Nr. 19.

Die Gleichheit.

10. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3122) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 12. September 1900,

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

Inhalts- Verzeichniß.

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Der Parteitag zu Mainz  .-Zur Frauenkonferenz. Die Frauenkonferenz in Mainz  . Von Louise Zietz  . Zur Lage der Neuplätterinnen. Von Hans Marchwald. I.( Schluß.) Aus der Bewegung. Anträge der Genossinnen zur Frauenkonferenz in Mainz  . Feuilleton: Ane- Mette. Von Henrik Pontoppidan  .( Fortsetzung.)

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Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Gewerkschaftliche Arbeite­rinnenorganisation. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen.- Frauen­stimmrecht.Frauenbewegung.

Der Parteitag zu Mainz  .

Dem bevorstehenden Parteitag liegt ein reiches, fast über­reiches Arbeitsprogramm vor, das obendrein im Hinblick auf die Eröffnung des internationalen Kongresses zu Paris   spätestens bis Sonnabend Mittag bewältigt sein sollte. Daß dies thatsächlich der Fall sein wird, hängt wesentlich von der Breite der Bera­thungen über die einzelnen Punkte ab, die ihrerseits wieder durch mehr oder minder große Gegensätze in der Auffassung bedingt wird. Nun fehlt es sicherlich nicht an Berathungsgegenständen, über welche die Meinungen getheilt sind und sich im schroffen Ja und Nein gegenüberstehen. Allein der Verlauf der Parteiver­sammlungen, welche Stellung zu dem Parteitag genommen haben, wie die Erörterung der strittigen Fragen in der Presse lassen feine weit ausholenden, mit leidenschaftlicher Zähigkeit verfolgten Debatten vermuthen. Die Frage unserer Taktik bei den Landtagswahlen" ist bereits so eingehend erörtert worden, daß zum Für und Wider kaum neue, weittragende Gründe und langwährende Verhandlungen zu erwarten sind. Was aber unsere Stellung zur Verkehrs- und Handelspolitik" anbelangt, so ist ihr unseres Grachtens in breiteren Kreisen der Partei noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden. Eine sehr eingehende Erörterung ist deshalb kaum wahrscheinlich, troß der hohen Wichtigkeit der Materie, und trotz der Meinungsunterschiede, die zur Frage der Handelspolitik auf dem Stuttgarter   Parteitag und in Artikeln einzelner Parteigenossen zu Tage getreten sind.

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Die ausgiebigste Berathung wird vermuthlich Punkt 5 der Tagesordnung zu Theil werden: Die Organisation der Partei." Die wichtigste der Fragen, welche durch die möglich gewordene Reform unserer Organisationssatzungen angeschnitten werden, ist unseres Erachtens die: sollen geschlossene Vereine oder Vertrauenspersonen Träger des Parteilebens sein, mit anderen Worten, soll das Schwergewicht unseres Parteilebens in festen Organisationen oder in öffentlichen Versammlungen liegen?

Wir haben bereits in der leßten Nummer der Gleichheit" ausführlich die Gründe dargelegt, welche mit Rücksicht auf das Wirken und die Rechte der Frauen in der Partei für die bis­herige lose Organisationsform sprechen. Aber auch noch andere als die einschlägigen Erwägungen wenden sich unserer Mei­nung nach dagegen, den Schwerpunkt unseres Parteilebens aus der Volksversammlung in Vereine zu verlegen. Zunächst bedingen eine Reihe von Umständen- Macht der Behörden und des Unternehmerthums zur Chikanirung und Boykottirung der sozial­demokratischen Vereinsmitglieder 2c. 2c., daß feste Organisationen nie auch nur annähernd die Masse unserer Parteigenossen um­schließen werden. Unter Umständen können sogar sehr eifrige und

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

opferfreudige Parteigenossen nicht einer politischen Organisation angehören, ja ist die Gründung eines solchen in Orten unmöglich, wo wir eine gute Zahl von Anhängern besitzen. Geschlossene Vereine werden deshalb stets nur die Cadres unserer Partei bilden und nicht die Massen ihrer Gefolgschaft umfassen.

