Nr. 11.

Die Gleichheit.

12. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

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Stuttgart

Mittwoch den 21. Mai 1902.

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Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe gestattet. Schutz unseren Kindern! I. Das Weib und der Intellektualismus. Von Gertrud David. - Vereinsrecht der Frauen in Preußen. Lohn­sklavinnen in der Textilindustrie. Von W. D. Aus der Bewegung. Feuilleton: Frau Rath Goethe. Von Manfred Wittich.( Schluß.) Notizentheil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen- Weibliche Fabrik­inspektoren. Soziale Gesetzgebung. Dienstbotenfrage.

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Schuk unseren Kindern!

I.

Unter den vielen schweren Verbrechen des Kapitalismus, über welche die Geschichte zu Gericht ſizen wird, ist keines brutaler, graufiger, verhängnißvoller, wahnwißiger, mit einem Worte himmel­schreiender, als die Ausbeutung der proletarischen Kinder. Aus­beutung der proletarischen Kinder durch das Kapital, was besagt das anders, als Raub von Gesundheit und Lebenskraft, von Kinderlust und Bildungsmöglichkeit, als Vernichtung von Leib und Seele der heranwachsenden Geschlechter; als Raub und Ver­nichtung, begangen an den schwächsten, wehrlosesten und schutz­bedürftigsten aller Gesellschaftsglieder. Der Kapitalismus packt mit harter Faust das proletarische Kind, das schon vor seiner Geburt durch die rücksichtslose Ausbeutung von Mutter und Bater bedroht und geschädigt wurde. Er peitscht es mittels der Noth oder der Unwissenheit der Eltern in die Fabrik, in die Werkstatt, in die Ziegelhütte, zum Straßenhandel, zum Rübenverziehen und Viehhüten, zum Kegelaufseßen und Waarenaustragen oder in die mörderische Hausindustrie. Hier gliedert er es seiner Profitmühle ein, die auspreßt, was von Muskel- und Nervenkraft in Gold ver­wandelt werden kann, und die ein armseliges, körperlich und geistig zermalmtes Geschöpf entläßt. Das Abströmen ländlicher Bevölke­rung nach den Industriezentren, die Erschließung rückständiger Gegenden und Länder durch die modernen Verkehrsmittel entheben das kapitalistische Unternehmerthum der Nothwendigkeit, in dem proletarischen Kinde von heute den unentbehrlichen erwachsenen Ar­beiter von morgen zu schonen. So hat die kapitalistische Aus­beutung der kindlichen Arbeitskraft Geschlechter auf Geschlechter dem Verkümmern überliefert und dahingemäht; so hat sie über die Gegenwart hinaus an der Zukunft, über das Proletariat hinaus an der ganzen Nation in gewiffenlosester Weise gefrevelt.

Was sie an Körper, Geist und Sittlichkeit der proletarischen Kinder zertritt und welken macht, davon meldet der Thatsachen Fülle. Es offenbart sich in den erschreckend hohen Ziffern der schwächlichen, kränklichen, greisenhaften Kinder in den Volksschulen. Es schreit aus den wohlbegründeten Klagen der Lehrer über die geringe Aufmerksamkeit, geistige Frische und Auffassungskraft, über die minderwerthigen Leistungen der Schüler, die von Erwerbsarbeit am frühen Morgen und in späten Abendstunden aufgesaugt, schlaf­hungrig, matt, stumpfsinnig in dem Unterricht oder über den Haus aufgaben hocken. Es nimmt entsetzliche Gestalt an in den steigen­den Schaaren von jugendlichen Verwahr losten und Verbrechern. Und es muß sogar den gutgesinnten" Verehrer und Nußnießer des Militarismus durch den Umstand schrecken, daß jede Rekruten­aushebung eine große, ja in einzelnen Gegenden eine wachsende Zahl Dienstuntauglicher aufweist, die nicht für den Kampf gegen den äußeren und inneren Feind gedrillt werden können.

Der Weg des Kapitalismus und sein Herrschaftsgebiet sind

Buschriften an die Redaktion ber Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furthbach- Straße 12.

