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versammlungen eine eigene Delegirte zu wählen. Die auf die eine oder andere Weise erfolgte Wahl weiblicher Delegirten ist der Unterzeichneten mitzutheilen.

Mit Parteigruß

Ottilie Baader  ,

Vertrauensperson der Genossinnen Deutschlands  , Berlin   W, Groß- Görschenstraße 38, zweiter Hof rechts, III.

Die Arbeiterpresse wird um Abdruck gebeten.

Bur Wohnungsfrage.

I. Allgemeines.

An nichts kann soziales Elend und menschliches Wohlbefinden besser gemessen werden, als an Größe und Behagen der Wohnungen. Ueber feine Seite unserer sozialen Zustände sind wir vergleichsweise besser unterrichtet, als über die Wohnungszustände. Zahllose statistische Untersuchungen haben bei aller Mangelhaftigkeit den Schleier von dieser nicht mehr zu leugnenden Schmach unserer Wirthschaftsordnung gezogen, unübersehbar sind die Schriften in allen Kultursprachen, die sich mit der Wohnungsfrage befassen. Zahllos sind auch die Versuche, dem Wohnungselend zu steuern, Hunderte von Männern und Frauen haben den Beruf gefühlt, Vorschläge zu machen, wie gesunde Woh­nungen an Stelle der Wohnungshöhlen und Wohnungshöllen zu be schaffen wären. Theils war es das Interesse Derjenigen, welche die Befreiungsbestrebungen des modernen Proletariats bekämpfen und dabei doch ihr gutes Herz zeigen wollten, die das Proletariat abzu­locken wünschten von dem Streben nach einem Ziele, und es von der offenen Heerstraße des Kampfes gegen die herrschende Ordnung ab­zulocken hofften in die Winkel- und Sackgäßchen eng begrenzter Sozial­reform. Andere meinten es ehrlicher und glaubten wirklich ihrer sozialen Pflicht zu genügen, wenn sie einen der Krebsschäden unserer Gesellschaft heilen wollten, wähnend, daß eine Heilung möglich sei, wenn der Krebs am ganzen übrigen Körper weiter wuchern würde. Gerade die Wohnungsfrage lehrt es uns aber eindringlich, daß die soziale Noth nicht an einzelnen Gliedern furirt werden kann, daß jedes Streben da zu bessern vergeblich ist, so lange man den Kern des Uebels unberührt lassen will.

Die neumodischesten Sozialisten gehen Hand in Hand mit, wohl­meinenden" bürgerlichen Sozialpolitikern und verschwenden ihre Kraft, die dem Kampfe um die sozialistische Gesellschaftsordnung gehört, in Vorschlägen und Experimenten, die Wohnungsfrage zu lösen. In ihrem Eifer der Belehrung unzugänglich, müssen wir sie den unaus­bleiblichen Enttäuschungen entgegengehen lassen, die sie aus ihren Träumen erwecken werden!

Aber begreiflich ist es, daß das Wohnungselend so viele be­schäftigt, ist es doch, wenn auch kaum die größte, so doch die am meisten ins Auge springende Anklage gegen die herrschende Wirth­schaftsordnung. Wir können auch ganz befriedigt sein, daß man sich so eingehend mit dieser Frage befaßt, denn alles Streben, rückhaltlos etwas zur Aufhellung der Lage der Arbeiterklasse beizutragen, müssen wir mit Genugthuung begrüßen, liegt doch darin eine zwar oft zu leicht genommene aber hochbedeutsame Aufgabe. Ist doch noch so Vielen, die unter allem Elend leiden, die Erkenntniß von der Größe dieses Elends nicht zum Bewußtsein gekommen, und ist doch diese Erkenntniß eines der wichtigsten Mittel, das Proletariat zu einer geschlossenen Masse zusammenzuschweißen, zur unwiderstehlichen Macht im Rampfe gegen die herrschenden Klassen werden zu lassen. In diesem Sinne begrüßen wir auch eine im vorigen Jahre erschienene Schrift von Dr. Hans Kurella," Wohnungsnoth und Wohnungs­jammer, ihr Einfluß auf die Sittlichkeit, ihr Ursprung aus dem Bodenwucher und ihre Bekämpfung durch demokratische Städtever­waltung".* In dieser Schrift ist auf engem Raume werthvolles Material über die Arbeiterwohnungsfrage zusammengetragen und manch' gesundes eigenes Urtheil, aber auch viele unseren Widerspruch herausfordernde Meinungen und viele stark überschätzte Vorschläge wie optimistische Schlußfolgerungen finden sich da. Doch wird auch diejenige Leserin, die unseren Standpunkt in der Wohnungsfrage theilt, so manche Belehrung aus dieser Schrift schöpfen können.

* Beiträge zur Boden- und Wohnungsfrage. Herausgegeben in Ver­bindung mit Mitgliedern deutscher   Arbeiter- und Mietherkörperschaften und des Vereins Reichswohnungsgesetz. I. Heft. 68 S. 8°. Preis 1,20 Mr.

