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Die Hospitalpatientin.

Aus Londoner Skizzen von Charles Dickens .

Die Gleichheit

"

Weib sein und Mutter, sei euch alles.

Nr. 8

Um der Kinder willen, die ihr leiblich sollt gebären, bleibt verborgen!"

Nacht und Stille wurden wir zum andern Male Mütter!

Der Angeklagte befand sich bei unserer Ankunft im Hospital bereits in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoß. Er war an den Händen gefesselt und hatte den Hut tief Bei unseren abendlichen Streifereien durch die Straßen in die Stirn gedrückt. Es war indes an seiner Blässe a, in Nacht und Stille wähnte man uns sicher, doch in von London blieben wir oft unter den Fenstern eines und dem beständigen Zucken seiner Gesichtsmuskeln Hospitals stehen und malten uns die düstern und traurigen zu erkennen, daß er den Dingen, die da kommen sollten, unterm Schmerzensschrei der halben Menschheit, aus der Szenen seines Innern vor. Es genügte, die mannig- mit großer Bangigkeit entgegensah. Bald darauf erschienen Kraft des Leidens haben wir ein Kind zum Licht fachsten Gedanken in uns zu erwecken, wenn plötzlich die Friedensrichter mit dem Polizeischreiber, dem Wund - getragen. eine Fenſterreihe durch die matten Strahlen einer Kerze arzt und ein paar stark nach Tabakrauch duftenden jungen Königskind! geboren zu befreien und zu siegen! erleuchtet wurde, bis sie sich wieder verdunkelte, weil man Leuten Hospitalgehilfen. Nachdem der eine Friedens­das Licht etwas tiefer hinein in das Zimmer an das richter bitterlich über die Kälte und der andere darüber So ziehe hin denn, Kind! Erfülle deiner Mütter Wollen und lebe ihrem Traum; Bett eines Patienten trug; es genügte, unsere heiterste geflagt hatte, daß das Abendblatt so leer an Neuig- In deine Rechte nimm das Schwert, und deine Linke halt Laune in tiefen Ernst zu verwandeln, wenn uns das feiten wäre, wurde gemeldet, daß die Patientin bereit sei. die Fackel. Dämmerlicht der Lampen, nachdem die anderen Be­wohner alle in traulichem Dunkel schlummerten, das Gemach bezeichnete, in welchem so viele Leidende liegen und mit Schmerzen ringen oder den Tod herbei­wünschen.

hin zu jenen Stätten, wo der Schrei des Hungers durch die Lüfte braust, wo die Arbeit man entheiligt, wo man Leiber zwingt, die Seelen zu vergessen. Und eine nie gekannte Liebestat, die keine Zeit vor dir getan du sollst sie tun.

Steig hinunter in die Tiefen; leuchte mit der Liebesfackel in

das Elend, das die Welt das Laster nennt. Beuge deine Knie vor dem tiefsten Leid des Weibes, Drücke deinen reinen Kuß auf sünd'ge Lippen, Dente, daß noch nie ein Weib gefallen, das nicht vorher ward zertreten.

So stürze Schranken, sprenge Fesseln, und reise stark und froh zur Mutter einer neuen Zeit. Geh siegreich hin durch alle Welt, halt treue, heil'ge Wacht;

Gin wildes, schönes Sturmlied sei, ein Blitz aus tiefer Nacht!

