Nr. 13.

Die Gleichheit.

12. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 18. Juni 1902.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe geftattet.

Zum 4. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands  . Zur Agitation unter den Arbeiterinnen. Von Louise Zietz  . Zur Frage der gewerkschaft­lichen Agitation unter den Arbeiterinnen. Von Marie Wackwitz  . Gewerkschaftliche Kleinarbeit der Genossinnen in Leipzig  . Von Clara Wehmann. Aus der Bewegung. Feuilleton: Auguste Eichhorn  . Notizentheil: Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation.- Frauenstimm­Frauenstimm recht. Weibliche Fabrikinspektoren.- Frauenbewegung. Literatur zur Frauenfrage.

Bum 4. Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands  .

Ein Zufall scheint es und ist doch tief im Wesen der heutigen Gesellschaftsordnung begründet, daß die Vertreter der deutschen  Gewerkschaften dieses Jahr wie 1899 in Frankfurt   in ungewöhn lich ernster Situation zu ihrer ernsten Arbeit zusammenkommen. Der Frankfurter   Gewerkschaftskongreß fiel in die Tage des heißen Ringens um die Zuchthausvorlage, die bestimmt war, die Gewerk­schaftsorganisationen zu meucheln, dem wirthschaftlichen Kampfe der Ausgebeuteten unerträgliche Fesseln anzulegen, die aber kaum einen Monat später dank dem Aufmarsch des gewerkschaftlich und politisch organisirten Proletariats im Reichstag zur Strecke gebracht wurde. Der Stuttgarter   Gewerkschaftskongreß tritt in den Zeiten der Krise und des geplanten Zollwuchers zusammen; der Krise und des ge­planten Zollwuchers, die ebenso legitime Kinder der tapita listischen Ordnung wie das Zuchthausgesetz mit harter, wür gender Faust das blühende Gewerkschaftsleben schädigen und bedrohen. Und doch! Nicht verzagender und versagender Kleinmuth ist es, den die Träger und Vorkämpfer der deutschen   Gewerkschafts­bewegung angesichts der Schwierigkeiten empfinden, mit dem die Gegenwart die Organisationen bedenkt, welche die Zukunft für sie im Schooße birgt. Was sie beseelt, ist bei allem fühlen Wägen und Erwägen der thatsächlichen Verhältnisse leidenschaftliche Arbeits­lust, siegesgewisse Kampfesenergie. Das aber mit Fug und Recht. Lehrt nicht ein noch so flüchtiger Blick auf die Geschichte, auf das Leben der deutschen   Gewerkschaftsbewegung, daß ihre Entwicklung fraftvoll aufwärts geht?

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Es stieg die Mitgliederzahl der zentralisirten Gewerkschaften von 277659 im Jahre 1891 auf 680427 im Jahre 1900. Die einzelnen Verbände bauten ihre Organisation besser aus, festigten sie immer mehr und steigerten durch geeignete Unterstüßungs­einrichtungen 2c. ihre werbende Kraft auf die Massen und ihre Kampfestüchtigkeit. Das Anschwellen der Ausgaben spiegelt ge= treulich die vermehrte Leistungsfähigkeit wieder. Es verausgabten die Gewerkschaften für Unterstüßungszwecke, Rechtsschutz inbegriffen, 1891: 234208 Mt., 1900: 2102699 Mt.; für ihr Verbands­organ 1891: 154015 Mt., 1900: 713338 Mt.; für die Streik­unterstüßung 1891: 1037789 m., 1900: 2625 692 Mt. Nicht weniger als die Riesensumme von 15598578 Mt. haben sie ins­gesammt in den Jahren 1891 bis 1900 für Rechtsschuß und Unter­stüßungszwecke aufgewendet, und 9237637 Mt. flossen aus ihren Kassen in dem gleichen Zeitraum der Streifunterſtüßung zu. Schritt für Schritt mit der Steigerung der Leistungsfähigkeit ist die Aus­dehnung des Wirkungsgebiets der Gewerkschaften gegangen, die Gründung von neuen Institutionen zum Schuße, zur Bildung des Proletariats. Arbeiterschutz- und Versicherungsgeseßgebung wurden

Buschriften an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

in den Bannkreis der gewerkschaftlichen Thätigkeit gezogen und Gewerkschaftskartelle, Beschwerdekommissionen, Arbeiter und Ge­werkschaftssekretariate 2c. organisirt.

