Hausrath in wirren Haufen durcheinander liegt, die Eheleute vielleicht einander schelten, kein Stuhl frei ist, das Bett mit einem oder zwei Anderen getheilt wird! Ist es ein Wunder, wenn der Schlafbursche aus dieser Häuslichkeit in die Kneipe läuft, die Arbeiterin sich aus ihr fort auf die helle Straße, vor die glänzenden Schaufenster oder in eines der Vergnügungslokale sehnt, die uns wohl geschmacklos, lärmend, raucherfüllt erscheinen, wo sie aber Wärme, Glanz, Unterhaltung und vielleicht ein warmes Abendbrot, einen freundlichen Blick, ein liebe­volles Wort am Arme eines Herrn" findet. Aber der Bankiers­oder Fabrikantentochter, die sich aus ihrem luguriösen Heim in den Ballsaal oder das Opernhaus sehnt, und ihren würdigen Eltern er­scheint ein solches Mädchen natürlich gemein und unsittlich!"

Und überall, wo der moderne Kapitalismus   eingezogen, das gleiche Elend in England wie in Deutschland  , in Rußland   wie in den Vereinigten Staaten  !

Cholera, Pest, Tuberkulose und Diphtherie würden nicht dieses stets bereite Feld für ihre Thätigkeit finden, wenn die Wohnungen der armen Voltstlassen in Bombay   und Hamburg  , in Alexandrien  und in Paris  , in Chicago   und im Ostende   von London   nicht zu eng, schmutzig, gegen Licht und Luft verbarrikadirt würden. Vor Allem ist es die furchtbare Kindersterblichkeit in den Proletarierbezirken, die zwar nicht allein, aber doch in zu sehr hervorragendem Maße in engem Zusammenhang mit den Wohnungszuständen der bürgerlichen Gesellschaft steht. Ueberall die gleichen Erscheinungen, überall die gleichen Wirkungen, überall die gleichen Zusammenhänge mit der heutigen Wirthschaftsordnung und überall die wohlfeile Empfehlung von kleinsten und allerkleinsten Mitteln, dem immer weiter um sich fressenden Uebel zu steuern.

Aber auch andere Folgen des Wohnungselends drängen sich auf, freilich immer im Zusammenhang mit anderen sozialen Ursachen­reihen, so die mangelhafte Erziehung der Kinder, der Zwang, sie auf der Straße ihre freie Zeit verbringen zu lassen, und so vieles Andere. Daß die Häufigkeit der Verbrechen wohl nicht ohne Zusammenhang mit den Wohnungsgreueln steht, ist statistisch für die amerikanischen  Großstädte nachgewiesen. So theilt Dr. Kurella aus einer Statistik von 1893 mit, daß von je 10000 Einwohnern arretirt wurden: In den übervölkerten Arbeiterquartieren

In Philadelphia

=

New York  

V

Baltimore  

8

18

14

11

In der ganzen Stadt

3

6

9

4

= Chicago  Sicherlich sind das beachtenswerthe Zahlen, aber ebenso leicht, als sie Erstaunen erregen können, mögen sie auch täuschen. Die Arre­tirungen fönnen doch auch mit anderen Ursachen zusammenhängen, so mit größerer oder geringerer Strenge der Polizei in den feinen" und in den schlechten" Quartieren. Die Eigenthumsverbrechen der amerikanischen   Milliardäre sind andere, wenn auch viel verhängniß­vollere, als die Diebstähle des Laib Brotes durch hungernde Familien, väter. Es ist ein ebenso leicht und häufig gemachter wie verhängniß­voller Fehler oberflächlicher Statistiker, auf eine gerade ins Auge gefaßte Ursache Massenerscheinungen zurückzuführen. Besonders fällt dies bei der Betrachtung der Literatur über die Wohnungsfrage auf, da werden Verbrechen aller Art, dann die Trunksucht, die Prosti­tution, die Kindersterblichkeit, die ehelichen Zerwürfnisse, die hohe Zahl der Selbstmorde, die Kinderverwahrlosung, alle Laster und Ge­brechen der nicht immer zahlungsfähigen Menschheit auf das Woh­nungselend zurückgeführt. Und doch weiß jeder gutgeschulte Sozialist, daß alle diese traurigen Früchte nicht auf diese eine Blüthe der fapi­talistischen Ausbeutung, sondern auf zahlreiche andere gleichzeitig zu­rückzuführen sind, auf die Unsicherheit der Existenz, auf die stets neue Erzeugung industrieller Reservearmeen, auf den Lohndruck, die über­lange Arbeitszeit, ebenso wie auf das private Bodenmonopol; wir wissen, daß alle diese Ursachen in der kapitalistischen   Ausbeutung ihre letzte Quelle haben, daß es deshalb nichts beweist, eine der Ur­sachen herauszugreifen, alle anderen als nebensächlich zu behandeln.

