Nr. 22.

Die Gleichheit.

13. Jahrgang.

Zeitschrift für die Intereffen der Arbeiterinnen.

Die Gleichheit" erscheint alle 14 Tage einmal. Preis der Nummer 10 Pfennig, durch die Post( eingetragen unter Nr. 3189) vierteljährlich ohne Bestellgeld 55 Pf.; unter Kreuzband 85 Pf. Jahres- Abonnement Mt. 2.60.

Stuttgart

Zuschristen an die Redaktion der Gleichheit" find zu richten an Frau Klara Zettin( 3undel), Wilhelmshöhe, Post Mittwoch den 21. Dktober Degerloch bei Stuttgart . Die Expedition befindet sich in 1903. Stuttgart , Furtbach- Straße 12.

Nachdruck ganzer Artikel nur mit Quellenangabe geftattet.

Auf der Anklagebank.

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Inhalts- Verzeichnis.

Die Wurmkrankheit im Ruhrrevier. Von Louise Zietz

. Zur Frage der Erstattung von Invalidenversicherungsbeiträgen im Falle der Eheschließung. Von H. Sch. Aus der Bewegung. Feuilleton: Mumu, das Hündchen des Taubstummen. Erzählung von J. S. Turgenjew . Aus dem Russischen übersetzt von 2. A. Hauff.( Fort­setzung.)

Notizenteil: Der Behnstundenkampf der Textilarbeiter in Crimmitschau. - Gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation. Sozialistische Frauen­bewegung im Ausland. Frauenbewegung.

Auf der Anklagebank.

Das furchtbare Trauerspiel eines Herzzerreißenden Kinder­schicksals hat jüngst in Bayreuth mit dem Prozeß gegen den ent­arteten Prügelpädagogen Dippold seinen Abschluß gefunden. Grell, einem elektrischen Scheinwerfer gleich, beleuchtet es eine der charakte­ristischen, anklagenden Erscheinungen unserer Tage: die Zersetzung der bürgerlichen Familie in der kapitalistischen Ordnung und durch sie. Das entsetzliche Los, das dem vierzehnjährigen Sohne des Reichsbankdirektors Koch in Berlin gefallen, und das um Haares­breite auch den jüngeren Bruder ereilt hätte, stellt gewiß einen außergewöhnlichen Einzelfall dar. Ein außergewöhnliches und zu­fälliges Geschehnis ist, daß als Erzieher der Knaben ein Mann angestellt wurde mit offenbar krankem geschlechtlichem Triebleben, ein sogenannter Sadist, dem die Grausamkeit höchstes Wolluft­empfinden verschaffte. Jedoch nicht außergewöhnlich, alltäglich, typisch sind die Verhältnisse, welche den Boden dafür abgaben, daß erziehungs- und schußbedürftige Kinder sogut wie ohne jede Kontrolle auf Gnade und Ungnade einem anormalen Wüterich an­vertraut wurden. Es sind die alltäglichen, typischen Verhältnisse, unter denen die Jugend der oberen Zehntausend heranwächst und erzogen wird.

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Da sind Eltern, reich, ja überreich mit Vermögen und sozialen Glücksgütern gesegnet, welche materielle Vorbedingungen für eine vorzügliche Erziehung des Nachwuchses sind. Sie haben Kinder gezeugt, sie erziehen sie nicht. Der Mann geht auf im Kampfe mit dem feindlichen Leben". Er muß erlisten, erraffen", um den Seinen zu hinterlassen, was heute kostbareres Erbteil als reich entwickeltes, blühendes Menschentum ist: Gold, viel Gold. Seine Berufstätigkeit entartet unter dem vergiftenden Hauche des Stapita lismus zur tollen, rasenden Has um Besiz und soziale Macht. Sie beschlagnahmt seine Zeit, sie saugt ihm die Kraft aus den Adern, sie zehrt und zerrt an seinen Nerven. Es schwindet ihm Es schwindet ihm die äußere Möglichkeit, es erstirbt ihm die Lust, seinen Kindern in der höchsten Bedeutung des Wortes Vater zu sein. Er über­läßt die Sorge für ihre Erziehung ausschließlich der Frau, sein Anteil daran schrumpft zu allgemeinen Anordnungen, Befehlen, gelegentlicher Prüfung des Benehmens und der Leistungen zu­sammen.

