Nr. 3.
Die Gleichheit.
11. Jahrgang.
Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2978) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 30. Januar 1901.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Inhalts- Verzeichniß.
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Nothwendige Ergänzung. II. Zur Erhebung über die gewerbliche Kinderarbeit. Von Henriette Fürth . Die radikalen Frauenrechtlerinnen und das Frauenwahlrecht in der Gemeinde. Aus der Bewegung. Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Weibliche Fabrikinspektoren. Frauenarbeit auf dem Gebiete der Industrie, des Handels und Verkehrswesens. Gesundheitschädliche Folgen industrieller Frauenarbeit. -Soziale Gesetzgebung. Dienstbotenfrage. Kellnerinnenfrage.- Frauenbewegung. Abrechnung der Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands .
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Nothwendige Ergänzung. E
II.
Der Entwicklungsprozeß, welcher die Familie als feste wirthschaftliche Grundlage für die Eristenz der Frau zerstört, nimmt gleichzeitig der Familie und der Frau. Wie die kapitalistische Ausbeutung bewirkt, daß die proletarische Frau ihrer Familie nicht genügend zu sein und für sie nicht alles zu leisten vermag, was Herz und Pflicht gebieten, so bedingt sie auch andererseits, daß die proletarische Familie immer mehr außer Stand gesetzt wird, ihren weiblichen Angehörigen in den Tagen der Bedrängniß und Hilfsbedürftigkeit Pflege und Schuß zu gewähren. Am empfindlichsten wird die Frau dadurch gerade in den Zeiten getroffen, wo sie im Hinblick auf ein zweites Leben der Rücksichtnahme und Fürsorge besonders bedarf: in den Zeiten der Schwangerschaft und des Wochenbetts, in den Zeiten, wo die Mutter in erster Linie ihrem Kinde gehören müßte. Alles, was die Proletarierin in diesen Tagen entbehren muß, weil ihre Familie ohnmächtig ist, den erforderlichen Beistand zu gewähren, das trifft über die Person der Frau hinaus das Kind im Mutterschoße, den Säugling. In der schutzbedürftigsten Zeit sind Mutter und Kind schußlos!
Schwangerschaft und Mutterschaft verbürgen in der Regel ber Proletarierin fein höheres Maß an Pflege und Schutz, sondern im Gegentheil: ein Anwachsen der Arbeiten, Sorgen und Entbehrungen. Die zeitweilige Erwerbslosigkeit der Frau, die durch das Wochenbett bedingten Mehrausgaben, die Inanspruchnahme von Zeit und Mitteln durch die Säuglingspflege: verschlechtern ja die Lage der Familie und machen sie dann am leistungsunfähigsten, wenn ihre Leistungen am nöthigsten und bedeutsamsten sind.
Bis zur letzten Minute vor ihrer schweren Stunde und weit früher als der Organismus wieder genügend gekräftigt ist, muß die proletarische Schwangere und Wöchnerin hart schaffen, wenn nicht als Arbeiterin in der Fabrik, so als Hausfrau im ärmlichen Heim, in zahlreichen Fällen hier und dort zusammen. Nicht vorhanden ist für sie, was die Wissenschaft an Maßnahmen und Hilfsmitteln zum Schuße des weiblichen Körpers in dieser Zeit fordert und bietet. Unkenntniß über den Bau und die Funktionen des Körpers, über die nothwendige Hygiene, jämmerliche Wohnungsverhältnisse und Mangel an Mitteln wirken zusammen, um die Gefahren des Wochenbetts für die Proletarierin zu steigern und ihr nur ein Minimum von Pflege zu sichern. Unter welch ungün stigen, oft geradezu furchtbaren Verhältnissen Schwangerschaft und Wochenbett der ledigen Mutter stattfindet, darauf sei nur hingewiesen.
