Nr. 25.

Die Gleichheit.

11. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, burch die Post( eingetragen unter Nr. 2978) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 4. Dezember 1901.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Cuellenangabe gestattet.

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Inhalts- Verzeichniß.

Die Krise.  - Der Bericht der badischen Fabrikinspektion für das Jahr 1900 Aus der Be­über die Lage der Arbeiterinnen. Von Louise Zietz  .. Feuilleton: Hartingers alte Sixtin. Von 2. Anzengruber.

wegung. ( Schluß.)

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Notizentheil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen.

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gebung. Sozialistische Frauenbewegung im Auslande.- stimmrecht. Frauenbewegung.- Verschiedenes.

Soziale Gesetz Frauen­

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Die Krise.

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In allen Großstädten, in allen Industrie- und Handelszentren Arbeitslose in den Straßen, Obdachlose auf den Plägen. In ärm­licher, dünner Kleidung, blauroth vor Frost, das Fieber zehrender Sorge im Blicke und auf den verhärmten Zügen hasten die Einen von Fabrik zu Fabrik, von Werkstatt zu Werkstatt, drängen sie nach den Arbeitsnachweisen, umlagern sie die Schalter der Tages­blätter, um mit einer irgendwie gelohnten Beschäftigung Brot zu finden. Ihrer äußeren Erscheinung nach nicht blos dürftig, sondern verelendet strömen die Anderen den Wärmehallen, Nachtasylen, Herbergen zu, einen kurzfristigen Schuß gegen grimme kälte, ein Obbach   für die Nacht, einen Napf Suppe gegen wüthenden Hunger als höchstes erreichbares Glück begehrend. Und charakteristische, furchtbare Erscheinung: Es sind nicht die typischen Arbeits- und Obdachlosen jeden Winters allein, welche Beschäftigung, Brot, Unter­schlupf suchen. Zu Hunderten und Tausenden sind ihnen bessere, gelernte Arbeitskräfte zugesellt, die für gewöhnlich das ganze Jahr hindurch stetig, regelmäßig zu thun haben, die als geschickte und fleißige Hände" geschäßt jahrelang in ein und demselben Betrieb frohnden.

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Das Straßenleben aber mit seinen herzzerreißenden Elends­bildern deutet die Noth an, die ihren Einzug in das Heim des Proletariers gehalten hat, dafern sie ihn und die Seinen nicht schon aus diesem vertrieben. Dort, wo auch in Zeiten guten Ver­dienstes die äußerste Sparsamfeit walten muß, ein Darben und nicht selten der nackte Mangel am Nothwendigsten. Die harte Ent­behrung oft machtlos, dem Borg bei Bäcker und Kolonialwaaren­händler zu wehren, den Weg zum Pfandhaus und Tröbler zu er sparen. Das Denken wochenlang, monatelang beherrscht von der peinvollen Frage: Was morgen? Woher die Groschen, ja auch nur die Pfennige nehmen, um den Hunger zu stillen, um für Licht und Heizung zu sorgen, von den Mitteln für Wäsche und Schuh­werk, für Holz und Kohlen, vor Allem aber für die Miethe zu schweigen.

Die proletarischen Frauen haben ihren Theil von all diesem Jammer zu tragen und in recht vielen Fällen sogar den Löwenantheil. Gewiß: der sprichwörtlich niedrige Lohn und die profitreichen Sklaven­tugenden der Fügsamkeit und Widerstandsunfähigkeit haben Arbeite­rinnen vielfach dort vor der Entlassung geschützt, wo Arbeiter in größerer Zahl aufs Pflaster gesetzt wurden. Allein Hungerlöhne und Willigkeit sind in den heutigen wirthschaftlichen Zeitläuften durchaus nicht immer als Kraut gegen die Arbeitslosigkeit gewachsen. Schaaren fleißiger Arbeiterinnen sind im letzten Bierteljahr außer Lohn und Brot gekommen. Viele der Glücklichen, die im Dienste fremden Reichthums weiter die Glieder rühren, die Nerven an­spannen dürfen, mußten sich darein finden, daß der färgliche Ver­

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 3undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 84, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

dienst noch färglicher wurde: die volle Beschäftigung hatte ein Ende, der Unternehmer kürzte die Löhne. Und vor all den Lohnsflavinnen, denen die Aussicht auf Profit ihrer Herren bis jetzt noch Arbeit bescheerte, reckt sich dräuend das Gespenst der Unsicherheit empor. Ein Bankkrach mehr, das Ausbleiben einer Bestellung, und morgen schon zählen heute noch Beschäftigte zu Denen, welche auf der Suche nach Brot durch die Straßen irren.