II. Häuslichkeit und Sittlichkeit.

So ist das erste Kapitel der Schrift überschrieben. Für den Verfasser dreht sich da alles um die Wohnungsfrage, er beachtet nicht die anderen Ursachen, welche eine Häuslichkeit in der Arbeiterfamilie nicht aufkommen lassen, er führt die Zerstörung der Häuslichkeit, die Unsittlichkeit fast ausschließlich auf die Wirkungen des städtischen Bodenmonopols und auf die Formen des Wohnens zurück. Wir wollen hierüber nicht weiter mit ihm rechten, müßten wir doch dann viel zu weit ausgreifen. Sicher ist aber, daß innerhalb unserer Proletarierwohnungen sich nur ausnahmsweise eine gesunde Häus­lichkeit entwickeln kann. Was Dr. Kurella hierzu beibringt, ist sicherlich Lesenswerth. So wenn er schreibt:... die ganze Fülle der Un­ruhe, Unbehaglichkeit, Treulosigkeit und Freudenarmuth und nicht zuletzt der Mißgerüche, die die Schlupfwinkel der ungeheuren Mehr­heit unserer Großstadtbevölkerung erfüllen und zu Orten des Abscheus und des Widerwillens machen, die soll uns erst geschildert werden; bis der herbe Realist kommt, der uns diese Bilder wiederzugeben versteht, müssen wir uns mit Photographien begnügen und eine Sammlung solcher Kellerstuben, Dachkammern, Schlafburschenwinkel sollte endlich einmal in typischen Exemplaren unseren Statistiken der Wohnungsnoth beigegeben werden, nur schade, daß die eigent­liche Quintessenz dieser Zustände, Lärm und Gestant, auf der photho­graphischen Platte und in den Tabellen der Statistiker nicht firirt werden können." Daß in Wohnungen dieser Art eine wahre Häus­lichkeit unmöglich ist, daß da die Flucht ins Wirthshaus, so lange noch ein Groschen in der Tasche zu finden ist, begreiflich ist, wer fann dies bestreiten. Die Proletarierwohnung gehört nicht allein der Familie, Schlafgänger und sonstige Fremde, mit denen die Kinder keinerlei Band verknüpft, theilen die elenden Räume. Es ist nicht schön und auch nicht sittlich, wenn in demselben einzigen Zimmer gleichzeitig geboren, gestorben, gekocht, geschlafen, gegessen und ge­arbeitet wird." Wie soll da eine Häuslichkeit entstehen können, sich erhalten? Wer zerstört da Ehe und Familie? Die zu solchen Woh­nungen durch ihr soziales Elend Verurtheilten oder die gepriesene Wirthschaftsordnung, der profitgierige Kapitalismus, der seine höchsten Profite aus diesen Proletarierhöhlen zieht und dessen Parole ist ,, Geld stinkt nicht"?

III. Etwas Wohnungsstatistik.

"

Als überfüllte Wohnungen werden von den amtlichen Statistikern im Deutschen   Reiche nur die bezeichnet:

1. Ohne ein heizbares Zimmer in jedem Falle.

2. Mit 1 heizb. 3., mit 0 unheizbaren Zimmern u. 6 od. mehr Bew.

3.

V

1

4.

=

2

5.

M

2

=

M

=

A

M

M

1 od. mehr unheizb. 3.

8= =

O unheizbaren Zimmern 8=

=

M

1

= 10=

V

=

=

M

=

Dabei wird eine Küche mit Fenster stets als heizbares Zimmer berechnet; es ergiebt sich also, daß unsere Städtestatistiker eine Woh­nung, die aus einer Küche und sonst nichts besteht und fünf Menschen beherbergt, nicht für überfüllt halten. Es ist rührend, wie bescheiden sie sind in ihren Ansprüchen an die Wohnung, wenn es sich um Proletarier handelt. Nach diesem rührenden Maßstab waren aber doch noch von je 10000 Wohnungen überfüllt in Mannheim  Königsberg   i. Pr. Halle a. S.

Breslau

Lübeck  .

1180

875

.

1060

Leipzig  .

785

1030

Altona  .

762

990

Görlitz  

691

In Berlin   wohnten 1890 von je 10000 Menschen 768 im Keller, in Breslau   wohnten 1500 von je 10000 Menschen im Keller oder im vierten oder einem noch höheren Stockwerk. Von je 10000 Berlinern wohnten 540 in einem nicht heizbaren Zimmer. In Wohnungen mit höchstens zwei heizbaren Zimmern wohnten von je 10000 Einwohnern in Berlin   7845, in München   5332 und in Breslau   7541! Von je 1000 Wohnungen hatten im Jahre 1890 Schlafburschen in Berlin  Leipzig  Dresden  Frankfurt   a. M.. Breslau.

175 62 125

.

158 92

In München   wurden 1897 über 400 alleinstehende Männer gezählt, welche Schlafgängerinnen beherbergten. Ueber ein Viertheil der Münchner   Wohnungen, die familienfremde Personen beherbergten, hatten Schlafgängerinnen. Man stelle sich vor, daß 1897 in München  3160 Wohnungen vorhanden waren, die nur ein Zimmer, aber darin mehr als sechs Bewohner hatten, die sich aus Familienmitgliedern und Familienfremden zusammensetzten. Diese Zahlen veranlassen den auf bürgerlichem Boden stehenden Dr. Kurella zu den folgenden Bemerkungen:

Welch Nachhausekommen", wenn eine Fabritarbeiterin Abends in solch ein Zimmer tritt, in dem Wäsche trocknet, Kinder schreien, der