Nr. 10.

Die Gleichheit.

11. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 2978) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 8. Mai 1901.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet.

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Inhalts- Verzeichniß. Schwestergrüße aus Italien  . Von Dr. med. Anna Kulischoff. Arbeitszeit, Arbeitslohn und Arbeitsschutz der gewerblich thätigen Kinder. Von Henriette Fürth  , Frankfurt   a. M. Von der Fabrikarbeit verheiratheter Frauen in Württemberg. Von a. br. Aus der Bewegung. Feuilleton: Das Weib. Von Multatuli  . Deutsch von Wilhelm Thal. Notizentheil von Lily Braun   und Klara Zetkin  : Weibliche Fabrikinspektoren. -Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Soziale Gesetzgebung. - Frauenbewegung.

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Schwestergrüße aus Italien  .

Der 1. Mai des neuen Jahrhunderts wird sicherlich eine glänzende, würdige proletarische Demonstration von größter Bedeutung bringen. Das Proletariat aller Länder, das in internationaler Solidarität verbunden ist, wird den heiligen, seinen nächstliegenden Klassenforderungen geweihten Tag benußen, um in dichten Schaaren gegen die dret größten Ungerechtigkeiten zu protestiren, welche auf den zivilisirten Völkern lasten: gegen das barbarische autokratische Regierungssystem in Rußland  ; gegen die unmenschliche Ausbeutung des weiblichen Proletariats und der Kinder der werkthätigen Massen; gegen den Militarismus, welcher die Völker bis zur Blutleere aus­saugt und die herrschenden Klassen gegen die leisesten Anwand­lungen der arbeitenden Massen schützt, sich wider ihre Ausbeutung aufzulehnen, bessere Daseinsbedingungen und Freiheit zu erringen.

In Italien   ist mehr als in jedem anderen Lande Europas  die Frage des Schußes der Frauen- und Kinderarbeit zu einer der brennendsten und dringlichsten Fragen geworden. Die ungeheuer große Zahl der Lohnarbeiterinnen, der lohnarbeitenden Kinder be­dingt das.

Die Zahl der in der Großindustrie beschäftigten Arbeiterinnen betrug nach der Volkszählung vom Jahre 1881** nicht weniger als 1601669, unter denen sich 153185 Mädchen im Alter von 9 bis 14 Jahren befanden. Der Arbeitstag dauert 12 bis 14, ja 16 Stunden und bringt einen Hungerlohn von durchschnittlich 70 Centesimi bis 1 Lire 25 Centesimi( 56 Pfennig bis 1 Mark) für die erwachsenen Arbeiterinnen, von 40 bis 70 Centefimi( 32 bis 56 Pfennig) für die kindlichen und jugendlichen. Diese namen­losen, ungenannt verkümmernden Opfer der kapitalistischen   Aus­beutung sind in engen, feuchten, luft- und lichtlosen Näumen zu­sammengepfercht. Das Uebermaß der Arbeit, das sie zu Boden drückt und die miserable Ernährung zählen zu den hauptsäch­lichsten Ursachen der erschreckend großen Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahr; der Strofulose, Blutarmuth, Tuberkulose und der Verkrümmung und schwächlichen Entwicklung der Knochen in der Kindheit und Jugend; der unheilbaren, oft tödtlichen Krank­heiten, des vorzeitigen Alters der verheiratheten Frauen und ihrer Unfähigkeit, gesunde Kinder zu gebären oder überhaupt normal zu entbinden.

* Dieser Artifel unserer tapferen, fampferprobten Genossin Kulischoff war für Nr. 9 der Gleichheit" bestimmt, traf aber leider zu spät ein, um in ihr veröffentlicht zu werden. D. Red. d. ,, Gleichheit".

** Neuere statistische Angaben liegen nicht vor, da seit den letzten 20 Jahren keine andere Volkszählung stattgefunden hat als die vor 2 Monaten, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind.

