Nr. 6.
Die Gleichheit.
11. Jahrgang.
Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.
Die„ Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2978) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.
Mittwoch den 13. März 1901.
Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.
Inhalts- Verzeichniß.
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Aus der
Ein Attentat auf die Familie. Die Fabrikarbeit verheiratheter Arbeiterinnen in Preußen. Von D. Zinner- Winterthur . I. Bewegung. Feuilleton: Multatuli . Von M. W.( Schluß.) Notizentheil von Lily Braun und Klara Zetkin : Weibliche Fabrikinspektoren. Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Frauenstimmrecht.- Sozialistische Frauenbewegung im Auslande.- Frauenbewegung.
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Ein Attentat auf die Familie. E
Die Sozialdemokratie zerstört die Familie. Auf zum Schuze des bedrohten heiligen Kulturgutes!" Wer kennt sie nicht, die altvertraute Kampfeslofung, welche die gottesfürchtigen Zentrümler und die nicht minder frommen Konservativen unter salbungsvollem Augenaufschlag mit Vorliebe erschallen lassen, wenn sie mit ihrem sonstigen sozialpolitischen, moralischen und religiösen Mönchslatein gegen die " Umstürzler" zu Ende sind. Daß die Fürsorge der Herren für die Familie ebenso heuchlerisch, als ihre Verdächtigung der Sozialdemo fratie erlogen ist, erweist mit herzerfrischender Deutlichkeit eine Thatsache mehr: Es sind gerade die patentirten Schüßer der Familie im Zentrum und im konservativen Lager, welche in unseren Tagen zu Nuz und Frommen des profit- und machtgierigen Junkerthums für die Erhöhung der Getreidezölle fämpfen. Was aber bedeuten die begehrten Wucherzölle in ihrer Rückwirkung auf die Verhältnisse der Arbeiterklasse, der kleinen Leute anders, als ein Attentat auf die Familie? Man vergegenwärtige sich, welch verhängnißvollen Einfluß die Vertheuerung des Brotgetreides auf die Haushaltung der proletarischen Habenichtse, der wenig oder gar Schulden besitzenden Handwerker, Unterbeamten, Lehrer, Kleinbauern 2c. ausübt. Klar tritt dann in Erscheinung, wie schwer die Erhöhung der Getreidezölle durch die unausbleibliche Verschlechterung einer ohnehin schon jämmerlichen oder dürftigen Lage die Familie bedroht und erschüttert.
Allerdings: die Brotwucherer und ihre Handlanger bestreiten, daß das Hinaufschrauben der Zollsäge auf Getreide die Lage der armen und kleinen Leute ganz wesentlich verschlimmert, ihnen harte Entbehrungen, wohl gar den nackten Hunger ins ärmliche Heim führt und bittere Sorgen noch obendrein. Aber diese Ableugnungsversuche sprechen nur dafür, daß die zum Beutezug gegen das Bolt gerüsteten Raubritter sich der Gemeingefährlichkeit ihres schmachvollen Treibens bewußt sind.
Wie hart schon die jetzt geltenden Getreidezölle den proletarischen Haushalt belasten, und wie jede Erhöhung derselben die Bürde zu einer unerträglichen steigern muß, das zeigt in trostloser, erschreckender Klarheit ein Blick auf Wirthschaftsbudgets in der Arbeiterklasse. Die sehr sorgfältige Untersuchung Gertrud Dyhrenfurths:„ Die hausindustriellen Arbeiterinnen in der Berliner Blousen-, Unterrock-, Schürzen- und Trikotkonfektion" enthält z. B. auf S. 87 die folgenden lehrreichen Angaben. Eine Konfektionsarbeiterin muß als junge Witwe sich und ihren elfjährigen Sohn allein durch ihre Arbeit ernähren. Die Auslagen für Strutt, Del, Nadeln, Maschinenabnußung, Pferde bahn 2c. abgerechnet, beläuft sich ihr Jahreseinkommen netto auf 366 Mt. Die Frau befindet sich in der„ glücklichen Lage", diese Riesensumme mit ihrem Sohne zusammen verschlampampen" und in Puz und Tand" aufgehen lassen zu fönnen. Sie besitzt
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Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Zetkin ( 3undel), Stuttgart , BlumenStraße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.
