„ Mit der Oberflächlichkeit, die unserer bürgerlichen Frauen bewegung eigen ist, hat man es bis jetzt verstanden, die sozialdemo= fratische Partei im Allgemeinen und Troelstra im Besonderen als Gegner des Frauenwahlrechtes zu brandmarken, obgleich unsere Partei das Frauenwahlrecht getreu den Beschlüssen des internationalen Kongresses stets auf ihrem Programm gehabt hat und dafür tämpft. Die Gründe, die für jene unwahre Behauptung angeführt werden, bestehen unter Anderem darin, daß die Partei bei der Zusammensetzung des Niederländischen Komites für allgemeines Wahlrecht es wünschenswerth erachtete, die Agitation des Romites für das allgemeine Wahlrecht nicht an die Forderung der Aufnahme des Frauenwahlrechtes in die Verfassung zu binden, weil dadurch verschiedene Freunde der Verfassungsrevision vom Kampfe dafür abgehalten werden könnten. Außerdem erkannte man, daß die Bewegung für Frauenwahlrecht sich auf einer weniger vorgeschrittenen Entwicklungsstufe befindet, als die für Männerwahlrecht, so daß beide nicht unzertrennlich miteinander verbunden werden konnten, weil das allgemeine Wahlrecht für Männer mehr Aussicht auf Verwirklichung hatte, als das für Frauen. Dazu kommt die Befürchtung, daß von bürgerlicher Seite beabsichtigt werde, Mißbrauch mit der Forderung des Frauenwahlrechtes zu treiben dadurch, daß man nicht das allgemeine Frauenwahlrecht, sondern Damen " wahlrecht verlangt, das Wahlrecht für die gebildete Frau", das heißt eine Verstärkung des bürgerlichen Elementes unter den Wählern; der Bourgeoisie doppeltes Wahlrecht, während man der Arbeiterklasse noch nicht einmal halbes Wahlrecht gewährt."
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Der Artikel beruft sich zum Schlusse auf die einschlägige Resolulion der Münchener Frauenkonferenz, in welcher das Interesse des proletarischen Klassenkampfes den speziellen Interessen der Frauen vorangestellt wird. Uns will bedünken, daß diese Berufung mit Unrecht geschieht. Die angezogene Resolution besagt ausdrücklich, daß bei Kämpfen für die Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes das Frauenstimmrecht gefordert und in der Agitation grundsäßlich festgehalten und mit allem Nachdruck vertreten werden muß. Wie es scheint, haben aber unsere holländischen Genossen die Forderung des Frauenstimmrechtes verschiedenen Freunden der Verfassungsrevision" zuliebe fallen lassen und auch aus der Agitation so gut wie ausgeschieden. Sollte dies der Fall sein, so würde ihre Haltung nicht durch den zweiten Absatz der Münchener Resolution gerechtfertigt. Diese besagt nichts anderes und in den Verhandlungen wurde das mit aller Schärfe betont als daß die sozialdemokratischen Vertreter eine Ausdehnung des Männerwahlrechtes nicht deswegen zurückweisen dürfen, weil im gegebenen Augenblick nicht auch das Frauenwahlrecht durchgesetzt werden kann, ein Ansinnen, das von frauenrechtlerischen Heißspornen erhoben worden ist. Der betreffende Passus soll also nichts weniger sein, wie ein Freibrief dafür, unter Berufung auf das höhere Interesse des proletarischen Klassentampfes die Forderung des Frauenstimmrechtes in Wahlrechtskämpfen in die Tasche zu stecken. Daß übrigens unsere holländischen Genossen allem frauenrechtlerischen Gegacker ungeachtet nicht für ein Zensuswahlrecht der Frauen eintreten, ist vollauf gerechtfertigt. Ein Zensuswahlrecht ist ein Recht des Besizes und nicht der Person. Ob der Geldsack sich in den Händen einer Frau oder eines Mannes befindet, ganz gleich: Sozialdemokraten können seine politische Macht nicht stärken. Eine derartige Ausdehnung des Wahlrechtes ist nicht demokratisch, sondern reaktionär.
Sittlichkeitsfrage.