IV. Der Kampf gegen das Wohnungselend.

Wer all dies erkannt hat, der wird recht mißtrauisch gegen die ja sicherlich oft wohlmeinenden Rathschläge, im Rahmen unserer Wirthschaftsordnung die Wohnungsfrage zu lösen". Wer die Ge­schichte der Wohnungsreform fennt, weiß überdies, daß die meisten Vorschläge, die uns heute mit so warmem Eifer in Deutschland   ge= macht werden, englische und französische   Trödelwaare sind. Vor Allem in England hat man z. B. seit mehr als einem halben Jahrhundert Baugenossenschaften empfohlen, zahlreiche gegründet und zahlreiche zu Grunde gehen sehen; freilich hört man, daß da und dort für einige Hunderte Proletarier durch Baugenossenschaften für einige Zeit die Wohnungsverhältnisse verbessert wurden, aber die Mehrzahl der

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englischen Arbeiterbevölkerung lebt heute noch in sehr traurigen Woh­nungsverhältnissen. Und Trüdinger hat festgestellt, daß die Bau­genossenschaften von Arbeitern gegründet wurden, daß aber die Ar­beiter die erbauten Häuser und Wohnungen nicht behaupten konnten, daß Beamte, Handlungsgehilfen u. s. w. diese Wohnungen in Be­nügung genommen haben. Auch in Deutschland   hat z. B. Sonnemann schon Anfangs der sechziger Jahre die Baugenossenschaften als ein Mittel zur Lösung der Wohnungsfrage empfohlen, ohne irgend einen Erfolg zu erzielen. Heute kommen nun bürgerliche Sozialreformer mit Sozialdemokraten Arm in Arm und empfehlen wieder, dieses stumpfe Werkzeug an dem Riesenbaum des Wohnungselends zu ver­suchen. Es ist dies einer der Beweise dafür, daß in unseren Reihen das Talent, viel zu vergessen und nichts zuzulernen, start vertreten ist. Was aber vor vierzig und mehr Jahren noch leidlich vernünftig gewesen sein mag, was damals einen Friedrich Albert Lange   zu sympa­thischen Empfehlungen der Baugenossenschaften veranlaßt hat, das ist nun, wo die Bodenspekulation sich längst alles baufähigen Bodens be­mächtigt hat, wo die Bodenpreise ungeheuer in die Höhe geschnellt sind, das ist heute Unvernunft. Vor vierzig Jahren waren unsere Städte noch lange nicht so umfangreich wie heute, damals waren die In­dustriebetriebe noch nicht so sehr in den Umkreis der Städte hinaus gedrängt, damals war die Entfernung von Arbeitsstätte und Wohnung noch lange nicht so groß wie heute. Wer nun berücksichtigt, daß der Arbeiter niemals weiß, wie lange er an seiner Arbeitsstätte ver­bleiben kann, daß er häufig den Wohnort, sicherlich aber sehr häufig die Fabrik wechseln muß, der wird es einsehen, daß das eigene Heim, das nicht so wie die Miethswohnung gewechselt werden kann, dem Proletarier oft eine sehr unerfreuliche Last werden muß.

