flaren und sicheren Blick für das äußere Merkmal von Annas un­bezwinglicher Tattraft, welche sie einst veranlaßte, mit 15 Jahren bereits dem Sammt und der Seide ihres väterlichen Hauses zu ent­fliehen und mit fühler Überlegung einem wilden Kämpferleben ent­gegenzugehen, in welchem sie, trotzdem ihr nichts, weder Kerker noch Verfolgung, weder Enttäuschung noch Krankheit erspart blieb, stets und allerorten, ohne mit der Wimper zu zucken, um ihre Ideale weiter gerungen hat.

Bemerkenswert ist die Ansicht, welche Anna Kulischoff in diesem Prozeß über den Sozialismus und seine Aufgaben aussprach und aus welcher hervorgeht, wie sehr sie von den kleinbürgerlichen, un­bewußt doch von Guiseppe Mazzini beeinflußten Ideologen abstand, welche damals noch die Hauptmasse der italienischen Sozialisten­partei bildeten. Wie ich die Sache ansehe", sagte sie, hat der Sozialismus nicht die Aufgabe, bewaffnete Insurgentenbanden aus dem Boden zu stampfen, wohl aber muß er bereit sein, die Führung über diejenigen zu übernehmen, welche sich als natürliche Folge der heutigen sozialen Lage bilden werden. Das Volk willkürlich aufzu­wiegeln, damit es sich in bewaffnete Banden zusammenschließt, scheint mir keine volksfreundliche Handlung zu sein. Der Sozialismus aber ist mit dem Volke und für das Volk."*

Nach ihrer Freisprechung widmete sich Anna Kulischoff der Organisation und der Propaganda. Um aber ihr Leben fristen zu können und gleichzeitig den Armen mit Rat und Tat beizustehen, studierte sie in Neapel   Medizin und ließ sich nach bestandenem Examen und längeren Studien in Turin  , Zürich   und Paris   als praktische Aerztin in Mailand   nieder, wo sie sich nach ihrer kurzen und nicht glücklichen Ehe mit dem bekannten Sozialisten Andrea Costa  , welcher eine Tochter, nach dem Vater Andreina genannt, ent­stammte, zum zweitenmale vermählte, diesmal mit dem Leiter der ,, Critica Sociale  ", der nach dem allzu frühzeitigen Eingehen der " Rivista Internazionale del Socialismo", damals einzigen wissenschaft­lichen Zeitschrift des Sozialismus in Italien  , Filippo Turati  - auch diesmal nach freier Überzeugung ohne Standesamt.**

In Mailand   hatten sich die gebildetsten und im heutigen Sinne des Wortes wissenschaftlichsten Sozialisten zur Lega Socialista Milanese zusammengeschlossen. Filippo Turati   war ihr geistiges Oberhaupt. Die Critica Sociale  " wurde sofort nach ihrem Entstehen 1891 das Organ des Bundes. Die Lega trat warm für den Marxismus ein

*

Angiolini, loco cit., S. 114.

** Näheres hierüber in dem Aufsatz: Anna Kulischoff" in der Gleich­heit", 8. Jahrgang, Nr. 15 vom 20. Juli 1898.

Doch der Mann schien nichts zu hören. Von dem Kutscher begleitet, ging er durch den Laden in die Hinterstube. Dann fingen sie an, hinauszutragen.

In dumpfer Betäubung sah Mogensen, wie alle Möbel über die Kellertreppe geschleppt und auf den Wagen geladen wurden, Stück für Stück.

Zulegt tamen die Betten. Die Matraßen hatten die Leute auf die Erde geworfen.

Dann raffelte der Wagen wieder fort. Als Marie kurz darauf nach Hause kam, saß Mogensen ganz zusammengesunken auf der Kellertreppe.

Die Nacht brachten sie auf den Matraßen zu. Da lagen sie und hielten sich gegenseitig umschlungen. Marie versuchte zu trösten: ,, Ach Gotte doch", wiederholte sie, ach Gotte doch; aber wir kommen wohl noch darüber hinweg!"

"

Am nächsten Morgen, als die Mädchen über die Straße liefen, um Einkäufe zu machen, waren die Fensterläden des Grünkram­kellers noch geschlossen. Mogensens hatten inzwischen bei dem Bierkutscher Unterschlupf gefunden.

Kurze Zeit darauf hatten sie beide Stellung angenommen, er bei einem Fuhrherrn, sie als Mädchen für alles. Es war noch ein Glück, daß keine Kinder da waren. Und die Stellung beim Fuhrherrn ließ sie hoffen, daß sie mit der Zeit wieder zusammen­ziehen konnten, vielleicht konnte Marie dann eine Stelle annehmen, wo sie bloß am Vormittag hinzugehen brauchte.

Doch am Sonntag pflegen Mogensen und Marie im Frederiks­berger Garten spazieren zu gehen. Dann können sie lange auf einer Bank eng umschlungen dasigen, wie zwei junge Liebesleute.

,, Solch einen Garten müßte man haben", meint er dann. ,, Ja, das müßte man", sagt sie.

