Nr. 21.

Die Gleichheit

13. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3189) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart

Mittwoch den 7. Dktober 1903.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe geftattet.

Inhalts- Verzeichnis.

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Der Parteitag zu Dresden . Die Erhebungen über die Arbeitszeit er­wachsener Fabrikarbeiterinnen in Preußen im Jahre 1902. II. Von M. Gr. Aus der Bewegung. Frauenarbeit im Gartenbau. Von F. Reitt.

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Feuilleton: Mumu, das Hündchen des Taubstummen. Erzählung von J. S. Turgenjew . Aus dem Russischen übersetzt von L. A. Hauff.( Fort­setzung.)

Notizenteil: Der Zehnstundenkampf der Textilarbeiter in Crimmitschau . Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Frauenstimmrecht. Frauenbewegung. Quittung.

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Der Parteitag zu Dresden .

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Niemand wohl von allen, die an dem Dresdener Parteitag teilgenommen haben, blickt mit dem Gefühl ungemischter Befriedi­gung auf ihn zurück. Bei der Beratung der zwei Fragen, welche den größten Teil seiner Zeit in Anspruch nahmen, waren die sach­lichen vielfach mit persönlichen Momenten verknüpft, um nicht zu sagen von ihnen vergiftet. Zumal bei den Debatten über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse drängten sie sich breit, überwuchernd in den Vordergrund. In den Ausführungen Brauns und Bernhards nahmen sie sogar den Charakter eines seit langem wohlvorbereiteten Rachefeldzugs gegen den Mann an, der mit rücksichtsloser, aber dankenswerter Schärfe auf den groben Unfug der sozialdemokratischen Mitarbeit an der Zukunft" hin­gedeutet hatte. Die Wunden, welche Mehring als Gegner vor reichlich zwanzig Jahren der Partei geschlagen hat, wurden auf­gerissen; was er als Privatperson, als Freund gegen den Freund gefehlt haben soll, das zerrten geschäftige Hände gierig hervor. Eindrücke, Stimmungen, Gedankenreihen tauchten beim Aufeinander­plazen der Geiſter auf, so niederdrückend und schmerzlich, wie sie noch kein Parteitag in uns ausgelöst hat.

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Und doch! Und doch können wir uns nicht zu denen gesellen, welche den Dresdener Parteitag als einen verlorenen, wertlosen bejammern. In der Frage der Taktik hat er sehr wichtige Arbeit geleistet, welche die Erfüllung unserer praktischen Tagesaufgaben erleichtern und fördern wird. Er hat in der Frage der Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse einen Reinigungsprozeß eingeleitet, dessen Dringlichkeit und Bedeutung erst im Lichte der bekannten Veröffentlichung in Nr. 52 der Zukunft" scharf umrissen hervortritt.

Gewiß: wir hätten gewünscht, daß die Auseinandersetzungen über die umstrittene Materie weniger persönlich und vor allem weniger zeitraubend gewesen wären. Allein, daß es anders kam, daran tragen lediglich jene Genossen die Schuld, welche an Stelle des Versuchs zur sachlichen Rechtfertigung ihrer Auffassung und Haltung den tückischen Ueberfall gegen die Person Mehrings sezten. Da auch die größten Sünden seinerseits noch keine Entschuldigung, geschweige denn ein Rechtfertigungsgrund für die Mitarbeit von Sozialdemokraten an der Zukunft" wären, so trägt das Hinüber­zerren der Diskussion von dem sachlichen auf das persönliche Gebiet das Brandmal persönlicher Nache. Dies aber um so un­verwischbarer, als in der Sache selbst die betreffenden Genossen einen fluchtartigen Rückzug antraten, der im schroffsten Gegensatz stand zu der seit Monaten angekündigten und inszenierten Protest­aktion gegen den Ukas" des Parteiregenten".

