Sigung einmal zur Präsidentin gewählt werden sollte entsandt wurde, verbürgte allein schon ein weiteres Fortschreiten des feministi­schen Gedankens im italienischen   Sozialismus. Auch die anarchistische Gruppe auf dem Genueser Parteitag wählte, auch das soll noch er­wähnt werden, eine Frau in den Parteivorstand: die Arbeiterin Angela Pezzotta.*

Herrschte in der Frage der politischen Gleichberechtigung der Frau innerhalb der sozialistischen   Partei noch eine bedauernswerte Un­Klarheit und Unentschiedenheit, so brachte das Jahr 1892 doch noch eine nicht zu unterschäßende Anerkennung der Frau als wirtschaftlich gleichberechtigte. Der erste Kongreß der italienischen   Arbeiter­fammern( Gewerkschaften), welcher in den letzten Junitagen des Jahres in Parma   tagte, sprach sich rückhaltslos für das Prinzip: Gleiche Löhne für gleiche Arbeit! aus,** und das, ohne daß eine Frau am Kongreß teilgenommen und ihre Rechte verteidigt hätte. Gleichzeitig erklärte der alte liebenswürdige Venetianer Internationalist Carlo Monticelli  , auch die Wissenschaft verlange gebieterisch die volle Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne. Denn das Gesetz der regressiven Progression, durch welches die Menschheit im Laufe der durchlebten historischen Epochen schließlich wieder zu ihren ursprünglichen Formen zurückkehre, ohne dabei des inzwischen errungenen geistigen Fortschritts verlustig zu gehen, werde von selbst bewirken, daß zwischen Mann und Weib wie das ja heute noch bei den Wilden der Fall sei- außer der Geschlechtsverschiedenheit keine wesentlichen Unterschiede mehr bestehen tönnten.***

Auf dem durch die im Vorjahre vollzogene entgiltige Trennung von den Anarchisten äußerlich geschwächten, innerlich aber erstarkten Parteitag der Sozialisten zu Reggio Emilia   im Jahre 1893 finden wir fünf weibliche Delegierte, welche zum Teile sogar von männlichen Sektionen entsandt worden waren. Es waren dies die vier Mailände­rinnen Rosa Genoni  ( Bandwebergewerkschaft), Luigia Dell' Avalle ( weibliche Versicherungsgesellschaft Genio e Lavoro"), Ida Fontana ( Versicherungsgesellschaft Sorelle di Lavoro") und Anna Kulischoff ( Lega Socialista Milanese), sowie Maria Biggi vom sozialistischen  Verein zu Lissa Parmense. Der Kongreß selbst aber bedeutete eine Sammlung aller vorhandenen Kräfte zu weiteren Erfolgen.

Die Jahre 1892 und 1893 bezeichnen für die Geschichte des italienischen   Sozialismus überhaupt einen Höhepunkt, wie er dann erst 1900 wieder kommen sollte. Sieg folgte auf Sieg. Nicht der geringsten einer war die fast vollständige Eroberung der öffentlichen Meinung, die sich damals vollzog, und die durch alle Kämpfe hindurch sich mehr oder weniger bis heute erhalten hat. Bei einer damals ( 1893) von der Zeitschrift La Vita Moderna" veranstalteten Enquete wurde die Presse durch die sehr unerwartete Feststellung der Tatsache überrascht, daß sich mit nur dreißig Ausnahmen die gesamte Ge­lehrten und Künstlerwelt Italiens   als dem Sozialismus sehr sym­pathisch gegenüberstehend erklärte.++ Damals war das vornehmste Gelehrtenorgan Italiens  , die Nuova Antologia", fast ein marristisches Diskussionsblatt zu nennen. Die Universitäten bevölkerten sich zu­sehends mit sozialistischen Professoren. Zwei der größten Leuchten italischen Geistes, der Kriminalist Enrico Ferri   und der Novellist Edmondo De Amicis  , gingen zum Sozialismus über und widmeten sich sogar der praktischen Propaganda der Idee.

In dieser Zeit erregten in der literarischen Welt Europas   auch zwei Frauen Aufsehen, von denen die eine, die unter dem Pseudonym Bruno Sperani   schreibende Dichterin Beatrice Speraz  , sich zum Sozialismus bekehrte, und die andere, die schon genannte Ada Negri  , sich als proletarische Poetin überhaupt bekannt zu machen begann. Während Ada Negri   in ihrer 1892 veröffentlichten Gedichtsammlung Fatalità" sich zur Sängerin der sozialen Leiden und zur Heroldin der wirt­schaftlichen Befreiung machte, mahnte Bruno Sperani  , dieser Augen­blick allgemeinſter geistiger Expansion müsse doch auch die Frau auf­rütteln!+++

Die geistige Ermunterung, die der Proletarierin von der Poetin zu teil wurde, vereint mit der tätigen Organisationsarbeit und dem erwachten Klassengewissen der Arbeiterinnen, wirkte Wunder.

In Norditalien   finden wir 1893 die ersten großen weiblichen Be­

*

Angiolini, loco cit., S. 174.

** Resoconto etc., loco cit., S. 3.

*** Carlo Monticelli  :" Socialismo Popolare", 4. Auflage, Florenz  1902, S. 73 ff.

+ Il Congresso di Reggio Emilia  , Verbale Stenografico  , Mai­ land   1893.

++ Näheres siehe bei Angiolini, loco cit., S. 194, beziehungsweise in dem Werkchen: Il Socialismo giudicato da Letterati, Artisti e Scien­ziati Italiani", con prefazione di Gustavo Macchi. Mailand  , Aliprandi. +++ Bruno Sperani  : Le Donne che scrivono" in" Giù le Armi!" Mailand 1894.

