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dernde Umstände zugebilligt werden mußten, der allenfalls sanft­bäterlichen Tabel verdiente, aber feineswegs gebieterisch strengste Sühne heischte. In fast überströmender Dankbarkeit drückten die Herren Allen voran Lieber die Finger der Regierung, die nach Munckels mannhaftem Ausspruch durch die zusammengefochtene Summe beschmutzt" waren. Ihr kapitalistisches Empfinden und Denken ließ das alte Wort vergessen: Wer Pech angreift, be= sudelt sich." Das kapitalistische Klasseninteresse fordert Knebelung der auffässigen Proletariermassen um jeden Preis, fordert eine reaktionäre Sozialpolitik. Es erschlägt die Unparteilichkeit des Staates, die Würde und das Solidaritätsgefühl der Beamten, das Sittlichkeitsempfinden der durch Besiz und Bildung einflußreichen

Kreise".

Denn über den politischen Verfall der bürgerlichen Parteien hinaus zeigen die Reichstagsdebatten über Khatiwahnwiß und reichs­amtliche Klingelbeutelpolitik den Verfall der Sittlichkeit und Kultur der herrschenden Klassen. Von der bürgerlichen Welt wird der ekle Verwesungsgeruch des wieder verschlossenen Steletts im Schranke nicht empfunden, weil ihre gesammte Atmosphäre erfüllt ist von den widerlichen Miasmen einer modrigen, faulenden Sittlichkeit, einer verfallenden Kultur. Die Rohheit, Barbarei, Ungerechtigkeit, Kulturwidrigkeit der Weltmachtspolitik gelangt der bürgerlichen Welt nicht zum qualvollen Bewußtsein, weil ihre gesammte Atmosphäre schwer ist von Rohheit, Barbarei, Ungerechtigkeit, Kulturwidrigkeit gegenüber den Massen der Enterbten, weil ihre Sittlichkeit sich nicht emporgeläutert hat zur Sittlichkeit des gleichen Rechts für alle, weil ihre Kultur das Privilegium ist einer Minderheit, keine Kultur für Alles, was das Menschenantlig trägt.

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Mit der gewaltigen Kraft einer reinen, starken Ueberzeugung hat die Sozialdemokratie der verfallenden bürgerlichen Sittlichkeit und Kultur die Sittlichkeits- und Kulturideale des aufsteigenden Proletariats entgegengestellt. Ich bin ein Kämpfer der Wahr­heit", so konnte Bebel leidenschaftlich- stolz Denen erwidern, welche seine wuchtigen Anklagen durch das alberne Mäßchen von der ver­dienten Borerführerschaft" zu verkleinern suchten. Wir sind Wir sind Kämpfer der Wahrheit, Kämpfer für echte Sittlichkeit und Kultur" so tönt es aus den Reden Auers, Singers, Schönlants, so tönt es aus dem Proteste Aller, welche die hunnische Eroberungspolitik und die korrupte Sozialpolitik an den Schandpfahl der Geschichte schlagen. Neuland! das ist der trostreiche Ausblick, der sich den Kultursehnsüchtigen über den Verfall der herrschenden Klassen hinweg aus dem Entwicklungsgang des kämpfenden, vorwärtsdrängenden Proletariats eröffnet.

,, Wandlungen

Von Tily Braun.

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Unter diesem Titel veröffentlicht Frl. Maria Lischnewska in Nr. 21 der Frauenbewegung" einen Artikel, der sich mit der Mainzer Frauenkonferenz befaßt und in beredten Worten der Genugthuung der Frauenrechtlerinnen über die Wandlungen" innerhalb der Partei Ausdruck giebt, Wandlungen, die nun auch innerhalb der sozial­demokratischen Frauenbewegung vor sich gegangen seien. In ihren Auseinandersetzungen legt sie ein so unzweideutiges Zeugniß für ihre völlige Unkenntniß der grundlegenden Prinzipien des Sozialismus einerseits und der Stellung der sozialdemokratischen Frauen gegen­über den Meinungsverschiedenheiten in der Partei andererseits an den Tag, daß ich nicht umhin kann, etwas zu ihrer Belehrung bei­zutragen.

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,, Die revolutionäre Idee des Klassenhasses, die Forderung des Umsturzes alles Bestehenden und das phantastische Traumbild eines Zukunftsstaats" das ist, so meint sie, das Programm der alten Richtung, das immer mehr verblaßt und dem das sieghafte der jungen gegenübersteht:" Nicht Umsturz, sondern soziale Reform durch ge­seßliche Maßnahmen; nicht Klassenhaß, sondern nüchterne Verständigung und fluges politisches Verhandeln von Macht zu Macht; nicht ein phantastisches Traumbild, sondern das ehrliche Zugeständniß, daß die Emporentwicklung der Arbeiterklasse sehr wohl auf dem Boden ganz ebener Realitäten möglich sei." Eine ähnliche Auffassung etwas weniger konfus hat die bürgerliche Presse bisher auch mit Vorliebe verbreitet; man glaubt so gern, was man glauben möchte, und mit dem Glauben an den Sieg der also konstruirten jungen Richtung in der Partei fallen den ängstlichen Bourgeoisgemüthern,

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nur

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die in ihren Träumen schon Barrikaden und Guillotinen sehen, Zentner­lasten von der Seele:" Seht doch, ihr lieben Philister hinterm Ofen, es ist gar nicht so schlimm; mit ein Bischen Sozialreform, ein Bischen Zuckerbrot alle Tage sind ja die Kinderchen ganz zufrieden."