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Zuschristen an die Redaktion der Gleichheit" sind zu richten an Frau Klara Zetkin ( 8undel), Wilhelmshöhe, Post Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

Wir bedauern es tief, daß das gekennzeichnete Vorgehen einzelner den Parteitag zum Tummelplatz eines Tuns erniedrigte, das mit seinem Drum und Dran an die Gepflogenheiten von Kaffeekranz­schwestern, schnüffelnder Detektives und schlechter Komödianten er­innerte. Unserem Bedauern steht jedoch ein Trost gegenüber. Was sich da spreizte, war nicht Bein vom Vein und Fleisch vom Fleisch der Sozialdemokratie. Nur Elemente, in deren Seele der sozia­listische Gedanke nicht zu fruchtbarem Leben aufgegangen ist, die der große, läuternde Hauch unseres Parteiseins nicht berührt hat, nur der Sozialdemokratie Wesensfremde: konnten ohne Empfindung für die Würde des Parteitags, für die Verantwortlichkeit gegen­über den Massen, die in der sozialistischen Bewegung mehr er­blicken als ihre politische Interessenvertretung, ihre Erzieherin zu einem höheren Lebensinhalt, ihre persönliche Angelegenheit derart über die Sache der Partei stellen, wie es die Genossen Bernhard und Heinrich Braun getan. Bernhards innerlicher Zusammenhang mit unserer Partei reicht offenbar nicht über das seichte Verständnis jenes Kaffeehaus- Literatentums von Berlin W. hinaus, das von der eigenen Bedeutung tief durchdrungen durch weit mehr und festere Fäden mit der Dekadenz der Bourgeoisie als mit der gesunden Kraft des aufstrebenden Proletariats verbunden ist. Dr. Heinrich Braun aber ist abgesehen von einer Frist unter dem Aus­nahmegesetz bis zur Zeit, wo er eine Reichstagskandidatur fand, weder als Kämpfer auf dem politischen Schlachtfeld der Sozial­demokratie gestanden, noch als Schaffender in ihrer wissenschaft­lichen, theoretischen Werkstatt tätig gewesen. Die sozialpolitischen Zeitschriften, die er gegründet und glänzend geleitet hat, stehen durchaus außerhalb der sozialdemokratischen Partei. Von berufenster Seite fonnte ihm in der Leipziger Volkszeitung " der Vorwurf entgegengeschleudert werden, daß er für die Partei nichts geleistet, daß er nur hinter den Kulissen gehezt habe.

Wie hart auch das obenstehende Urteil von den wesensfremden Elementen flingen mag: was seither Herr Harden an Material zu der sogenannten Zukunftsdebatte" in die Öffentlichkeit geworfen hat, bestätigt es vollauf. Kein Hauch vom frühlingsfrischen Odem des Sozialismus, nur beklemmender Fäulnisgeruch der verwesenden bürgerlichen Welt umweht es. Auch wenn man von vornherein in Abrechnung bringt, was die Veröffentlichung an Uebertreibungen und Verdrehungen etwa enthält, bleibt mehr als genug unanfecht­bares, Anklagendes zurück. Bis zur Stunde ist es nur unzulänglich oder auch gar nicht entkräftet. Genosse Bernhards neuerliche Er­klärung steht im Widerspruch zu seinen Dresdener Versicherungen. Die Antwort des Genossen Göhre deckt sich nicht vollständig mit seinen Ausführungen vor dem Parteitag. Dr. Heinrich Braun trägt zwar sehr beweglich den Jammer seiner Enttäuschung und sittlichen Entrüstung vor über die endlich entdeckte grenzenlose moralische Verworfenheit seines Anklägers. Den schweren Vorwurf dagegen, dem Parteitag gegenüber bewußt unaufrichtig gewesen zu sein, sucht er nur durch jesuitische Wortklaubereien abzuwehren.

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Mag sein, daß bis zum Erscheinen dieser Zeilen die in der Zukunft" enthaltenen Anwürfe noch befriedigend zurückgewiesen werden, soweit sie sich auf das Verhalten der drei Genossen dem Parteitag gegenüber beziehen. Aber auch dann bleibt noch der infamierende Peitschenhieb Hardenscher Beschuldigung:" In dieser ehrenwerten Volksversammlung saßen mindestens acht Menschen, die mich kennen, mich umwarben, Gefälligkeiten jeglicher Art von mir erbettelt und mich als Dank für nahrhaftere Speise, die sie