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara gettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Das Martyrium der Lohnarbeitenden Frauen in Italien   ist so groß, daß es sogar die Aufmerksamkeit der herrschenden und ausbeutenden Klassen auf sich gelenkt hat. Offenbar waren die­selben von der wachsenden Degeneration der arbeitenden Massen erschreckt, wie sie bei der militärischen Aushebung klar zu Tage tritt: von 100 Gestellungspflichtigen sind mehr als 50 für den Militärdienst untauglich. Seit 20 Jahren werden denn auch in jeder Legislaturperiode Gesezentwürfe zum Schuße der Frauen­und Kinderarbeit eingebracht. Keinem einzigen von ihnen ist jedoch auch nur die Ehre zu Theil geworden, in der Kammer diskutirt zu werden. In Italien   ermangeln also die lohnarbeitenden Frauen jedes gesetzlichen Schußes gegen den Wehrwolfshunger des ausbeutenden Kapitalismus. Was aber den Schuß der Kinder gegen die kapi­talistische Profitgier anbelangt, so eristirt nur das lächerlich un­zureichende Gesetz vom Jahre 1886, das obendrein so gut wie vollständig todter Buchstabe geblieben ist.

Die sozialistische Partei Italiens   ist sich der großen Gefahr bewußt, welche die zügellose Ausbeutung der weiblichen und kind­lichen Arbeitskräfte über die gesammte Arbeiterklasse heraufbeschwört. Sie wendete deshalb der Frage des gesetzlichen Schutzes der Kinder­und Frauenarbeit ihre besondere Aufmerksamkeit zu. Auf ihrem Kongreß zu Bologna   im Jahre 1897 beschloß sie, die sozialistische Fraktion der Kammer zu beauftragen, so bald als möglich einen einschlägigen Gesezentwurf auszuarbeiten und im Parlament ein­zubringen. Des Weiteren sollte eine Agitation im ganzen Lande entfaltet werden zu Gunsten eines Gesezes gegen die unbeschränkte Ausbeutung der doppelt schutzbedürftigen Arbeitskraft der Frauen und Kinder.

Die in den Jahren 1898 und 1899 wüthende Reaktion hat jede Agitationsarbeit der Sozialisten unterbrochen. Die sozialistischen  Organisationen wurden aufgelöst, die Arbeiterkammern unterdrückt, die besten Agitatoren und Vorkämpfer des italienischen Proletariats in die Kerker geworfen oder in die Verbannung getrieben. Erst im September 1900 tonnten sich die Sozialisten auf ihrem Kon­greß zu Rom   wieder mit der Frage des gesetzlichen Frauen­und Kinderschutzes beschäftigen. Der Kongreß stimmte im großen Ganzen den diesbezüglichen Forderungen eines Gesezentwurfes zu, den ich vorlegte.

Kurze Zeit nach dem Stattfinden des Kongresses gingen mehrere tapfere und thatkräftige Genossinnen an die agitatorische Arbeit unter den Massen. Sie eilten von Stadt zu Stadt, sie suchten die entferntesten Dörfer auf, sie sprachen in den Arbeiter­fammern und bemühten sich überall, die Nothwendigkeit des gesetz­lichen Schutzes der Frauen und Kinder klar zu machen und Ver­ständniß für den erwähnten Gesezentwurf zu wecken.

Ihre Agitation förderte gleichzeitig auch die Organisation des weiblichen Proletariats. In Mailand   allein wurden in weniger als Jahresfrist die Arbeiterinnen von 24 verschiedenen Gewerben und Industriezweigen organisirt und zwar entweder in eigenen Sektionen, die nur weibliche Mitglieder umschließen oder auch in gemischten Sektionen der Gewerkschaften, Widerstands- und Hilfs­faffen, denen bisher nur Arbeiter angehörten, denen nun aber auch Arbeiterinnen des nämlichen Berufs beigetreten sind.

Dieser Agitation zufolge, welche von den sozialistischen   Frauen mit dem größten Eifer und einer nicht nachlassenden Zähigkeit be­trieben wird, hat es der Nationalrath( die Parteileitung) der sozialistischen   Partei für angezeigt erachtet, in seinem Manifest das