36Die GleichheitNr. 6Der Mensch.Von Maxim Gorki Deutsch von M. Feofanoff.I.In den Stunden der Ermüdung der Seele— wenndie Erinnerung die Schatten der Vergangenheit zum Lebenerweckt und Kälte von ihnen ums Herz weht— wennder Gedanke, wie die leblose Herbstsonne, das schrecklicheChaos der Gegenwart beleuchtet und drohend auf einund derselben Stelle sich bewegt— ohnmächtig höheremporzusteigen, vorwärts zu fliegen— in den schwerenStunden der Ermüdung der Seele rufe ich mit der Kraftmeiner Phantasie das majestätische Bild des Menschenmir hervor.Der Mensch! Gleichsam entsteht eine Sonne in meinerBrust, und in ihrem blendenden Lichte schreitet er, unermeßlich, wie die Welt, langsam— vorwärts! und—höher hinauf! Der tragisch schöne Mensch! Ich sehe seinestolze Stirn und die kühnen tiefen Augen und in ihnen— die Strahlen der furchtlosen, gewaltigen Gedanken,jenen Gedanken, die die wunderbare Harmonie des Weltalls erkannt haben, jener majestätischen Mächte, die inden Augenblicken der Erschlaffung— Götter erzeugen undin den Zeiten der Frische— sie stiirzen.Verloren inmitten der Ode des Alls, allein auf einemkleinen Stück Erde, das mit unersaßbarer Schnelligkeitin die Tiefe des grenzenlosen Raumes dahinjagt, gemartertvon der quälenden Frage„wozu lebt man?"— geht ertapfer dahin— vorwärts und— höher hinauf! auf demWege zu Siegen über alle Geheimnisse des Himmels undder Erden.Er geht dahin, mit Blut seinen schweren, einsamen,stolzen Weg benetzend, und aus diesem brennendenBlute schafft er— unvergängliche Blumen der Poesie.Den gramerfüllten Schrei seiner ruhelosen Seele verwandelt er kunstreich in Töne, aus Erfahrung schafft er— Wissenschaften, und bei jedem Schritt das Leben verschönernd, wie die Sonne die Erde mit ihren freigebigenStrahlen verklärt, bewegt er sich immer höher hinauf! undvorwärts: ein wegweisender Stern für die Erde...Nur mit der Kraft des Gedankens gerüstet, der balddem Blitze gleicht, bald dem ruhig kalten Schwerte—geht der freie, stolze Mensch den übrigen Menschen weitvoraus und über das Leben hinaus, allein— umringtvon den Rätseln des Seins, allein— umringt von denScharen seiner Irrtümer... und alle legen sich wie eineschwere Last auf sein stolzes Herz und verwunden seineSeele und martern sein Gehirn, erzeugen in ihm ihretwegen eine brennende Scham und rufen ihm zu— siezu vernichten.Er schreitet dahin! In seiner Brust brüllen die Instinkte,widerlich stöhnt die Stimme der Eigenliebe, die wie einschamloser Bettler um Almosen fleht,— gleich einemEfeu umwinden die festen Fäden der Triebe sein Herz,zehren von seinem Blute und verlangen laut, ihrer Machtzu folgen... alle Gefühle wollen sich seiner bemächtigen— alles dürstet nach Macht über seine Seele.Gleich dem Schmutze und widerwärtigen Kröten aufeinem Pfade, lagern allerhand Nichtigkeiten des Alltagsauf seinem Wege.Und wie die Gestirne die Sonne umgeben, so umdrängenden Menschen die Erzeugnisse seines schaffenden Geistes:seine— stets hungrige— Liebe in der Ferne— hinterihm humpelt die Freundschaft— vor ihm geht die müdeHoffnung— dort klirrt der Haß, zornerfüllt, mit denKetten der Geduld an den Händen— und der Glaubeschaut mit dunklen Augen in sein ruheloses Gesicht undbreitet erwartungsvoll seine