, der ein junger Wüstling gewesen ist. Aber diese Seelenstimmung Einzelner, die aus der eigenen Unreinheit heraus nicht das Reine zu fassen vermögen, ist nicht allein und nicht in erster Linie die treibende Kraft des Kreuzzugs für verſittlichende Feigenblätter und Leibbinden, wie für verlogene Erzeugnisse einer Literatur für Backfische.
Die Dunkelmänner hassen in dem Nackten das Symbol der lebendigen Menschennatur, die sich auf die Dauer nicht durch das Dogma knechten ließ, die ihr Recht forderte und erkämpfte. Sie hassen in dem Nackten den vorwärtsdrängenden Geist, der im Fleische wohnt und das Menschliche gegenüber dem Kirchlichen heiligte und erhöhte. Der Haß der Kirche gegen das Nackte, ihr Wüthen gegen der„ Augen Lust" und des„ Fleisches Lust" kam erst mit der Rebellion des Geistes gegen die todte Sagung. Wie gut fand sich nicht die katholische Kirche bei den Fastnachtsspielen 2c. mit dem Fleische ab; wie wenig forderte es ihr Einschreiten heraus, daß Ladislaus II. beim Einzug in Wien von Dirnen in durchscheinenden Gewändern empfangen wurde, der gut katholische Karl V. beim Einzug in Brügge gar von nackten Freudenmädchen; wie vorurtheilslos bewunderten die feingebildeten, großen Päpste der Renaissance die Darstellung des Nackten durch die Kunst! Und eignete nicht dem vollsaftigen Luther eine sehr robuste Bewerthung des Fleisches und des Sinnlichen?
Die Dunkelmänner hassen in der modernen Literatur den modernen kritischen Geist, der ohne ehrfürchtige Scheu der Ueber