Wir begaben uns in das Zimmer, in welchem sie lag. Dein Herz sei stark ob Todeswunden; dein scharfes Auge Das in dem geräumigen Zimmer brennende matte laß von trügerischem Licht nicht täuschen. Licht erhöhte noch den graufigen Anblick der unglücklichen Geh vorbei an Thronen und Palästen, werfe deinen Schein und wecke Leben; Geschöpfe in den Betten, welche in zwei langen Reihen aufgestellt waren. In dem einen lag ein mit Bandagen Gile Wer könnte die Seelenpein jener langsam schleichenden umwickeltes halb verbranntes Kind; in einem andern eine, Stunden ausmalen, wenn der Krante feinen Laut ver- infolge eines schrecklichen Unglücksfalls schauderhaft anzu­nimmt, als die Jrreden eines in seiner Nähe in fieberischem sehende Frau, die, vom heftigsten Schmerze gepeinigt, mit Schlummer Liegenden, das leise Schmerzgestöhn oder den geballten Fäusten wie von Sinnen auf die Bettdecke vielleicht das kaum hörbar gemurmelte, lange vergessene schlug; in einem dritten ein junges Mädchen in jenem Gebet eines Sterbenden? Nur der, der es selbst empfunden, dumpfen Hinschlummern, das bisweilen der unmittel­kann sich eine Vorstellung von dem Gefühl der Einsam- bare Vorläufer des Todes ist ihr Gesicht war blut­feit und Verlassenheit machen, das die Armen bedrückt, befleckt, und die Brust und Arme hatte man ihr mit die sich in den Stunden gefährlicher Krankheit von fremden Leinenstreifen umwunden. Zwei oder drei Betten waren Händen verpflegen lassen müssen; denn welche Hand, leer; die Patienten saßen neben ihnen mit so abgezehrten, und wenn sie die weichste wäre, vermag es, gleich der Körperschmerz wie Seelenpein ausdrückenden Gesichtern der Mutter, der Gattin oder des Kindes die feuchte Stirn und so glänzenden und blizenden Augen, daß man erschrak, abzutrocknen oder das ruhelose Bett zu glätten! ihren Blicken zu begegnen. Von solchen Betrachtungen erfüllt, setzten wir unsere Die Patientin, der unser Besuch galt, lag oben im Wanderung durch die fast verlassenen Straßen fort, und Zimmer. Sie war hübsch und etwa zweiundzwanzig Jahre die schmerzlichen Gefühle, welche sie hervorriefen, wurden alt. Ihr langes schwarzes Haar war in der Gegend ihrer durch den Anblick der wenigen noch umherschweifenden un- Kopfwunden eilfertig abgeschnitten: die zerrauften flebrigen glücklichen Verwahrlosten nicht vermindert. Das Hospital Locken bedeckten das Kissen. Ihr Antlig trug schreckliche ist eine Zuflucht und Ruhestätte für Hunderte, die, wenn Spuren der Mißhandlung, die sie erduldet; sie preßte die solche Anstalten nicht wären, in den Straßen oder unter Hand in die Seite, als ob sie dort hauptsächlich Schmerz den Torwegen sterben müßten; doch was können die litte; sie atmete kurz und schwer, und man sah deutlich, Empfindungen von Verstoßenen sein, welche die Straße daß sie im Sterben lag. Sie murmelte ein paar Worte verschlingt, wenn sie so gut als hoffnungslos auf dem in Erwiderung auf die Frage des einen Friedensrichters, Krankenbett daliegen! Die elend noch stundenlang nach ob sie viel Schmerzen hätte, und blickte, als sie von Mitternacht in den Straßen Umherirrende; der jämmer- der Wärterin emporgerichtet war, die unbekannten Ge­liche Schatten eines Mannes der greuliche Überrest fichter umher nach der Reihe unruhig an. Der Angeklagte von dem, was Armut und Trunkenheit noch gelassen, wurde an das Bett geführt, sie starrte verwirrt nach ihm der sich eine Schlafstätte sucht, wo er nur einigen Schutz hin, erkannte ihn aber noch nicht. Der Friedensrichter vor dem Regen findet: sie haben wenig, was sie an das Leben bindet; und auf was können sie im Tode zurück blicken? Was sind die ungewohnten Genüsse eines Daches und eines Bettes für sie, wenn die Erinnerung eines Lebens voll Entbehrungen und Laster vor sie hintritt, wenn die Reue als Hohn erscheint und Betrübnis zu spät

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ließ ihm den Hut abnehmen; sie schreckte mit wahrhaft übernatürlicher Lebendigkeit empor, ihre matten Augen sprühten Feuer, und das Blut strömte in ihre blassen und eingesunkenen Wangen. Es war eine krampfhafte Kraftäußerung gewesen. Sie sant auf das Kissen zurück, bedeckte das zerschlagene Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus. Der junge Mann sah sie mit Als wir vor einem Jahre( und wir hatten am Abend unsicheren Blicken an, schien aber sonst gänzlich unbewegt vorher dies und ähnliches bedacht) durch Covent- Garden zu sein. Nach einer kurzen Pause wurde die Eidesformel schlenderten, wurden wir durch das höchst einnehmende der Patientin vorgelesen. Aussehen eines Taschendiebes angezogen, der, weil er sich O nein, meine Herren," sagte sie, sich abermals empor­die Mühe nicht hatte geben wollen, nach dem Polizeiamte richtend und die Hände faltend; nein, um Gottes willen es ist niemand schuld zu wandern, indem er überhaupt nicht das mindeste Ver- nicht! Ich habe es selbst getan

fommt?

langen hegte, dasselbe zu besuchen, zum unermeßlichen daran es war ein Zufall. Er tat mir nichts; hätt Jubel eines Volkshaufens, aber offenbar durchaus nicht es um nichts in der Welt können. Jack, lieber Jack, zu seinem eigenen Behagen, auf einem Schubkarren dort nicht wahr, du hättest es nicht tun können?" hin gefahren wurde.

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Die Sehkraft entschwand ihr, und sie griff auf der Bett­

Wir können nie widerstehen, einem Volkshaufen uns decke mit der Hand vergeblich nach der seinigen umher. So anzuschließen die Natur bestimmte uns ohne Zweifel roh er war, hierauf war er nicht vorbereitet. Er wendete zu Vagabunden, wir kehrten daher mit um und be- das Gesicht ab und schluchzte laut. Ihre Farbe veränderte traten mit unserem Freunde, dem Taschendieb, zwei sich, und ihre Atemzüge wurden schwerer. Ihre letzten Polizeidienern und so vielen Ungeseiften, als sich hinein- Augenblicke waren offenbar gekommen. drängen konnten, die Polizeistube.