Vor Allem aber finden wir, daß die von manchen Seiten befürwortete ausschlaggebende Rolle der festen Organisationen im Gegensatz steht zu dem demokratischen Charakter unserer Partei, zu ihrem Wesen als Trägerin einer Massenbewegung, die eine Kulturbewegung im höchsten und vielseitigsten Sinne des Wortes ist. Das Leben einer Partei, die mehr als zwei Millionen Wähler zählt, der immer reichere, mannigfaltigere Aufgaben zufallen und zwar nicht blos auf politischem Gebiet, sondern im Bereich des gesammten sozialen, kulturellen Lebens- läßt sich nicht in den engen Rahmen fester, geschlossener Organisationen fassen, denen im günstigsten Falle Hunderttausende angehören. Und die Volks­versammlung, die für reif und würdig befunden wird, über die bürgerliche Gesellschaft, über die wichtigsten Vorgänge des poli­tischen und sozialen Lebens zu Gericht zu fizen, ihr Urtheil über eine ganze Welt- und Geschichtsauffassung abzugeben, sich für das sozialdemokratische Programm zu erklären: der kann man nicht die Mitentscheidung in Fragen des Parteilebens versagen. Unseres Erachtens steht es einer Partei wie der unseren nicht an, nach bewährten Mustern der Eintheilung der Massen in begeistertes, von den edelsten Gefühlen getragenes Volt" und rohen, stumpf­finnigen Böbel" die Volksversammlungsbesucher einmal zu bewerthen als überzeugte Parteigenossen"," klassenbewußte Proletarier, die berufen sind, eine neue Welt aufzubauen", dann aber als eine zusammengelaufene Volksversammlung", der die Berechtigung vor­zuenthalten ist, einen Delegirten zum Parteitag zu wählen.

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Gewiß, daß das Uebergewicht der Volksversammlung über die geschlossene Organisation in unserem Parteileben mancherlet und nicht leicht zu nehmende Unzulänglichkeiten zeitigt. Allein die­selben dünken uns geringer wie die Vorzüge des jetzt geltenden Organisationssystems. Wir sind überzeugt, daß die Frische, Ela­stizität, ſtrogende Gesundheit und Kraft unseres Parteilebens ganz wesentlich mit auf die Rolle der öffentlichen Versammlung innerhalb desselben zurückzuführen ist. Daß die lose Organisations­form, die feste, innere Geschlossenheit und Schlagfertigkeit der Partei nicht geschädigt, ihre materielle Leistungsfähigkeit nicht beein­trächtigt hat, beweist unserer Ansicht nach die Geschichte der sozial­demokratischen Bewegung. Allerdings gilt auch in dieser Beziehung das Wort: Das Bessere ist des Guten Feind." Wir glauben jedoch nicht, daß die Uebertragung der Parteigeschäfte auf ge­schlossene Vereine die mancherseits prophezeite große Stärkung der Parteiorganisation mitsammt der bedeutenden Steigerung ihres materiellen Leistungsvermögens zur Folge haben würde.

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In der Frage der Weltpolitif" dürften kaum tiefe gegen fäßliche Auffassungen sich äußern. Handelt es sich doch unserer Ansicht nach nicht darum, sich mit einer im luftleeren Raume theoretischer Spekulationen schwebenden Welt- oder Kolonialpolitik ,, an und für sich" zu befassen. Es gilt vielmehr Stellung zu nehmen zu der sehr konkreten Weltmachts- und Weltraubpolitit, wie sie der Kapitalismus in dem gegenwärtigen Stadium seiner Entwicklung in allen großen sogenannten Kulturstaaten treibt. Un­zweifelhaft herrscht Einmüthigkeit darüber, daß die Sozialdemokratie in scharfer grundsäßlicher Feindschaft der abenteuerlichen Weltpolitik