Es fann in diesem Zusammenhang nicht unsere Aufgabe sein, auch nur diese eine Seite des neuen Enthusiasmus für das Genossen­schaftswesen nach allen Richtungen zu beleuchten, diese Bemerkungen müssen genügen.

Neben den Baugenossenschaften bauen auch die großen Unter­nehmer, die Stumm und Krupp, die Spinner- und Glaskönige, die großen Maschinenfabriken und Elektrizitätswerke Arbeiterwoh­nungen. Daß diese nur eine der vielen Wohlfahrtseinrichtungen oder Mittel zur völligen Abhängigkeitsmachung der Arbeiter sind, das weiß Jeder. Der Bewohner darf nicht streiken, sich nicht durch die Solidarität mit seinen Arbeitsgenossen verbunden erachten, auch nicht durch Eintreten für sein persönliches Interesse und für die ge­meinsamen Interessen seiner Klasse unliebsam machen, denn sonst wird er gleichzeitig arbeits- und obdachlos. So viel liegt keinem denkenden Arbeiter an einem halbwegs befriedigenden Heim, daß er es mit seiner Versflavung erkaufen wollte.

Die Städte, sagen Andere, sollen die Lösung der Wohnungs­frage in die Hand nehmen. Ein verflucht gescheiter Gedanke, wenn man nicht wüßte, daß auf Grund unserer meisten Städteordnungen die Gemeindeverwaltungen der Ausdruck der Hausbesitzerinteressen sind. Es ist doch eigentlich mehr als spaßhaft, wenn diejenigen, die nicht Sozialisten werden wollen, weil wir so unverbesserliche Utopisten sind, mit Vorschlägen kommen, deren Undurchführbarkeit auf der Hand liegt, die erst diskutabel und durchführbar werden, wenn wir die po­litische Macht errungen haben werden. Genau so steht es mit den Vorschlägen, die schlechten Häuser zu expropriiren, als ob das Ex­propriationsrecht so ausgebildet wäre und als ob der Wille der that­sächlichen Macht haber eine Aktion dieser Art im großen Stile irgend­wie wahrscheinlich erscheinen ließe.

Aber gut, nehmen wir an, daß das, was im Rahmen dieser Vorschläge möglich wäre, durchgeführt würde, daß die Veräußerung des städtischen Grund und Bodens aufhören, daß aller noch erhältlicher städtischer Boden angekauft würde, obgleich ja die Bodenspekulanten Jahrzehnte gearbeitet" haben, daß da die Bäume nicht in den Him­mel wachsen werden, angenommen, es würden alle Vorschläge für eine gesunde städtische Wohnungspolitik verwirklicht, was wäre denn damit erreicht? Man würde von dem reißenden Strome des prole­tarischen Wohnungselends ein seichtes Bächlein ableiten, Tausenden würde man helfen, für Millionen bliebe das Wohnungselend nach wie vor bestehen.

Nun meine man nicht, daß die Sozialisten, die nichts verlernen, sondern zulernen wollen, irgend etwas gegen eine städtische Wohnungs­politik, gegen ein Reichswohnungsgesetz, gegen eine Verwendung der Mittel der Invaliditätsversicherungsanstalten zum Baue von Woh­nungen, gegen eine Wohnungsinspektion, gegen eine Verbilligung der Eisenbahntarife 2c. einzuwenden hätten. Wir sind bereit, all dies zu unterstützen, jede Besserung auf dem Gebiet des Wohnungswesens zu begrüßen und, wo wir können, zu unterstützen. Aber alle diese Maßnahmen sollen uns nicht als Hauptsache erscheinen, sie sollen nicht dazu dienen, die Arbeiter zu verwirren, bei ihnen den Glauben zu erwecken, daß das Wohnungselend verschwinden könne, so lange