weichen Arme nach ihm aus...Gekleidet in die Lumpen alter Wahrheiten, durchtränktvom Gifte der Vorurteile, wandern sie feindlich hinterdem Gedanken, ohne ihn in seinem Fluge einzuholen—wie der Rabe den Adler nicht erreicht— kämpfen mitihm um die Vorherrschaft und vereinen sich selten mitihm zu einer mächtigen, schöpferischen Flamme.Und gleich daneben steht— der ewige Begleiter desMenschen— der stumme und geheimnisvolle Tod, stetsbereit, ihm das im Lebensdurst flammende Herz zuküssen.Er kennt alle in seinem unsterblichen Gefolge, auchden Wahnsinn... Geflügelt, mächtig, wie ein Wirbelwind, verfolgt der Wahnsinn ihn mit feindseligem Blickeund beflügelt den Gedanken mit seiner Kraft, voll Verlangen, ihn in seinen Tanz hineinzuziehen...Er kennt alle in seinem traurigen Gefolge— verkrüppelt, verunstaltet, schwach sind die Geschöpfe seinesschaffenden Geistes.* AuS„Jung-Rußland", Neue Novellen von M. Gorki, W. Weres-sajeff, L. Andrcjew. München, Verlag Or. I. Marchlewsli H, Co.Das Büchlein— Heft 13 der Internationalen Novellen-Bibliothek,welche der Verlag herausgibt— verdient weiteste Verbreitung.Es eröffnet interessante, anregende Einblicke in das geistige Lebendes russischen Volkes, in die Geisteswelt des literarischen„jungenRußlands", das für Freiheit des Gedankens käinpsl.Und nur der Gedanke, der unzertrennliche Gefährtedes Menschen, schreitet mit ihm vorwärts, und nur dieFlamme des Gedankens erleuchtet ihm die Hindernisseseines Wegs, die Rätsel des Lebens, das Dunkel der Geheimnisse der Natur und das dunkle Chaos in seinemHerzen.Der freie Gefährte des Menschen, der Gedanke, blicktauf alles mit scharfem, klarem Blicke und beleuchtet allesohne Erbarmen.Der Liebe listige und gemeine Lügen, ihren Wunsch,sich des Geliebten zu bemächtigen, das Streben zu erniedrigen und sich selbst zu erniedrigen und hinterihr: der Sinnlichkeit schmutziges Angesicht;— die furchtbare Ohnmacht der Hoffnung und hinter ihr: die Lüge,ihre Schwester, die schön geputzte, geschminkte Lüge, diestets bereit ist, alle zu trösten und— mit ihren glattenWorten zu betrügen:Der Gedanke beleuchtet in dem welken Herzen derFreundschaft eine berechnende Vorsicht, die grausame,inhaltslose Neugier, die faulen Flecken des Neides undund die Anfänge der Verleumdung.Der Gedanke schaut die Kraft des schwarzen Haffesund weiß, daß— wenn man ihm die Ketten nimmt—er alles aus der Erde zerstören wird und nicht einmaldie Keime der Gerechtigkeit verschonen.Der Gedanke beleuchtet in dem starren Glauben denbösen Drang nach unbeschränkter Macht, die alle Gefühlezu knechten strebt,— dann die versteckten Krallen desFanatismus— die Ohnmacht seiner schweren Flügel—die Blindheit seiner toten Augen.Er tritt sogar in Kampf mit dem Tode. Dem Gedanken, der aus dem Tiere den Menschen geschaffen hat,ihm, der viele Gottheiten, viel philosophische Systeme,Wissenschaften ins Leben rief, die Schlüssel zu denRätseln der Welt fand, ihm, dem freien und unsterblichen Gedanken ist diese fruchtlose und oft dumme böseKraft widerlich und feindlich. Der Tod ist für ihn gleicheinem Lumpensammler— einem Lumpensammler, der inden Höfen herumgeht und in seinen schmutzigen Sackdas als verbraucht, faul und unnütz Weggeworfene einsammelt, aber