Nr. 19.

Die Gleichheit

12. Jahrgang.

Beitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3051) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart  

Mittwoch den 10. September 1902.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe geftattet.

Juhalts- Verzeichniß.

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Zum Parteitag der Sozialdemokratie in München  . Einige Bemerkungen zur Frage der Arbeiterversicherung. Von H. Molkenbuhr.- Textil­Textil­arbeiterinnenelend in Freiburg   i. Br. Von Louise Zietz  . Die Frauen­bewegung in Italien  . Von Dr. Robert Michels  . Aus der Bewegung. Feuilleton: Gedichte von Otto Krille  .

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Notizentheil: Arbeitsbedingungen der Arbeiterinnen. Weibliche Fabrik­inspektoren. Sozialistische Frauenbewegung im Auslande. Frauen stimmrecht. Genossenschaftsbewegung.

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Bum Parteitag der Sozialdemokratie in München  .

Erwartungsvoll, vertrauensvoll wird sich in der dritten September woche das Interesse des klassenbewußten deutschen   Proletariats auf München   konzentriren. Hier tritt die Sozialdemokratie zu ihrem heurigen Parteitag zusammen, um wie jedes Jahr ihr Wirken auf den verschiedensten Gebieten zu prüfen, das Arbeitsprogramm, die Stampfesstellung für die nächste Zeit festzulegen, Arbeitswerkzeuge und Waffen auf ihre Tüchtigkeit hin zu prüfen und für den Ge­brauch vorzubereiten.

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Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die provisorische Tagesordnung die Grundlage für die Berathungen bilden. Zwar sind in den letzten Wochen verschiedentlich Vorschläge zu einer Abänderung gemacht worden, von denen uns vor Allem die des Vorwärts" wohl be­gründet dünkten. Mit der Ausdehnung und Verschärfung des Klassenkampfes gewinnt das Ringen um das Wahlrecht in den Einzelstaaten eine immer größere Bedeutung. So wenig es ficherlich die Aufgabe eines Gesammtparteitags sein kann, die Haltung unserer Genossen in den Wahlrechtskämpfen der verschiedenen Vater­ländchen in ihren Einzelheiten schulmeisterlich zu bestimmen, so ge­wiß ist es seine Pflicht, in genauer Bewerthung der thatsächlichen Verhältnisse die großen allgemeinen Richtungslinien dieser Haltung festzulegen, wie sie sich aus unserer Grundauffassung ergeben. Ebenso drängt sich die sorgfältige Erörterung all der Mittel auf, die als Waffen des Proletariats im Stampfe um das Wahlrecht in Betracht tommen können. Dafür spricht die Frage nach der Zweckmäßig­keit des politischen Generalstreits, die im Anschluß an die Wahl­rechtsfämpfe in Belgien   und Schweden   in unseren Reihen von ver­schiedener Seite aufgeworfen worden ist. Was aber die eingehende Beschäftigung eines Parteitags mit dem Zentrum anbelangt, so ist sie unseres Erachtens nicht erst seit heute und gestern geboten. Nicht etwa als Ehrung dieser Partei patentirten Arbeiterverraths, wohl aber in Würdigung der Thatsache, daß das Zentrum die einzige bürgerliche Partei ist, die voraussichtlich noch sehr lange Jahre große Arbeitermassen im Gefolge und an der Nase führt. Und dies ist das Bedeutsame und Entscheidende: nicht der brutalste wirthschaftliche Druck ist es, nicht die größte Rückständigkeit wie bei den politischen Heloten, welche das ländliche Proletariat dem Junkerthum stellt, welche diese Massen an das Zentrum fesselt; es ist vielmehr eine geistige Macht, die Macht einer in sich geschlossenen, festgefügten Weltanschauung, die den Einzelnen gleich­sam von der Wiege bis zum Grabe hält.

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Aber trotz Allem können wir wie die Dinge jezt liegen- nicht befürworten, daß die beiden hervorgehobenen Fragen auf die Tagesordnung der Münchener   Berathungen gesezt würden. Der

Buschriften an die Rebaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Bettin( 8undel), Stuttgart  , Blumen­Straße 34, III. Die Expedition befindet sich in Stuttgart  , Furthbach- Straße 12.