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Und die Mutter? Sie gehört der Gesellschaft", sie muß ,, repräsentieren". Also gebietet es die heilige Stellung der Frau" bei den Bevölkerungsschichten, die auf den oberen Sprossen der sozialen Stufenleiter stehen. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen mit ihrem Drum und Dran von tausenderlei Nichtigkeiten und Außerlichkeiten von der kopfzerbrechenden Sorge um die Toilette bis zum Glänzen auf Wohltätigkeitsbällen, des Kokettierens mit

Kunst und Wissenschaft nicht zu vergessen unterjochen die Frau so vollständig wie das Berufsleben den Mann. Sie stehlen Minute auf Minute, welche den Kindern gehören müßte, fie meucheln allmählich die Fähigkeit und Neigung der Mutter, sich ihnen zu widmen. Das lästige, schmerzhafte Kindergebären allein bleibt noch mütterliche Leistung, weil es sich schlechterdings nicht gegen Lohn auf einen Mietling abwälzen läßt; die übrigen mütterlichen, die elterlichen Aufgaben werden bezahlten Fremden übertragen.

Die Familie geht ihrer wichtigsten sozialen Funktion verlustig: sie hört auf, eine Stätte des Schußes und der Bildung für das heranwachsende Geschlecht zu sein. Es zerreißt eines der festesten und feinsten Bande zwischen Mann und Frau: das geistig- sittliche Verbundensein zu dem gemeinsamen Lebenswerk am eigenen Fleisch und Blut. Wie die Beziehungen zwischen den Eltern sich vielfach lediglich auf einem schnöden Geld- und Geschäftsinteresse aufbauen, so werden auch die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ihres idealen persönlichen Kernes beraubt und zu einem bloßen falten Geschäftsverhältnis herabgewürdigt. Vater und Mutter erziehen nicht mehr die Kinder, sie tragen nur die materiellen Kosten für ihre Pflege und Erziehung, an Stelle der selbstverleugnenden, klugen und persönlichen Leistung ihrerseits tritt die gefühllose bare Zah= lung. In den Augen der Kinder sinken die Eltern von der Ver­förperung geduldiger, aufopfernder Liebe, überlegenen Wissens, nie versagender Fürsorge zu Geldgebern herab mit mehr oder minder großem Portemonnaie, mit mehr oder minder entwickelter Frei­gebigkeit. Beide stehen einander innerlich fremd gegenüber, das eine Geschlecht versteht schließlich die Sprache des anderen nicht mehr. Die konventionelle Lüge mag mit süß und zärtlich klingenden Worten das Grab der bürgerlichen Familie übertünchen, Tatsachen über Tatsachen lassen unter dem Firniß ihre Zerrüttung um so abstoßender in Erscheinung treten.

Wie erschütternd kennzeichnete nicht der Prozeß Dippold das äußerliche Verhältnis, die innere Entfremdung zwischen Eltern und Kindern! Durch Dienstboten und andere Dritte vernehmen Herr und Frau Koch das Echo der Schmerzensschreie, welche die bestia­lische Roheit eines geschlechtlich Entarteten ihren Knaben abfoltert. Sie verzichten darauf, sich selbst davon zu überzeugen, was und warum ihr Kostbarstes" leidet. Ein oberflächlicher Inspektions­besuch anderer bei den Knaben und ihrem Erzieher, und das schüchtern erwachte elterliche Gewissen schläft sanft auf dem Kissen einiger beruhigender Säße von dem idealen" Hauslehrer wieder ein. Ein Brief Dippolds an Frau Koch sucht die Prügelpädagogik mit dem Hinweis auf angebliche sittliche Verfehlungen der Knaben zu rechtfertigen. Und diese Mutter vermag nicht in schmerzlicher Empörung stolz zu antworten: Sie müssen sich irren, mein Herr. Ich habe seit vierzehn Jahren das Leben meiner Kinder mitgelebt, ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie sittlich rein sind!" Sie fennt ihr eigen Fleisch und Blut so oberflächlich, daß sie an seine Schuld glaubt auf die Bezichtigung eines Mannes hin, der noch gestern und ehegestern ihr und ihren Söhnen fremd war; in dessen Innenleben sie nie einen sorgsam forschenden, prü fenden Blick getan; für dessen Eignung zu dem höchsten Beruf den Beruf, den weichen Ton des findlichen Leibes und Geistes zur starken, schönen Persönlichkeit zu formen sie papierene Empfehlungen, ein gewinnendes Auftreten und eine überströmende Wortfrömmigkeit als genügende Bürgschaft gelten läßt. Sie wähnt ihre Söhne befleckt, und aus dem gequälten Mutterherzen bricht kein