manchmal auch frech das Gesunde undKräftige stiehlt.Durchtränkt von dem Gerüche der Fäulnis, umhülltmit dem Schleier des Schreckens, kalt, formlos, stummsteht vor dem Menschen wie ein strenges und dunklesRätsel der Tod,— der Gedanke aber, der schaffendeund wie die Sonne strahlende Gedanke, erfüllt von wahnsinniger Vermessenheit und voll des stolzen Bewußtseinsder Unsterblichkeit, sucht ihn zu erforschen.So schreitet der Mensch, mitten im bangen Dunkel derRätsel des Seins— vorwärts und— höher hinauf!immer— vorwärts!— und höher hinauf!(Schluß folgt.)Menschenrechte.Von Friedrich Schiller.(AuS Wilhelm Tell.)Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,Wenn unerträglich wird die Last— greift erHinauf getrosten Mutes in den HimmelUnd holt herunter seine ew'gen Rechte,Die droben hangen unveräußerlichUnd unzerbrechlich, wie die Sterne selbst,—Der alte Urständ der Natur kehrt wieder,Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht—Zum letzten Mittel, wenn kein anderes mehrVerfangen will, ist ihm das Schwert gegeben.--Die Wallfahrt.*Von Ludwig Thoma.Im vorigen Jahre haben der Loibl und der Hofbauereine große Lumperei angestiftet. Ich weiß nicht mehrgenau, wie die Geschichte gewesen ist, und auch nicht, obsie beim Vieh- oder beim Getreidehandel passiert ist.Zudem, was liegt am Ende daran, ivenn der geneigteLeser eine Lumperei mehr vom Hofbauer kennen lernt?Ich habe eine sichere Hoffnung, daß es nicht die letztewar.Heute will ich lieber berichten, wie die zivei abgedrehten Spitzbuben eine Wallfahrt gemacht haben. Inder ersten Angst nämlich hat der Hofbauer das Gelübdegetan, wenn er diesmal ungestraft durchkomme, dannwolle er im Mai zum heiligen Rasso nach Andechs pilgern.Und wie dann die Geschichte alleweil gefährlicher wurdeund der Herr Kommandant beim Unterbräu eines schönenAbends den Hofbauer recht spaßig anschaute, da schwurdieser heimlich, er wolle bei dieser Wallfahrt Erbsen indie Stiefel tun, damit er gewiß hart gehe und alleSünden abbüße.* Aus„Agvicola", Bauerngeschichtm. München, Albert Langen.Siehe Nr. 5 der„Gleichheit".In Anbetracht dessen, daß er seinerzeit den Loibl zuder Lumperei verftihrt hatte, war es nicht mehr alsbillig, daß er ihn auch zu der Buße überredete. Er tates so eindringlich, daß man schier auf den Glauben hätteverfallen können, es habe nicht bloß die christliche Reue,sondern auch ein bisset Schadenfreude selbigesmal denHosbauer geleitet.So viel ist gewiß, daß seine Überredungskunst Erfolghatte.Der Loibl ist überhaupt ein gutmütiger Lapp im Vergleich zum Hofbauer und um ein gutes Stück ängstlicher.Er meinte sogar, man solle ein übriges tun und ausKieselsteinen gehen, damit der heilige Rasso auch ganzgewiß die Herren vom Gericht mit Blindheit schlage.Es blieb jedoch bei den Erbsen, weil der Hofbauer erklärte, sie täten auch weh, und das sei die Hauptsache.Nach und nach ist dann der Mai gekommen. DenLoibl druckte sein Gewissen oder die Angst vor demKommandanten, und er erinnerte diesmalen seinen Spießgesellen an das Gelübde. Der Hofbauer brachte allerhand Ausreden daher; einmal sagte er, daß er noch zuschwach sei und nicht aushalten könne.