Das Loos der proletarischen Hausmutter ist kein freundlicheres. Was die Arbeiterin als ausgebeutete Hörige des Kapitals leidet, das wird ihr als der Frau eines kapitalistisch ausgewucherten Hörigen aufgebürdet. Jede Zeit der Arbeitslosigkeit, welche den Mann trifft, jedes Sinken und Schwanken seines Lohnes, jede Unsicherheit in seinem Erwerb wird zur entseßlichen Plage, welche die Gristenz der Arbeiterfrau erschüttert, welche die Daseinsbedingungen der Familie verschlimmert, der ihr häusliches Wirken gilt. Und nach vielen Zehntausenden zählen die Proletarierinnen, die als Arbeite= rinnen und als Hausmütter mit den Ruthen des schlechten Geschäfts­ganges gestrichen werden. Kurz, wo immer das Thätigkeitsgebiet der proletarischen Frau liegt, in der Fabrik oder im Hause: die Sorgen- und Nothwellen der ungünstigen Erwerbsverhältnisse fluthen verheerend in ihr Leben hinein. Schärft die Vereinsamung die Dornen der Leiden für die alleinstehende Arbeiterin, so verhundert­facht die Mutter- und Gattenliebe die Qualen des Elends für die Arbeiterfrau. Schwer drückt das eigene Ungemach, schwerer bei Weitem die Ohnmacht, geliebte Wesen vor Jammer und Noth zu schüßen. Enthüllt nicht die Feststellung der Lehrer einer städtischen Bezirksschule in Sachsen   das schmerzensreichste Martyrium der Proletarierin, daß 25 bis 30 Prozent der Schüler seit Monaten fein Mittagbrot haben, sondern nur trockenes Brot, daß das Mittag= brot der Glücklichen in 50 bis 60 Prozent aus nichts besteht, als aus Kartoffeln mit Leinöl!.

Kein Hoffnungsschimmer kündet eine baldige Milderung des Elends, das über die proletarische Frau und ihre Klasse herein­gebrochen ist. Umgekehrt nur Aussichten auf seine Steigerung. Weihnachten, Neujahr vorüber, und Tausende von weiteren Arbeitern und Arbeiterinnen müssen in Industriezweigen feiern, deren flotteste Saison vor die Feiertage fällt. Strengere Winterkälte, und mit der noch nicht ganz erloschenen Bauthätigkeit ist es vorbei. Zwingt aber Arbeitslosigkeit und geringer Verdienst manche Schichten von Arbeitern und Arbeiterinnen den Hungerriemen fester zu ziehen, so verschlechtert sich ihrem zusammenschrumpfenden Verbrauch entsprechend auch die Erwerbsmöglichkeit anderer Arten von Arbeitskräften. Und der Winter ist in vollem Anzug mit seiner vielfältigen Unbill, die gerade die Armen am härtesten trifft, mit seinen Anforderungen an Licht, Heizung, Kleidung 2c., welche die Kosten der Haushaltung, der Lebenshaltung empfindlich in die Höhe treiben. Dazu die Theuerung der unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse, die hohen Kohlen­und Koatspreise, die schier unerschwinglichen Wohnungsmiethen. Und um das Maß der Sorgen, des Elends bis zum Rande zu füllen, in drohender Nähe der Zollfrevel mit seinen Wucherpreisen für die wichtigsten Lebensbedürfnisse. Am Horizont des Wirthschafts= lebens aber kein Anzeichen, das auf einen Umschwung zum Besseren deutet, das in nächster Zeit einen flotten, fräftigen Gang von Handel und Wandel verspricht, dagegen Vorläufer weiterer Ver­flauung, Sturmboten neuer, größerer Katastrophen.

Was Hunderttausende in der Welt der Arbeit mit namenlosen Qualen überschüttet, ist ja nicht eine Zeit der Arbeitslosigkeit, wie