Todter Buchstabe bleibt ebenfalls, was die Wissenschaft vorschreibt, um eine gedeihliche Entwicklung des Kindes vor der Geburt
Zuschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Zetkin ( 8undel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
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und im Säuglingsalter zu fördern. Das Kind, dessen Gesundheit durch die Ueberanstrengungen und Entbehrungen der Mutter ge= schädigt worden ist, noch ehe es in diese beste aller Welten" tam, erhält nur selten die natürliche Nahrung. Die elenden Bedingungen, unter denen die Proletarierin heranwächst, rauben ihr nur zu oft die Fähigkeit, stillen zu können. Und wo dies nicht der Fall ist, da reißt die Noth den Säugling von der nährenden Mutterbruſt, denn sie peitscht die Frau in die Fabrik oder Werkstatt, kaum daß sie das Wochenbett überstanden. Um aber die künstliche Ernährung des Kindes ohne die ihr anhaftenden Gefahren durchzuführen, dazu mangelt der Proletarierin meist nicht mehr als alles. Es fehlt ihr an Mitteln, die beste Milch und die Sterilisirungsapparate zu faufen, es mangelt ihr die Zeit, der Aufpäppelung des Kleinen die nöthige Sorgfalt zu widmen, es gebricht ihr an den Kennt nissen, um die volle Bedeutung der peinlichsten Sauberkeit, der Gesammtheit all der hunderterlei kleinen Maßregeln und Handgriffe zu würdigen, welche die Rücksicht auf die günstige Entwicklung des Kindes gebietet. Die wenigsten Familien sind im Stande, dem Kinde für die entzogene mütterliche Pflege und Behausung auch nur annähernden Ersatz zu beschaffen. Aeltere Geschwister, die oft noch nicht das schulpflichtige Alter erreicht haben, alte, gebrechliche Anverwandte, die wieder kindisch werden und selbst pflegebedürftig sind, gutmüthige Nachbarinnen, die hin und wieder einen Blick auf die Wiege werfen: das sind die Schutzengel" des proletarischen Säuglings. Der ekelhafte Lutschbeutel, wenn nicht gar Opiate spielen als Mittel der Aufziehung ihre verhängnißvolle Rolle. Kurz, Mutter und Kind sind aller Unbill der sozialen Verhältnisse und damit den schwersten Schädigungen preisgegeben. Auch in dieser Hinsicht muß die Gemeinde zum Schuße von Mutter und Kind eingreifen. Es gilt ihrerseits Anstalten und Einrichtungen zu schaffen, welche der Schwangeren und Wöchnerin die günstigsten Umstände für ihr körperliches und moralisches Wohlbefinden bieten; es gilt ihrerseits Anstalten und Einrichtungen zu schaffen, welche dem Säuglinge mustergiltige Entwicklungsbedingungen sichern.
Ueberschaut man die Verhältnisse, welche wir heute und in dem vorangehenden Artikel charakterisirt haben, so ergiebt sich ein reiches, vielseitiges Programm von Reformen, welche zu Gunsten der erwerbsthätigen Frauen als Hausfrauen und Mütter, welche zu Gunsten der Kinder von der Gemeinde gefordert werden müssen: kommunale Volksküchen und Speisehallen; kommunale Wasch- und Trockenhäuser; kommunale Vorschriften für die Anlage von Zentralbeheizung und-Beleuchtung der Häuser, für praktische und hygie nische Ausgestaltung der Wohnungen, bezw. Uebernahme der Beleuchtungs- und Beheizungsanlagen durch die Gemeinde; Schulkantinen, Spielpläge und Spielfäle, wo die Kinder sich innerhalb der Schulstunden unter geeigneter Aufsicht tummeln können; Ferienkurse, Ferienhorte und Ferienkolonien; Krippen, Kleinkinderbewahranstalten und Kindergärten; Entbindungsanstalten, Wöchnerinnenheime, Wöchnerinnen- Hauspflege; Beschäftigungsanstalten für stillende Mütter; Versorgung mit guter Kindermilch, Kurse für Säuglingspflege 2c. 2c.
Es liegt auf der Hand, daß diese Reformen und andere noch, welche in der gleichen Richtung liegen, nicht schablonenmäßig von jeder Gemeinde geheischt und durchgeführt werden können. Welche Neuerungen und Einrichtungen zunächst zu erstreben sind, darüber entscheidet das vorliegende lokale Bedürfniß, das wird durch die Verhältnisse bestimmt, welche die wirthschaftliche und soziale Ent