Das Publikum aber, das alle seine Weisheit von dem Herrn Redakteur empfängt, vertraut ihm blindlings und trägt seine Phantasie­bilder fröhlich weiter in die Welt. In Wirklichkeit aber sieht die Sache ganz anders aus.

Kein Sozialdemokrat, auch nicht der Jüngste der Jungen, hat noch die grundlegenden Jdeen des Sozialismus verleugnet oder aus der Welt zu schaffen gesucht. Jeder weiß, daß der Klassenkampf nicht aus den Hirnen einiger Leute hervorgewachsen ist und nicht gepredigt" wird, wie eine metaphysische Glaubenslehre, sondern daß er ein nothwendiger Bestandtheil der kapitalistischen Gesellschafts­ordnung ist und sein Dasein von uns nur konstatirt wird. Frl. Lisch­newska kann ich sogar im Vertrauen verrathen, daß eine ganze An­zahl gelehrter Männer, die durchaus keine Sozialisten sind, vom Klassenkampf reden als von etwas Feststehendem. Der Unterschied besteht nur darin, daß wir in ihm ein Mittel des Fortschritts sehen, während Jene ihn vielfach wie eine unselige Krankheitserscheinung betrachten. Den bürgerlichen Frauen aber, die meist mit soviel falscher Sentimentalität ausgestattet sind, daß sie alles gesunde Ge­fühl darunter begraben, ist schon der Name Kampf, Klassenkampf zuwider. Sie möchten auch dagegen eine internationale Friedensbewe­gung in Szene setzen und würden selig sein, auf einem anderen Haager Kongreß den Frieden zu beschließen! Aber ebenso, wie nach ihm die zivilisirtesten Nationen in Hunnenkriegen schwelgen, so würde der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie weiter wüthen. Ich sage absichtlich wüthen", denn es ist ein wilder Kampf, der viele Opfer fordert, ein Kampf, dessen Schrecken uns tief in die Seele schneiden und von dem wir nichts wünschen, als daß er schnell beendet sein möchte! Darum rufen wir unablässig Alle zu den Waffen, darum ist die Organisation des Proletariats der ganzen Welt unser wichtigstes Ziel, weil wir wissen, daß nur das geeinte Proletariat siegen und diesen Greueln, unter denen die ganze Menschheit leidet, ein Ende machen kann. In diesem Sinne ver­treten wir, wir Alle und, Frl. Lischnewska, das sage ich mit einer Gewißheit, als hätte ich jeden Einzelnen aus dem Kreis der Alten" und der" Jungen" gefragt- auch die revolutionäre Idee des Klaſſenhasses". Oder sollten wir der armen Mutter, die ihr Kind unter dem Herzen schon dem Tode weihen muß, die es seine Jugend dem Kampf ums Dasein opfern sieht, predigen, daß sie diese Gesell­schaftsordnung und die Klasse, die sie trampshaft aufrecht erhält, lieben soll? Oder sollten wir all den anderen Millionen Opfern des Klassenstaats, den Männern und Frauen, die in dauerndem Elend die Güter schaffen, in denen ihre Unterdrücker schwelgen, den unglück­lichen Mädchen, die, in schlimmerer Lage als die Sklaven, sich selbst verkaufen, Liebe predigen?!

Und nun der Umsturz"! Wenn die Verfasserin der Wand­lungen" unsere ersten Vorkämpfer, die Mary und Engels, gelesen, unsere Parteiverhandlungen, die Reden unserer Führer auch nur oberflächlich studirt hätte, so würde sie wissen, daß wir in dem von ihr beliebten Sinne niemals vom Umsturz gesprochen haben, sondern daß es nur unsere Gegner waren, die ihm jenen Sinn unterlegten, weil sie dadurch den deutschen Michel zwingen wollten, sich die Ketten großer und kleiner Sozialistengesetze anzulegen. Noch ehe von Jenen um Bernstein" die Rede war, hat die Sozialdemokratie den Weg gesetzlicher Maßnahmen beschritten, hat zum Beispiel eine sorgfältig ausgearbeitete Arbeiterschutzgesetzgebung dem Reichstag vorgelegt, und hat sich bekanntlich sogar Bismarcks Lob zugezogen, der ehrlich ein­gestand, daß ohne die Sozialdemokraten auch das Bischen Sozial­reform im Deutschen Reiche nicht bestände. Andere Staatsmänner haben sich nicht gescheut zuzugestehen, daß Deutschland nur deshalb so frei sei von anarchistischen Attentaten und Arbeiterkrawallen, weil die Sozialdemokratie eine solche Macht habe im Lande. Auch was den Umsturz" betrifft, sind Alte und Junge einig: sie Alle wollen auf gesetzlichem Wege die Umwandlung der kapitalistischen Produktions­weise in die gesellschaftliche herbeiführen und sehen hierin mit Recht den völligen Umsturz des Bestehenden. Wer offne Augen hat, der sieht schon heute, daß wir, dank der Sozialdemokratie, mitten im Umsturz drinstehen. Wer ihn aber als nothwendige Folge unseres Vorschreitens ansieht, der kann auch den Zukunftsstaat, in den wir täglich mehr hineinwachsen, nicht leugnen. Nicht wir, sondern unsere Gegner sind es von jeher gewesen, die, wie Frl. Lischnewska sagt, " phantastische Traumbilder" von ihm entwarfen. Wir stehen viel zu fest auf realem Boden, als daß wir ihn schildern wollten, ja, wir wissen sogar, daß, wenn sich einmal jener Umsturz vollzogen hat, für die Menschheit eine schwere Aufgabe erst beginnen wird: die Selbst­erziehung in neuen Lebensformen und Bedingungen.