Parteivorstand war durch den Beschluß des Lübecker   Parteitags verpflichtet, die Behandlung der Materien Arbeiterversicherung und Kommunalpolitik in die Wege zu leiten. Es ist in der Folge nichts geschehen, um die Erörterung der Wahlrechts- und der Zentrumsfrage vorzubereiten. Ihre Diskussion aber aus dem Steg­reif, ohne Vorbereitung in der Presse und in Versammlungen, ohne tief eindringendes Referat, das sich auf gründliche Studien stüßt, scheint uns mit Rücksicht auf die Wichtigkeit und Komplizirtheit der aufzurollenden Probleme nicht ersprießlich. Diese Sachlage sollte davor warnen das sei nebenbei bemerkt-, ohne nachweisbare Nothwendigkeit den Parteivorstand im Voraus betreffs der Tages­ordnung eines Parteitags zu binden.

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Was die zur Berathung vorgesehenen Punkte anbelangt, so werden zweifelsohne Referat und Debatten über die bevorstehenden Reichstagswahlen das höchste Interesse beanspruchen. Es gilt, flar zu machen zu der großen Schlacht, die unter der Losung aus­gefochten wird: Gegen den Zollwucher! jener großen Schlacht, an deren siegreichem Ausgang das Proletariat wirthschaftlich wie politisch ein zwingendes Lebens- und Klasseninteresse hat. Es handelt sich ja um ein Höheres, als um die Abwehr der verbrecherischsten wirth­schaftlichen Ausplünderung der proletarischen Massen allein: um die Vertheidigung des wirthschaftlichen Bodens, auf dem die Befreiung des Proletariats heranreift; um die Niederzwingung der bösartigsten politischen Reaktion, welche sich der ringenden Arbeiterklasse entgegen­stemmt. Und weil dem so ist, so drängt die in Deutschland   ge= gebene geschichtliche Situation wie unsere prinzipielle Auffassung dazu, daß auch der nächste Wahlkampf von der Sozialdemokratte mit der alten grundsätzlichen Schärfe geführt werden muß. Ein anderer Umstand wirkt in der gleichen Richtung. Die Wahlparole wird weite, neue Bevölkerungskreise aus politischem Stumpfsinn und Wahnglauben reißen, in Berührung mit der Sozialdemokratie bringen, als Mitläufer" um die rothe Fahne schaaren. Nicht blos als vornehmste Vertheidigerin ihrer wirthschaftlichen und po­litischen Augenblicksinteressen muß ihnen unsere Partei nahen, sondern zugleich als Kämpferin für eine neue Gesellschaftsordnung, als Trägerin einer neuen Weltanschauung. Zu der Werbung für den Tageskampf muß sich die Aufklärung über unser Endziel gesellen.

Es versteht sich am Rande, daß alle grundsägliche Klarheit und Wucht, mit welcher die Sozialdemokratie den Wahlkampf als Klassenkampf führen wird, ihr Eintreten für bürgerliche Zollgegner bei Stichwahlen nicht ausschließt. Wahrhaftig nicht dem kleineren Uebel" zu Liebe, dafür aber dem größeren" zum Leide. Von revisionistischem Schiedam   berauscht, haben politische Nip van Winkles im bürgerlichen Lager den grotesken Traum von einem Kartell der Linken" geträumt. Sollte dieser Traum der Erwähnung werth gehalten werden, so bringt er es sicherlich höchstens zu einem schallenden Heiterkeitserfolg. Der Parteitag wird auch nicht den leisesten Zweifel darüber lassen, daß die Sozialdemokratie un­gemausert" und" unrevidirt" als Partei des proletarischen Klassen­kampfes in die Wahlschlacht zieht und nicht als Theil eines Kuddel­muddels von Handelsvertragsfreunden".

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Ein umfangreiches, schwieriges und ungemein wichtiges Gebiet " praktischer Arbeit" betritt der Parteitag mit der Behandlung der Frage: Arbeiterversicherung. Ueber die schreiende Unzulänglich­feit der bestehenden Versicherungseinrichtungen, die Nothwendigkeit, dieselben gründlich zu reformiren und zu vervollständigen durch Ar­beitslosenversicherung, Witwen- und Waisenversorgung, ausreichende