Schrei nach dem heiligen Recht, der hohen Pflicht, an dem leiblichen und sittlichen Gesundungsprozeß mitzuarbeiten! Dem Unbekannten allein vertraut sie die heifle Aufgabe an, muß sie sie anvertrauen. Sie selbst kennt ihre Kinder zu wenig, besitzt zu geringe Einsicht in die Bedingungen einer gesunden Entwicklung, als daß sie es auf Grund eines geschulten Mutterempfindens beanspruchen dürfte, ihrer­seits den Strauchelnden eine liebevolle Hand zu reichen, die flar blickendes Wissen und starter Wille lenkt. Und die Kinder dulden ihrerseits mörderische Mißhandlungen, schimpflichste Berührung, ohne daß sich mit elementarer Wucht ihr Bewußtsein zum Willen verdichtet, an dem Herz der Eltern Verständnis, Schuß und wenn nötig Verzeihung suchen zu müssen.

Nicht etwa, als ob Herr Koch ein entmenschter Vater, seine Gattin eine fühllose Rabenmutter sei, deren Elternliebe und Eltern­gewissen tief unter dem bourgeoisen Durchschnitt stünden. Sicherlich, daß beide in ihrer Weise das Beste ihrer Söhne wollten und mit Zärtlichkeit an ihnen hingen. Das ist es ja gerade, was dem unsagbaren Martyrium der Kochschen Knaben seine soziale Be­deutung verleiht, was schwerste Anklage wider die kapitalistische Gesellschaft erhebt: die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, welche der Prozeß Dippold zum Greifen plastisch aufzeigte, sind in der bürgerlichen Welt regelrechte Durchschnittsbeziehungen. Gewiß: nur ein grauser Zufall wird es fügen, daß der Verfall der heutigen Familie die Entscheidung über das Wohl und Wehe zarter, hoff­nungsreicher Menschenknospen in die Hand eines Irrsinnigen legt. Unbestritten auch, daß unter bestimmten Umständen eine fremde erzieherische Kraft die findliche Entwicklung segensreicher zu be­einflussen vermag, als das Wünschen und Können der Eltern. Aber trotz allem bleibt es entsetzliche Wirklichkeit, daß heute Tausende, Zehntausende Kleiner in ihrem Rechte auf Emporblühen in dem Sonnenlicht, der Wärme einer tiefgewurzelten, verständigen per sönlichen Zuneigung betrogen werden; daß sie, herangewachsen, zeitlebens an der Beschränkung, der Armut und Freudlosigkeit ihres Wesens tragen müssen, weil das kapitalistische Regime unerläßliche Voraussetzungen des elterlichen Waltens zertrümmert.

Was unter seiner Herrschaft das Übermaß des Besizes, der überquellende Reichtum bei den oberen Schichten der Bevölkerung bewirkt, das bedingt der Mangel an Besitz, die bittere Armut bei den breiten werktätigen Massen. Bei den einen züchtet der Kapitalismus   den bachantischen Tänzer um das goldene Kalb, die herz und hirnlose Puppe der großen Welt, bei den anderen das stumpfsinnige menschliche Lasttier; hier wie da knebelt und verkrippelt er den Menschen, der fähig wäre, die verantwortungs­und gnadenreichen Pflichten der Elternschaft möglichst vollkommen zu erfüllen. Aber auch in dieser Beziehung ist der Arme noch schlimmer daran als der Reiche. Die kapitalistische Ausbeutung raubt ihn nicht bloß seinen Kindern, sie setzt ihn obendrein außer stande, ihnen für die entzogene oder mangelhafte elterliche Für­sorge Ersatz durch Personen oder Anstalten zu schaffen, wie ihn der Begüterte, zu zahlen vermag. Ein sensationeller Ausnahmefall wird es bleiben, daß ein geschlechtlich entarteter Hauslehrer einen Bourgeoissprößling zutode prügelt. Ein banales Tagesereignis ist es dagegen, daß ein unbeaufsichtigtes proletarisches Kind tödlich ver­unglückt oder für immer Schaden an Leib und Seele leidet. Von dem herodianischen Kindermorden zu schweigen, dessen sich der Kapi­talismus mittelbar durch die gewissenlose Ausbeutung der Eltern, unmittelbar durch die verbrecherische Ausbeutung des proletarischen Nachwuchses im frühen Alter schuldig macht.

Vor der ehernen Stimme der Wirklichkeit muß die plumpe, erbärmliche Lüge verstummen, daß die Sozialdemokratie die Familie zerstört und die Kinder durch eine Zuchthauserziehung dem Ver­fümmern überantworten will. Die Sozialdemokratie konstatiert lediglich die Auflösung der heutigen Familienform und ihre wachsende Ohnmacht, die wichtigste soziale Aufgabe die kulturwürdige Ers ziehung der Kinder zu erfüllen. Sie beobachtet und unterstützt die geschichtlichen Kräfte, welche am Aufbau eines neuen, höheren Familienlebens arbeiten. Sie will alle Hindernisse wegräumen, welche sich in den sozialen Zuständen und im menschlichen Bewußt­sein dem geschichtlichen Werdegang entgegenstellen, der die Mög­lichkeit für die beste Erziehung aller zum höchsten Wohle aller in seinem Schoße trägt. Sie fämpft für die Befreiung der Frau

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und die Befreiung des Proletariats, auf daß allen Kindern freie, in ihrer Wesenheit voll erblühte Eltern zuteil werden, die als Zeugende und Erziehende befähigt sind, die Menschheit nicht bloß fortzupflanzen, sondern mit Nietzsche   zu reden hinaufzupflanzen". Sie fämpft für die unerläßlich notwendigen gesellschaftlichen Erziehungseinrich­tungen, welche ergänzend neben die unentbehrliche Erziehung im Heim durch die Eltern treten müssen. Nicht die Sozialdemokratie, die kapitalistische Ordnung sizt als Zerstörerin der Familie auf der Anklagebank.