Die Entwicklung der deutschen Gewerkschaften ist um so be­wundernswerther, als ihr in den Anfängen Wind und Wetter so ungünstig wie nur möglich waren, als ihr bis in unsere Tage hinein hinein dank der politischen Rückständigkeit Deutschlands  - Schwierigkeiten entgegenstehen, welche die Gewerkschaftsbewegung anderer Länder gar nicht oder wenigstens nicht in gleichem Maße fennt. Erst der langjährige brutale Druck des Sozialistengesezes, dann die langen Schrecken einer heftigen Krise und bis heute noch keine völlig gesicherte, loyal zugestandene Koalitionsfreiheit, viel­mehr ein steter Kleinkrieg gegen die Nücken und Tücken reaktionärer Vereinsgesetze, des groben Unfugs- und Erpressungsparagraphen, des Zuchthauskurses. Trotz alledem ein steter Aufstieg der Ent­wicklung! Der 1894 einsetzende Aufschwung des Wirthschaftslebens fand die Gewerkschaften gerüstet, die günstigen Verhältnisse dem Organisationsgedanken und seinen Zwecken nugbar zu machen. Von 1894 bis 1899 hat sich die Mitgliederzahl der Verbände mehr als verdoppelt, sie stieg von 252044 auf 596 419. Ihre Einnahmen und Ausgaben sind in noch stärkerem Verhältniß gewachsen, nämlich die ersteren von etwa 2,7 Millionen auf ca. 7,7 Millionen, die legteren von etwas über 2,1 Millionen auf fast 6,5 Millionen. Für Streifunterſtügung wendeten die Verbandskassen von Anfang 1895 bis Ende 1899 rund 54 Millionen Mark auf. Hundert­tausende von Arbeitern und Arbeiterinnen wurden allein in diesen Jahren durch die Aktion der Gewerkschaften vor einer Verschlechte­rung ihrer Arbeitsbedingungen bewahrt, errangen dank ihrer höheren Lohn, kürzere Arbeitszeit, gesündere Werkstatt, würdigere Behandlung, von anderen materiellen und kulturellen Vortheilen zu schweigen.

Und daß es nicht schwächliche, marklose Treibhausschößlinge sind, welche die Gewerkschaftsbewegung in der Gluth der guten Geschäftskonjunktur getrieben, das erweist sinnenfällig der Stand der Dinge während der lastenden Krise. Für das Jahr 1900, in welchem doch schon einzelne Industriegebiete im Zeichen des wirthschaftlichen Niederganges standen, meldet der Bericht der Generalkommission für die Gewerkschaften eine Mitgliederzahl von 680427, eine Ausgabe von 8088021 Mr., eine Einnahme von 9454075 Mr. Wohl muß sich das Ergebniß für das letzte Jahr ungünstiger gestalten, wo über das Proletariat die entfaltete Krise in voller Wuth einherbrauste. Allein soweit bereits die Jahres­abschlüsse einzelner großer Gewerkschaftsverbände vorliegen, er­härten sie gleichzeitig eine andere, erfreuliche Thatsache: der An­prall der Krise hat die Organisationen nicht in ihren Grund­vesten zu erschüttern vermocht, Alles in Allem haben sie ihm sieg­reich Stand gehalten. Hinsichtlich ihres Bestandes wie ihrer Leistungs­fähigkeit haben sie die Feuerprobe glänzend bestanden, und ihre unmittelbare Aktion wie ihr mittelbarer Einfluß hat nachweislich dazu beigetragen, daß für breite Arbeitermassen die verhängniß­vollen Wirkungen der Krise gemildert worden sind.

So darf sich für die deutschen Gewerkschaften zum Rückblick voll stolzer Genugthuung auf das Erreichte ein Ausblick fügen voll Hoffnungsreicher Zuversicht auf das noch zu Erringende. Und. wahrlich: nicht klein und nicht wenige sind die Aufgaben, welche das Arbeitsprogramm des 4. Gewerkschaftskongresses den Verbänden zu den alten Pflichten zuweist. Es ist uns unmöglich, an dieser Stelle die bedeutsamen Materien zu würdigen, welche zur Ver­