Die Gemeingefährlichkeit des§ 361, 3. 6 des Reichsstrafgesetzbuchs und der Polizeiallmacht will offenbar die Polizei selbst auch dem stumpfsinnigsten, büttelfrömmsten Unterthanenverstand klar machen. In letzter Zeit haben sich die„ Mißgriffe" gehäuft, welche sich die Polizei auf Grund der genannten gesetzlichen Bestimmung zu Schulden kommen ließ, die ihr bekanntlich das Recht verleiht, eine " Frauensperson" wegen Verdachtes eines unsittlichen Lebenswandels zu verhaften. In Wiesbaden wurde eine Delegirte zur Generalversammlung des Bundes deutscher Frauenvereine, Frau von Decker, von der Straße weg mit den höflichen" Worten verhaftet:„ Sie, kommen Sie mal mit." Grund dafür: die Dame war durch Reformtracht, furzgeschnittenes Haar und langsames Gehen einer sittlich besonders empfindsamen Polizeiseele aufgefallen. Anfang November wurde in Weimar Frl. Dr. jur. Augspurg in ähnlicher Weise verhaftet und unter dem üblichen Auflauf zur Wache gebracht. Durch Stimme, Gesicht, Haartracht und Gesten" soll sie die tiefe Besorgniß eines ahnungsvollen Polizeiengels erregt haben. Der Darstellung, welche Frl. Augspurg von den Umständen ihrer Verhaftung giebt, stellt allerdings der Oberbürgermeister von Weimar auf Grund aftenmäßiger(!) Feststellungen eine andere Lesart gegenüber. Nach der=
| selben soll die Dame in der Pose einer Possenheldin ihre Verhaftung provozirt haben, um das Material gegen den§ 361, 3.6 zu vermehren. Allein Frl. Augspurg bestreitet die polizeiliche Darstellung auf das Entschiedenste, und wer den sachlichen Werth„ aktenmäßiger" polizeilicher Schilderungen kennt, der vermag der behördlichen Erklärung unmöglich mehr Glauben beizumessen, als den Aussagen der frauenrechtlerischen Führerin. Weit Schlimmeres noch hat sich in Riel zugetragen. Dort wurde im Sommer ein Mädchen verhaftet, das bei der Heimkehr von einer Gesellschaft im Streite mit einem Herrn etwas zu laut geworden war. Bei der Verhaftung, die in sehr schroffen Formen erfolgte und der die Betroffene Widerstand entgegensetzte, gingen die Kleider in Feßen. Am Tage darauf wurde die Verhaftete, die bei ihrer Mutter wohnte, entlassen. Einige Zeit darauf erhielt sie jedoch durch einen Schuhmann die Mittheilung, daß sie unter Kontrolle gestellt sei und sich binnen 24 Stunden eine von der Polizei genehmigte Wohnung suchen müsse. Die Unglückliche, die durch die verfügte Maßregel in das Dirnenthum hinabgestoßen worden wäre, ging, um sich diesem Schicksal zu entziehen, nach Elmshorn in Dienst. Durch einen Haftbefehl der Kieler Polizei wurde sie aus demselben gerissen, nach Kiel übergeführt und wie eine Prostituirte behandelt. Nachdem sie im Krankenhaus zur Untersuchung untergebracht worden, wurde sie in Haft genommen. Bei der Gerichtsverhandlung vermochte der als Zeuge geladene Schuhmann auch nicht einen entfernt ausreichenden Grund für all diese Maßnahmen anzugeben. Der Amtsrichter bezeichnete denn auch das Vorgehen der Sittenpolizei als unerhört und skandalös. Diese Erklärung hat gewiß ihren Werth, sie macht jedoch das entsetzliche Unrecht, die furchtbare Schmach nicht wieder gut, die dem bedauernswerthen Opfer der Polizeiallmacht widerfahren ist. Die Genossinnen haben seinerzeit in einer Eingabe an den Reichs tag die Streichung des§ 361, 3. 6 gefordert. Die betreffende Bestimmung stellt ein Ausnahmegesetz schmachvollster Art gegen das weibliche Geschlecht dar, ein Ausnahmegesetz, das obendrein durch Polizeibelieben verbösert werden kann. Der Kampf muß deshalb nicht blos dem Gesezesparagraphen, er muß auch der Büttelallmacht gelten.
Frauenbewegung.
Elizabeth Cady Stanton , eine der eifrigsten und verdienstvollsten amerikanischen Vorkämpferinnen für die Gleichbe rechtigung des weiblichen Geschlechtes ist in diesen Tagen in New York verstorben. Sie war 1815 in Johnstown( New York) geboren und begann schon im Jahre 1840 eine lebhafte Agitation für das acht Jahre später angenommene Gesetz, welches verheiratheten Frauen im Staate New York das Recht verlieh, Grundeigenthum zu erwerben. 1848 erließ sie den ersten Aufruf für einen Frauenkongreß, der im Juli desselben Jahres in Seneca Falls abgehalten wurde. Dort trat sie zum ersten Male mit der Forderung auf, den Frauen das Stimmrecht zu gewähren, und trotz starker Opposition wurde ihr Antrag angenommen. Von dieser Zeit an fand sich Frau Stanton 25 Jahre hindurch alljährlich vor dem Kongreß ein, um für den Erlaß eines Amendements der Verfassung zu Gunsten des Frauenstimmrechtes zu plaidiren. 1860 suchte sie die New Yorker Gesetzgeber zu veranlassen, Trunksucht für einen Scheidungsgrund zu erklären. Im Jahre 1861 wurde sie zur Präsidentin der Womans Loyal League erwählt und war von 1865 bis 1893 Präsidentin der Frauenstimmrechtsvereinigung. 1868 war Frau Stanton Kandidatin für den Kongreß und gab mit Susan B. Anthony das Blatt„ The Revolution" heraus. Sie schrieb zahlreiche Artikel für Zeitungen und Zeitschriften und hielt zahllose Reden in allen Theilen Amerikas , deren Gegenstand stets das Frauenstimmrecht war. 1895 wurde der 80. Geburtstag der Vorfämpferin für Frauenstimmrechte im Metropolitan Opera House feierlich begangen. Ihr Name wird einen Ehrenplatz in der Geschichte der Frauenbewegung behaupten.
Die Errichtung einer technischen Hochschule für Frauen in New York hat die Aufsichtsbehörde der Abtheilung für das Erziehungswesen der Stadt beschlossen. Sie wird die erste Institution ihrer Art in New York sein.
In das Lehrkollegium der Berliner Leffing- Hochschule iſt Frl. Helene Stöcker , Dr. phil. , eingetreten. Sie hat ihre Lehrthätigkeit mit einem Vortragszyklus eröffnet über„ Die Entwicklung der Frau im Leben und Dichtung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart".
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Das erste private Mädchengymnasium in Sibirien wurde in diesem Jahre in Tomst eröffnet.
Gegen die Mitgliedschaft von Frauen im Armenrath von Offenburg, die der Stadtrath dieser Gemeinde beschlossen hatte, erhob das badische Ministerium des Innern kein Bedenken.
Drud und Berlag von J. H. W. Die Nachf.( G. m. b. 5.) in Stuttgart .