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rufsgenossenschaften auf sozialistischer Basis. Die Weberinnen im Bergamasco und Cremonese, die für ihre vierzehn bis sechzehn­stündige Arbeit mit 40 bis 50 Centesimi Tagelohn abgelohnt wurden, vereinten sich nach einem siegreich durchfochtenen Streit zu gegen seitigem Schuh und Truz.* Am großartigsten offenbarten sich aber die Frauen 1893 in der sozialistischen   Bewegung Siziliens  . Der Sozialismus war sehr plötzlich und leider auch ziemlich unver­mittelt ebenfalls an die sikulischen Gestade verschlagen worden und hatte dort in wahrhaft erstaunlich kurzer Zeit das gesamte Prole­tariat und einen sehr großen Teil der gebildeten Stände der Insel ergriffen. Im Handumdrehen war der vierte Stand zu den soge­nannten Fasci( Bünde  ) organisiert. Eine wie große Rolle die Frauen in dem nun darauf folgenden Klassenkampfe, der dem sizilianischen Volkscharakter sowie der Jugend des dortigen Sozialismus ent­sprechend, freilich vielfach mit Formen des ungezügeltsten Indivi­dualismus verbrämt war, spielten, davon wissen die Historiographen der Bewegung nicht genug zu berichten.

Ins Auge springend war vor allen Dingen die starke Beteiligung der Frauen an den Fasci. Der Fascio in der Stadt Sommatino  , welcher im Ganzen 1800 Mitglieder zählte, hatte eine Sektion von 200 Frauen,** der in der alten albanesischen Kolonie Piana de' Greci, einem Zentrum des sizilianischen Sozialismus, umfaßte neben 2500 Männern etwa 1000 Frauen," *** der von Corleone   neben 4000 Männern 2000 Frauen.+

Was die sizilianischen Frauen vor allem auszeichnete, das war der wahrhaft glühend zu nennende Eifer, mit dem sie ihre Sache verfochten. Bei den Wahlen waren sie es, die die Männer dazu ermunterten, für den sozialistischen   Kandidaten zu stimmen. In den Versammlungen rühmte man ihnen ihre klare und laute Stimme, ihre natürliche Unbefangenheit, sowie die Wärme nach, mit der sie sprachen. Maria de Felice Giuffrida, die Tochter des großen Dr­ganisators, damals ein Mädchen von nur 14 Jahren, riß durch ihre glühende Begeisterung, sowie ihre ungewöhnliche Beredsamkeit die Massen, die ihr gleich einer Prophetin anhingen, mit sich fort.++ Und von den Bäuerinnen des Städtchens Corleone   erzählt uns der sicherlich nicht im Verdacht günstiger Voreingenommenheit stehende bürgerlich radikale Mailänder   Publizist Adolfo Rossi  , daß sie die Grund­begriffe des Sozialismus selbst ihren unmündigen Kindern lehrten.*

Aber der Sozialismus des sizilianischen Bauernvoltes 1893 hatte zugleich auch etwas sehr Kindliches an sich. Seine Durchsetzung mit orientalischem Wesen und kindlich- religiösem Aberglauben und Autori­tätsanbetung berührten den klassenbewußt kämpfenden norditalienischen Proletarier schon damals beinahe wie eine Erniedrigung des ernsten Kampfes ums Dasein. Vielleicht ist dieses Urteil aber doch insofern ein wenig hart, als der sozialistische Gedanke sich den verschiedenen Volkscharakteren nach in den einzelnen Rassen naturgemäß auch ver­schieden umsetzen darf und daher die Verbindung von Marrismus und Sizilianismus an und für sich zwar originell, aber feineswegs als miteinander unverträglich anzusehen ist. Jedes Volk paßt die herantretende Weltanschauung seinem innersten Wesen an, und wenn es sich ihren Inhalt vielleicht auch großenteils zu eigen macht, so bleiben die äußeren Formen, unter denen sich dieser Inhalt verbirgt, dennoch stets oder wenigstens doch auf unabsehbar lange Zeit hin­aus die althergebracht- nationalen. Freilich ganz zu eigen gemacht hatten sich die sizilianischen Fasci den Sozialismus nicht, und in dem Kompromiß, welchen sie mit ihm schlossen, steckte und das hat sich bis auf den heutigen Tag noch nicht vollständig gehoben etwas für uns Fremdes.

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Den Führern der Bewegung brachten Männer und Frauen eine fast abergläubische Verehrung entgegen. In ihrer naiven Verquickung der sozialen Frage mit religiösen Zutaten glaubten sie, die geistigen Leiter der Bewegung, De Felice, Bosco, Verro und Barbato, seien direkt vom Himmel herabgestiegen, um das arme Volk auf Erden zu erlösen. Bei ihren Umzügen sah man oft das Kruzifix mitgetragen werden, neben der roten Fahne und den Tafeln, auf denen Marysche Sentenzen standen. Zu Vorträgen holten Männer wie Frauen mit Musit, Fackeln und Lampions ihre Führer ab.**+ Viele warfen sich

* Rapporto al Congresso Internazionale di Zurigo( 1893) sulla Costituzione e sull'Azione del Partito dei Lavoratori Italiani, Mai­ land   1893. S. 15.

** Adolfo Rossi  : Die Bewegung in Sizilien  ", Stuttgart   1894, Diez. S. 35.

*** Rossi, loco cit., S. 59.

Rossi, S. 73.

++ Rossi, S. 8. ttt Rossi, S. 30. *+ Rossi, S. 74. **+ Rossi, S. 35.