nämlich aus„ besseren Zeiten" noch eine Zimmereinrichtung und kann ihre Wohnungsmiethe durch Aftervermiethung decken. Die Ausgaben für die Ernährung von Mutter und Kind stellen sich in den Wintermonaten wöchentlich auf ganze sechs Mart. Die Arbeiterin verausgabte für:
100 Stück Kohlen. Kleine Steinkohlen
3 Liter Petroleum
Schwarzbrot
Weißbrot
1 Pfund Fett( Butter sehr selten)
10 Liter Kartoffeln
Gemüse und Gegräupe.
1 bis 2 Mal wöchentlich Knochen zum Auskochen Sonntags ein halb Pfund Fleisch Salz
, Schweden , Anzündholz, Stiefelwichse. Auslagen für Wäsche.
Kaffee.
Milch, pro Tag ein halb Liter
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Summa 6 Mr.
, Hier ist keine Butter, kein Ei, Mehl, Zucker, nichts für Bier und Belag angefeßt, nichts für Ergänzungen und Reparaturen im Haushalte, Auslagen, die selbst bei den bescheidensten Ansprüchen noch eine Mark pro Woche ausmachen. Und doch bleiben auch ohne sie für sämmtliche übrige Bedürfnisse nur noch einige 50 Mr. übrig.... Es muß daher für Nahrungsmittel zeitweise noch weniger ausgelegt werden und das blutlose, durchsichtige Gesicht der Frau spricht allerdings nicht nur von dauernder Ueberanstrengung, sondern auch von Entbehrungen jeglicher Art."
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70 Bf.
Wie hoch beläuft sich nun der Tribut, den die raffgierigen Krautjunker jezt schon der armen, am Hungertuch nagenden Witwe und ihrem Kinde vermittelst der Getreidezölle im buchstäblichen Sinne des Wortes vom Munde wegnehmen? Für Schwarz- und Weißbrot zusammen verausgabt die Frau wöchentlich 1,30 Mt., macht pro Jahr 67,60 Mt. Die jetzigen Zollsäße auf Getreide vertheuern Schwarz- und Weißbrot zusammen um durchschnittlich ca. 232 Prozent. Die Arbeiterin zahlt also im Jahre den Brot bedarf für sich und ihr Kind ungefähr um 15,88 Mt. theurer, als sie ihn ohne den Zoll decken könnte. Damit nicht genug. Auch die Ausgaben der Arbeiterin für„ Gemüse und Gegräupe" wöchentlich, 36,40 Mr. jährlich sind durch die Getreidezölle künstlich gesteigert worden, denn diese haben den Preis für Nudeln, Makkaroni, Graupen, Gries 2c. in die Höhe getrieben. Nehmen wir an, daß die Arbeiterin im Jahre nur für 12 Mt. von der= artigen Waaren verbraucht hat, so mußte sie dabei 2,82 Mr. an 3oll entrichten. Zoll entrichten. Alles in Allem ist also die Lebenshaltung von Mutter und Kind pro Jahr um 18,70 Mt. vertheuert worden. Eine noch so oberflächliche Durchsicht der angeführten Posten des armseligen Haushalts läßt erkennen, welche große Rolle 18,70 Mt. für die Lebenshaltung der kleinen Familie spielen. Die Summe stellt die Kosten für Ernährung, Heizung und Beleuchtung in drei Winterwochen dar. In dem angezogenen Falle ist es thatsächlich das Scherflein der Witwe, das das Junkerthum mit jedem Bissen Brot, mit jedem Löffel Suppe hinterlistig raubt. Wahrlich, einem menschlich fühlenden Frommen muß Kirchendiebstahl ein geringeres Verbrechen dünken, als solche Plünderung, deren sich die„ Edelsten und Besten der Nation" täglich und stündlich an den Aermsten schuldig machen!