Nr. 5.

Die Gleichheit.

11. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2978) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 27. Februar 1901.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

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Inhalts- Verzeichniß.

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An das werkthätige Volk! An die Genossinnen! Umfang und Be­dingungen der gewerblichen Kinderarbeit. Von H. Fürth. Aus der Bewegung. Erster Bierteljahrsbericht der Vertrauensperson der Ge­nofsinnen Deutschlands  . Feuilleton: Multatuli  . Von M. W. Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Weibliche Fabrikinspektoren. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Soziale Gesetzgebung. Genossenschaftsbewegung. Sozialistische Frauenbewegung im Aus­lande. Frauenbewegung.

An das werkthätige Volk!

Unter Führung des Junkerthums, der rückschrittlichsten Schicht des Volkes, ist es den Agrariern gelungen, die Mehrheit der deutschen Regierungen für eine wesentliche Erhöhung der Getreide­zölle zu gewinnen. Bei dem bevorstehenden Abschluß der Handels­verträge sollen sehr erheblich erhöhte Getreidezölle zur Geltung kommen, vorausgesetzt, daß die auswärtigen Staaten solche Be­dingungen sich bieten lassen.

Im Zusammenhang mit der geplanten, sehr wesentlichen Er­höhung der Getreidezölle soll eine Erhöhung der Zölle auf alle übrigen Erzeugnisse der Landwirthschaft( Vieh, Fleisch, Butter, Eier, Käse u. s. w.) herbeigeführt werden. Ja, selbst Produkte, die bisher von Zöllen noch befreit waren, zum Beispiel Obst, Ge­müse, Kartoffeln, sollen der agrarischen Habgier zum Opfer fallen und ebenfalls durch Zölle vertheuert werden.

Eine Erhöhung der Zölle bewirkt aber eine entsprechende Erhöhung des Preises der betreffenden im Inland erzeugten Lebens­mittel. Diese Preissteigerung ist der Zweck der Zölle.

Es handelt sich also um eine starke Bertheuerung der noth­wendigsten Lebensmittel für die großen Massen, die den Einzelnen um so härter trifft, je kleiner sein Einkommen und je größer die Kopfzahl seiner Familie ist.

Die von den Junkern und ihrer agrarischen Gefolgschaft verlangte Erhöhung des Getreidezolls treibt aber den Inlands preis des Roggens weit über den im Jahre 1895 durch den Antrag Kanit verlangten Durchschnittspreis von 165 Mt. pro Tonne Roggen hinaus und macht für Viele, besonders bei ungünstigen Ernten, das Brot, das nothwendigste Lebensmittel, zu einem unerschwinglichen Lurusartikel!

Den Hauptvortheil von dieser Plünderung der Arbeiterklasse und der kleinen Leute hat nur eine verhältnißmäßig geringe Zahl großer Grundbesitzer, wohingegen der Vortheil der mittleren Grund­besiger nur geringfügig ist, die kleinen Bauern aber nicht nur feinen Vortheil, sondern selbst Schaden haben.

Das Einkommen aus der erhöhten Verzollung der nothwen­digsten Lebensmittel wächst, je größer die landwirthschaftliche Fläche ist, die bewirthschaftet wird. Sie bringt den Großgrund­besitzern pro Kopf viele Tausende und selbst Zehntausende Mark im Jahre ein.

Im Jahre 1895 erklärte der deutsche Kaiser gegen den Antrag Kanit: Man kann mir nicht zumuthen, Brotwucher zu treiben", und jetzt erklärt der erste Beamte des preußischen Staates und des Deutschen Reiches, der Reichs: fanzler Graf von Bülow, im preußischen Abgeordnetenhause unter dem Beifallssturm der Junker und Junkergenossen: Die preußische Regierung werde für eine ausreichende Er­höhung der Getreidezölle eintreten.

Wo bleibt da die Konsequenz?

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blunien­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Wo bleibt die so oft berufene Fürsorge für die arbeitenden Klassen?

Den Lebensmittelwucher gesetzlich zu sanktioniren und zu or­ganisiren, ihm die Masse des Volkes tributpflichtig zu machen, soll nach der Absicht der Junker und Junkergenossen fortan eine der hauptsächlichsten Aufgaben des Staates sein derselben Junker und Junkergenossen, die jede Steuererhöhung, die sie selbst trifft, als eine Vermögenskonfiskation brandmarken. Aber das werkthätige Volk, das nur das Nothwendigste besitzt, soll abermals vom Nothwendigsten geben, damit Jene in behäbiger Zufriedenheit und selbst im Ueberfluß leben

können.

Was wird aber die weitere Folge sein, wenn solche Bestre­bungen zum Siege gelangen?

Die unvermeidliche Vertheuerung der Lebensmittel durch die Zölle bedeutet nicht die einzige Gefahr. Bei der Einführung höherer Lebensmittelzölle können nur ungünstige Handelsverträge abgeschlossen werden; Handel und Industrie würden unter diesen ungünstigen Verträgen oder gar bei dem Eintritt von Zollkriegen fahr, erwerbs- und brotlos zu werden; auf alle Fälle aber erlitte aufs Schwerste leiden; Hunderttausende von Familien liefen Ge­die gesammte werkthätige Bevölkerung eine erhebliche Verschlech terung ihrer Lebenslage, und sie würde in dieser Zeit der herein­brechenden Krise, des Kohlenwuchers und der Wohnungsnoth mit doppelten Ruthen gepeitscht.

Der Brot und Lebensmittelwucher hat, so lange es noth leidende Menschen giebt, alle Zeit als eine der schlechtesten, und so lange es ein Christenthum giebt, als eine der unchristlichsten Handlungen gegolten.

Und für diesen Lebensmittelwucher treten dieselben Leute ein, die dem Volke beständig empfehlen, zu beten: Unser täglich Brot gieb uns heute.

Mit der Erhöhung der Lebensmittelzölle ist aber auch ein politischer Zweck verbunden.

Das Junkerthum soll als herrschende Klasse erhalten bleiben, dieses Junkerthum, das alle Zeit unfähig war, aus eigener Kraft zu existiren, das aber seit Jahrhunderten an der Staatskrippe sitzt und alle Zeit die fettesten Posten in Armee­und Staatsverwaltung in seinen Händen hatte. Der Zusammen­bruch dieses Junkerthums würde einen Triumph des werkthätigen Volkes bedeuten, und der soll um jeden Preis verhütet werden.

Männer und Frauen des werkthätigen Volkes! Oeffnet die Augen, erkennet die Gefahr und wehrt Euch!

Geht in die Versammlungen, zu denen Ihr berufen werdet, agitivt in Fabriken und Werkstätten, kämpft auf jede Weise gegen die Euch drohende schwere Schädigung Eurer Existenz!

Die später an Euch gelangenden, dem Reichstage einzu­reichenden Protest Resolutionen müssen Millionen Unterschriften erhalten, insbesondere auch die der Frauen, die als Verwalte­rinnen des Hauswesens jede weitere Vertheuerung der Lebens­mittel am schwersten empfinden.

Nur wenn Ihr millionenfältig Eure Stimmen erhebt, könnt Ihr das geplante Attentat verhindern.

Nieder mit dem Brot- und Lebensmittel­wucher!

Nieder mit der Junker- und Agrarier­herrschaft!

Auf zur That!

Berlin  , den 9. Februar 1901.

Die sozialdemokratische Fraktion des deutschen   Reichstags.