Wir achten ihre Beweggründe," sagte der Friedens­richter, doch muß ich Sie warnen, nicht bei einer wissent lichen Unwahrheit zu verharren, bis es zu spät ist. Sie fönnen ihn dadurch nicht retten."

Es wurde eben ein kräftiger, übel aussehender junger Mann verhört, der des sehr gewöhnlichen Vergehens an­geflagt war, ein Frauenzimmer, mit welchem er zusammen­" Jack," murmelte sie, die Hand auf seinen Arm legend, lebte, mißhandelt zu haben. Mehrere Zeugen erzählten die Herren werden mich nicht überreden, dich um dein Handlungen der abscheulichsten Brutalität von ihm; auch eben zu schwören... Er hat es nicht getan, meine Herren; wurde ein Zeugnis von dem Wundarzt eines Hospitals hat mich niemals mißhandelt." Sie faßte seinen Arm in der Nähe vorgelesen, in welchem die Mißhandlungen, noch fester und fügte mit brechender Stimme hinzu: Ich die das Mädchen erfahren, umständlich beschrieben wurden; auch erklärte der Wundarzt, daß die Wieder- hoffe, daß mir Gott der Allmächtige alles Unrecht, das ich getan, und meinen ganzen Wandel vergeben wird. Herstellung des letzteren sehr zweifelhaft sei. Gott sei mit dir, Jack. Ich bitte, daß ein gütiger Herr Es mußten sich Zweifel in betreff der Personenidentität meinen armen alten Vater von mir grüßt. Vor fünf des Angeklagten erhoben haben, denn man beschloß nicht Jahren sagte der Greis, er wollte, daß er als Kind ge­bloß, daß sich zwei Friedensrichter abends acht Uhr in das storben wäre. Ach! daß er es wäre, daß er es wäre!" Hospital begeben sollten, um die Patientin zu vernehmen, Die Wärterin beugte sich ein paar Augenblicke über sondern auch, daß der Angeklagte dorthin zu schaffen sei. sie hinunter und breitete darauf das Bettuch über ihr Er wurde, als er diesen Beschluß anhörte, leichenblaß, Gesicht. Es bedeckte eine Leiche. und wir sahen, daß er krampfhaft die Schranke umfaßte.

Er sprach indes kein Wort und wurde gleich darauf entfernt.

Wir empfanden eine unwiderstehliche Neugier, der

Frauenbewegung. *

Von Lu Märten .

Konfrontation beizuwohnen, obwohl wir den Grund kaum Ins Dunkel stieß man uns zurück. angeben können; wir wußten sehr gut, daß der Auf- Nicht achtend unsrer Leiden, ohne Licht und Freiheit galt tritt peinlich werden mußte. Wir erlangten ohne große Schwierigkeit Zutritt.

das Wort:

* Aus dem Zyklus Nachtbilder".

Das Märchen vom Geist.

Von Adolf Glaßbrenner .

Den verdammten Kerl, den Geist, Müssen wir doch kriegen, Daß dem Demagogen nicht Wir noch unterliegen! Zehnmal hunderttausend Mann! Auf, Soldaten, drauf und dran! Ladet die Gewehre!

Rettet unsre Ehre!

Und sie schießen wutentbrannt, Selbst sich tot, die Blinden . Sie vernichten Stadt und Land. Geist ist nicht zu finden.

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Das hier ist die letzte Stadt, Hier müßt ihr ihn fassen! Seht! Verwegen hüpft er dort Munter durch die Gassen. Polizei, entwickle dich, Du ergreifst ihn sicherlich; Ist er dein geworden, Schmücke dich ein Drden!

Geist schaut dort, im letzten Haus,

Aus dem Erkerstübchen, Lachet die Spione aus

Und schabt ihnen Rübchen.

Jetzt entwischt er uns nicht mehr, Jetzt ist er gefangen! Morgen soll der Bösewicht Schon am Galgen hangen. Schnell, die Stufen hier hinauf! Hurtig, sprengt die Türe auf! Greift den Kerl, da sitzt er! Aus den Augen blitzt er!

Geist schlüpft in ein kleines Buch, Deckt sich zu mit Lettern.

Sicher ist er da genug,

Wie sie spähn und blättern!

Schließt das Buch und bindet's zu! Ohne zu bekennen,

Soll er auf dem Markt sogleich Mit dem Buch verbrennen! Richtet schnell den Holzstoß her! Auf, Soldaten, ins Gewehr! Lodert, lodert, Flammen! Gott soll ihn verdammen! Wundersame Melodien Hört die stumme Menge Und in alle Herzen ziehn Diese Zauberflänge.

Plötzlich donnert's durch den Dampf Wie ein fern Gewitter; Lichtumflossen steigt empor Draus ein goldner Ritter.

Auf, ihr Völker! ruft er laut,

Auf zum Freiheitskriege!

Wer dem ew'gen Geist vertraut,

Den führt er zum Siege!

Verantwortlich für die Redaktion: Fr. Klara Zetkin ( Bundel), Wilhelmshöhe

Post Degerloch bei Stuttgart .

Druck und Berte von Paul Singer in Stuttgart .