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und stellte sich jedem sogenannten Gefühlssozialismus von vornherein sehr ablehnend gegenüber. Leider hatten aber die übertreibungen der Mozzoni, welche freilich durchaus nicht in den Forderungen an und für sich, sondern einzig und allein an der übertriebenen Wertschätzung lag, welche sie ihnen zu geben bereit war, auf diese positivistische Gruppe der italienischen Sozialdemokratie insofern schlecht eingewirkt, als diese sich nun in ihrem Programm berechtigt glaubte, die Forde­rungen der Mozzoni, sowie der früheren sozialistischen   Programme des Fascio Operaio und der Rivista Internazionale etwas herabzustimmen. So werden im Programm der Lega Socialista Milanese nur folgende für die baldmöglichste Erreichung der sozialistischen   Gesellschaft not­wendigen Reformen genannt: Die vollständige Auflösung der alt­patriarchalischen Familie, die in den menschlichen Gewohnheiten und möglichst auch in den Gesetzen zu bewirkende Milderung der väter­lichen und ehemännlichen Allgewalt, die Freimachung der Ehe von den Banden der Kirche, das schnelle Wachstum der Ehescheidungen, die Einführung der Ehescheidung als Gesezesmöglichkeit, die freien Geschlechtsverbindungen aus Überzeugung und nicht aus Leichtsinn und der Zutritt der Frauen zu fast allen Berufen und sozialen Stellungen." Während das Programm der Lega hier­durch also den Frauen das Recht auf völlige öffentlichrechtliche Gleich­stellung mit dem Manne absprach, so betonte es andererseits wenigstens die familienrechtliche Emanzipation auf das allerentschiedenste. In der Familie sieht der Sozialismus eine freie Verbindung beider Ge­schlechter, welche mittels der wirtschaftlichen Gleichstellung zu einer vollständigen Gleichheit an Rechten und Befugnissen erhoben sind. Auch muß diese Verbindung vollständig auf( gegenseitiger) Wahl be­ruhen, damit beide Teile die freie Verfügung über ihre eigene Person und ihre erotischen Gunstbezeugungen behalten. Denn das liegt ſo­wohl im Interesse der individuellen Glückseligkeit als in dem der gesellschaftlichen Fortschritte als endlich auch in der allmählichen Verbesserung der Spezies."*

Es ist sehr interessant und zugleich sehr lehrreich, die Entwick­lung des Gedankens der sozialen Gleichstellung der Geschlechter im Schoße der sozialistischen   Partei Italiens   zu verfolgen. Diese Ent­wicklung geht Hand in Hand mit der Entwicklung der praktischen Frauenarbeit auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Befreiungskampfes.

Inzwischen begann auch in Italien   die Großindustrie lang­samer zwar als in England, Belgien  , Frankreich   und Deutschland  , aber immerhin schnell genug zur Weiterverelendung der Massen um sich zu greifen und immer mehr Frauen mit ihren Schlingarmen zu erfassen. 1881 betrug die Zahl der allein in der Textilindustrie beschäftigten Frauen und Mädchen der Volkszählung zufolge nicht weniger als 1601669, unter denen sich noch dazu 153 185 Kinder im Alter zwischen 9 und 14 Jahren befanden,** eine horrende Ziffer, wenn man bedenkt, daß ganz Süditalien   und die Inseln fast reine Ackerbaubevölkerung haben. Dabei waren die Frauenlöhne außergewöhnlich niedrig. Während zum Beispiel in der Leinen- und Flachsindustrie die Männer 3,20 Lire täglich erhielten, erreichten die Löhne der Frauen nur eine Höhe von 1,05 Lire. Und in den übrigen Industriezweigen war es fast aus­nahmslos ebenso, immer bekam die Frau für eine gleiche Arbeits­leistung nur ein Drittel oder höchstens die Hälfte von dem Lohne des Mannes.*** Trotzdem verharrte das weibliche Proletariat in stumpfer Resignation. Da, als die ersten, rafften sich die emilianischen Reis­arbeiterinnen auf. Dezimiert von der miasmenerfüllten Luft der nassen Reisfelder, den Hungerlöhnen und dem Pauperismus taten diese mutigen Frauen sich im Mai 1890 zusammen und erklärten, für 60 bis 65 Centesimi pro Tag nicht mehr weiter arbeiten zu wollen. In dem Städtchen Conselice   in der Provinz Ferrara   vereinigten sich 500 Reisarbeiterinnen zu der Forderung eines Tagelohns von einer Lira( 80 Pfennig). Ein hartnäckiger Kampf folgte, zunächst nur ein Lohnkampf, in welchem die Brotgeber sich weigerten, mehr als 80 Centesimi täglich zu zahlen. Als aber die Reismädchen auf ihrem Anfinnen verharrten und dasselbe, erbittert durch die Engherzigkeit der adeligen und bürgerlichen Latifundienbesitzer, durch Aufzüge und andere Demonstrationen bekräfteten, da rückten zum Schuße des Eigentums" Soldaten ein und schossen in die Menge. Auf diese Weise endete der erste große aufsehenerregende Ausstand italienischer Reis­arbeiterinnen. Trotzdem aber war hier wie anderswo die Agitation unter den Arbeiterinnen im ganzen noch eine unendlich schwierige. Denn die risaiole" nahmen von jeher eine Sonderstellung ein. In

* ,, La Critica Sociale." Mailand  , 20. April 1891.

** Anna Kulischoff: Schwestergrüße aus Italien  , Gleichheit", 11. Jahr­gang, Nr. 10 vom 8. Mai 1901.

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*** Anna Kulischoff: Il Monopolio dell'Uomo". Mailand 1894. 2. Aufl. Vergleiche auch Ersilia Majno Bronzini  : Relazione sul Lavoro delle Donne", Mailand   1900.

+ Angiolini, loco cit., S. 157.