Die Wurmkrankheit im Ruhrrevier.

Von Louise Biek.

" Das Elend wächst riesengroß! Die Zahl der wurmerkrankten Ruhrbergleute übersteigt bereits die immens hohe Zahl von 50000. Die Untersuchung der Ärzte hat in der letzten Zeit auf allen für die Untersuchung neu in Angriff genommenen Schächten starke Prozent­sätze der Belegschaften als wurmkrank, mindestens als wurmbe­haftet" befunden. Daß 50 Prozent der Belegschaften als wurmfrank befunden werden, ist fast das mindeste. Es sind verschiedentlich 60, 70 bis zu 90 Prozent festgestellt worden. Die Krankenhäuser und eigens für die Wurmkranken errichteten Baracken sind überfüllt." So ungefähr schrieb vor einigen Wochen die Bergarbeiterzeitung", das Organ des deutschen Bergarbeiterverbandes. Neuerdings wird ge­meldet, daß die Wurmkrankheit sich bereits auch im Heere gezeigt habe. In Bochum   wurden mehrere Reservisten auf Grund ärztlicher Untersuchungen als wurmkrant befunden. In Mühlheim   a. d. Ruhr liegt ein wurmtranfer Soldat im Lazarett. Es ist also Tatsache ge­worden, daß die Wurmkrankheit nicht nur Leben und Gesundheit der Tausende von Bergleuten und ihrer Familien bedroht, sondern die Gesundheit des ganzen Volkes. Des flagen wir die Werkbesitzer und Bergbehörden an.

Ist denn das Ruhrrevier über Nacht von dieser Krankheit heim­gesucht worden? Onein! Bereits im Jahre 1897 wies der Ober­arzt des Allgemeinen Knappschaftsvereins in Bochum  , Dr. Tenholt, in einer Abhandlung über den Gesundheitszustand der Bergleute im Bereiche des genannten Vereins darauf hin, daß seit 1885 auf den Zechen des rheinisch westfälischen Kohlenreviers vereinzelte, stellen­weise aber auch zahlreiche Erkrankungsfälle an Wurmtrant­heit vorgekommen seien. Im Jahre 1899 wurden 91 Bergleute als wurmfrank behandelt, 1902 aber bereits 1029. Die Stärke der

Belegschaft( das heißt die Zahl der beschäftigten Bergleute) war ihrerseits ebenfalls beträchtlich gestiegen, nämlich von 198 287 Per­sonen im Jahre 1898 auf 245 322 Personen im Jahre 1902.

Die Zunahme der Belegschaft bestand und diese Tatsache ist sehr wichtig vorwiegend aus ungarischen Arbeitern. Dem Hunger des Kapitals nach billiger Arbeitskraft war es geschuldet, daß Agenten nach Ungarn   geschickt wurden, um in Gestalt von ungarischen Arbeitern Lohndrücker nach dem Ruhrrevier zu locken. Viele Tausende, ganze Kolonien! Die Leute schleppten die Wurm­frankheit ein. Ihrer Masseneinwanderung folgte die Masseninfektion der einheimischen Arbeiter auf dem Fuße, genau wie in früheren Jahren die Einzelerkrankungen die Folge der Einschleppung seitens einzelner ungarischer Arbeiter gewesen waren. Dr. Tenholt stellte das im Jahre 1896 in einem bestimmten Falle auf Zeche Unser Fritz" an einem Arbeiter fest, der von den Kohlenwerken in Brennberg  ( Ungarn  ) eingewandert war. Ärztliche Autoritäten hatten auf die Gefahr der Einschleppung rechtzeitig hingewiesen und gründliche Untersuchung der wurmverdächtigen Bergleute gefordert. Doch der Profit ward höher bewertet als die Gesundheit vieler Tausende von Volksgenossen.

Allerdings ist Österreich- Ungarn   nicht die Heimat der Wurm­frankheit( Ankylostomiasis). Die wissenschaftliche Forschung hat feſt­gestellt, daß dieselbe aus den Tropen nach Italien   und Ungarn   ver­schleppt worden ist und von dort zu uns kam. Der Wurm ist ein Schmaroßer nur des menschlichen Körpers( des Darmes), wie Dr. Tenholt im Gegensatz zu anderen ärztlichen Autoritäten behauptet. Das Männchen hat eine Länge von 8 bis 10, das Weibchen eine solche von 10 bis 12 Millimeter. Nach vollzogener Befruchtung setzt das Weibchen unzählige Eier im Darme ab. In einem Kilogramm Kot fand Leichtenstern 39 579 Eier; ein Rotteilchen von der Größe eines Stecknadelfopfes enthielt, wie Tenholt feststellte, über 100 Gier. Mit dem Kot gelangen die Eier ins Freie, wo sie an dunklen, feuchten Orten mit hoher Temperatur vorzüglich gedeihen und sich in wenigen Tagen zur Larve entwickeln. Durch das Verschlucken der Larve geschieht die Ansteckung. Professor Looß in Kairo   behauptet, daß die Infizierung auch durch die Haut erfolge. Während seiner Experimente mit Reinkulturen der Ankylostomia Larven sei ein Tropfen