„Woaßt, Loibl," sagte er,„mir hat a Kapuziner verraten, daß aussetzen schlechter is, wia net anfangen. Döstat an heiligen Rasso schö verdriaßn, wann er do amoldö Freud Hütt, und es wurd nachher mittendrin nix."Oder er sagte:„Loibl, es geht net; i Hab erscht am letztenSunnta a Todsünd beganga, und was dös bedeut, werftselm wissen. Da muaß i zerscht beicht'n."Endlich wurde die Geschichte dem Loibl zu dumm, under erklärte kategorisch, am nächsten Sonntag wallfahreer nach Andechs, mit oder ohne Hofbauer. Zu zweitging' es zwar leichter, aber hinausschieben tät er es deswegen auf keinen Fall mehr.Als der Hosbauer sah, daß ihm alle Flausen nichtsHelsen könnten, tat er einen langen Seufzer und sagte:„Na, wia Gott wüll, i halt still. Roas ma halt ausAndechs!"Der Sonntag kam, und es war ein wunderschönerTag. Wär nicht der Hofbauer dabei gewesen, so tätich sagen: der Himmel hatte offenbar ein Wohlgefallenan den zwei frommen Pilgern. So muß schon ein andererGrund da gewesen sein. In aller Früh um fünf Uhrwanderten sie zum Dorfe hinaus. Der Loibl fing schonbeim letzten Haus das Hinken an, so daß die Felber-dirn, welche heraussah, ihn darum anredete.„Wo aus so zeiti, Loiblbauer? Feit dir was, daßd' gar so krumm gehst?"„Frag net so dumm und halt ander Leut net beimBeten auf!" antwortete für ihn der Hofbauer, welchersich viel strammer hielt und mehr Duldermut zeigte.Dann ging die Wanderung weiter; rechts und linksstanden die Felder in voller Pracht, die Lerchen stiegenauf und ab und sangen, daß es eine Freude war, undim Zeidelfinger Holz schrie der Kuckuck so lustig, alswüßte er, daß Sonntag sei.Der Loibl schlich langsam dahin; alle fünf Schrittefing er wieder das Jammern an:„Auweh, auweh!I tua g'wiß koan Zement mehr ins Mehl. Ah, Herrschaftseiten, tuat dös weh!"„Laß no net aus, Loibl," sagte der Hofbauer,„mirham's gelobt und müassen's trag'n. Jetzt is scho wia'sis. Schau, mir war's jetzt aa liaber beim Unterwirt."In Herrsching wollte der Loibl einkehren, aber da kamer schön an.„Dös gibt's net, dös derfst net," sagte derHofbauer,„da war dö ganz Wallfahrt umasunst. Haltno aus, jetzt san man ja bald droben auf'm HeilingaBerg."„Dös werd Zeit sei," erwiderte Loibl,„o mei, o mei!I bin nur grab froh, daß ma koane Kielstoana in d'Stiefel to Hamm."„I aa," sagte der Hofbauer.Jetzt stiegen sie langsam aufwärts durch das Kiental.Als sie nur mehr etliche Minuten von Andechs wegwaren, setzte sich der Loibl auf eine Bank.„J muaß nomal rasten," sagte er,„meine Füaß brennenals wia s' helllichte Feuer."Wie er nun langsam verschnaufte, sah er seinen Mitpilger an und wunderte sich, daß er gar so frisch undaufrecht dastand.„Du," sagte er,„Hofbauer, i glaub alleweil, du hastgar koane Arwcsen(Erbsen) in deine Stiefel nei to?"„Jo, Loibl, jo; was glabst denn, moanst, i tat auheiligen Rasso a so betrüagen? Aber woaßt Loibl," setzteer hinzu und blinzelte ein biffel mit dem linken Aug',„woaßt Loibl, i hab's zerscht g'sotten!"»I-Seit derer Zeit sind der Loibl und der Hofbauer dieärgsten Feind, das heißt, damit ich es recht sage, derHosbauer wär nicht so. Im Gegenteil, er versichert oft,daß er den Loibl recht gut leiden kann.Berantivorlltch für die Redaktton: Fr. Klara Zetkin(gundel), WilhelmshöhePost Degerloch bei Stuttgart.Druck und Verlag von Paul Singer tn Stuttgart.