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besäet mit zahllosen Leichen von Kindern, die der zarten Finger wegen ganz geschlachtet wurden", wie es im Kapital" heißt, sind bedeckt mit vernichteten, in den Staub getretenen geistigen und sitt­lichen Kräften. Nicht agitatorische Uebertreibung", wissenschaft­liche Forschung rang Engels 1845 in seiner Lage der arbeiten­den Klasse in England" im Hinblick auf die Schmach der kapi­ talistischen Kinderausbeutung den Empörungsschrei ab: Ich klage die Bourgeoisie geradezu des sozialen Mordes an!" Und wahr­haftig: wie alle Wohlgerüche Arabiens" die mordbefleckte Hand der Lady Macbeth nicht reinzuwaschen vermochten, also find alle Wunderwerke des Kapitalismus außer Stande, diesen von der furchtbaren Blutschuld seines bethlehemitischen Kindermordes" zu entfühnen. Es bleibt ein unzerstörbares Denkmal von der Schande tapitalistischer Ordnung, von ihrem verrohenden Einfluß, der mensch­liches Empfinden und Denken in dem eiskalten Wasser" der Profitgier, des engherzigsten Egoismus ertränkt, daß die Gesell­schaft bis heute noch nur lächerlich ungenügende Maßregeln zum Schutze des proletarischen Kindes gegen die Ausbeutung seiner Ar­beitskraft, die Meuchelung seiner Lebenskraft abgezwungen werden konnten.

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Was ist in Deutschland bis nun in dieser Beziehung geschehen? Bereits in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts traten die verderblichen Folgen der kapitalistischen Auswucherung der Kinder kraß in Erscheinung. Weil die Fabrikgegenden nicht mehr das genügende Kontingent Refruten stellen konnten, erließ 1827 Friedrich Wilhelm III. von Preußen eine Verordnung zum Schuße der Kinder, die in Fabriken beschäftigt waren. Jedoch aller nachgewiesenen Greuel ungeachtet verbot die Gewerbeordnung von 1869 nicht einmal die Arbeit von Kindern unter zwölf Jahren in den Fabriken vollständig. Das Wenige aber, was sie zum Schuße der kindlichen Fabritarbeiter festlegte, blieb so gut wie todter Buchstabe. Das sehr robuste öffentliche Gewissen" erwachte erst, als die Sozialdemokratie die ihre ersten festen Hochburgen in Sachsen eroberte, wo das Kapital die proletarischen Kleinen in verbrecherischer Weise ausbeutete- anklagend und Reform Heischend auf den Plan trat. 1873 forderte der Reichstag den Reichs­kanzler zu Erhebungen über Frauen-, Kinder-, Sonntagsarbeit 2c. auf. Die Ergebnisse der vom Bundesrath in der Folge beschlossenen Enquete wurden 1877 veröffentlicht. Der Regierungsmechanismus hatte also wie es sich in einem Klassenstaat gebührt mit jener strafwürdigen Langsamkeit gearbeitet, das für sein Klappern kennzeichnend zu sein pflegt, wenn es sich um Reformen zu Gunsten der ausgebeuteten Massen handelt. So mangelhaft die Enquete gewesen, sie enthüllte die fressenden Schäden der ausgebeuteten Kinderarbeit. Und dennoch! Dennoch scheute die Regierung sich nicht, 1878 einen Entwurf einzubringen, der zwar das absolute Verbot der Fabrikarbeit von Kindern unter zwölf Jahren vorsah, aber alles in allem die Ausbeutungsmacht des Unternehmerthums weit mehr respektirte, als die Schußbedürftigkeit der Kinder. Der Reichstag besserte seinerseits herzlich wenig an dem reformlerischen Pfuschwerk niedrigster Sorte. Erst als die Furcht vor der steg­reich vorwärtsdringenden Sozialdemokratie den herrschenden Klassen die Gewerbeordnungsnovelle von 1890/91 abpreßte, rückte der Schutz der ausgebeuteten Kinder ein Schrittchen vorwärts. Die Zulassung zu der Fabrikarbeit durfte nicht vor Absolvirung der Volksschule erfolgen, das heißt dem vierzehnten beziehungsweise drei­zehnten Jahre. Der Arbeitstag der kindlichen Lohnsklaven blieb