90Die GleichheitNr. 15Bergpsalm.Von Richard Dehmel.»Der Sturm hat seine Schlangen losgelassen.In langen Wogen zischen Gras und RohrUnd keucht der See ans Land; die silberblassenZerwühlten Weiden seufzen laut empor.Empor, empor! Dort, wo die Kiefern sausen,Auf kahler Höhe will ich einsam stehnUnd meine ferne Heimat dämmern sehnUnd hören, was die dunkeln Wolken brausen.Ihr grauen Pilger über mir: wohin?!O könnt ich mit euch, ziellos, ohne Stocken,Dies dumpfe Sehnen ohne Maß und SinnAusschütten in den Sturm wie Nebelflocken!O meine Heimat! Silbern grüßt der FlußUnd glänzt zum Himmel aus dem Blau der Bäume,Und aus dem Zauberwald der KinderträumeWinkt klar der Mutter Blick und Kuß.Was weinst du, Sturm?— Hinab, Erinnerungen!Dort pulst im Dunst der Weltstadt zitternd Herz!Es grollt ein Schrei von Millionen ZungenNach Glück und Frieden: Wurm, was will dein Schmerz!Nicht sickert einsam mehr von Brust zu BrüstenWie einst die Sehnsucht, als ein stiller Quell;Heut stöhnl ein Volk nach Klarheit, wild und gell,Und du schwelgst noch in Wehmutslüsten?Siehst du den Qualm mit dicken Fäusten dröhnDort überm Wald der Schlote und der Essen?Auf deine Reinheitsträume fällt der HohnDer Arbeit; fühl's: sie ringt, von Schmutz zerfressen.Du hast mit deiner Sehnsucht bloß gebuhlt,In trüber Glut dich selber nur genossen;Schütte die Kraft aus, die dir zugeflossen,Und du wirst frei vom Druck der Schuld!Und blutig glüht es um die zackigen Türme,Ein Dornenkranz umflammt die Stirn der Stadt,Ein goldner Fächer scheucht die Wolkenstürme,Hernieder strahlt ein Sonnenpalmenblatt.O Herz der Weltstadt, Millionenstimme,Die gell nach Brot vor Seelenhunger schreit:Still quillt wie Heilandsblut durch diese Zeit,Die Liebe quillt aus deinem Grimme!Den Kelch des Schweißes seh' ich geistverklärt,Das Kreuz der Mühsal blütenlaubumflattert!Was lachst du, Sturm?!— Im Rohr der Nebel gärt,Die Kiefer knarrt und ächzt, mein Mantel knattert:Empor aus deinem Rausch! Mitleid, glüh ab!Laß dir die Kraft nicht von Gefühlen beugen!Hinab! laß deine Sehnsucht Taten zeugen!Empor, Gehirn! Hinab, Herz! Auf! hinab!Die Eigentumssanatiker"Von Ludwig Thoma.Kraglfing liegt zwischen Huglfing und Zeidelhaching.Wenn in Berlin oder in Wien ein großes Ereignis geschieht, so erfährt es der Gouverneur in Sidney umzwei Tage früher als der Bürgermeister in Kraglfing,obwohl es diesen gerade so interessiert, denn er ist einscharfer Politiker. Das macht: Kraglfing liegt fünfthalbeStund entfernt von der nächsten Poststation, und wennes recht stürmt oder der Botenseppl den Reißmatthiaskriegt, dann ist der diplomatische Verkehr aus und gar.So weit ab von der Welt liegt das Dörsel, daß dieSchulkinder im nächsten Bezirksamt alle miteinanderwissen, wo Honkong oder Peking liegt, aber keines weiß,wo etwan Kraglfing auf der Landkarte zu finden ist.Wenn nicht der Geschäftsreisende alle halbe Jahr einmalden Kramerlenz aufsuchen tät, dann käm wohl nie einfremdes Gesicht in das Dorf. Denn als Luftkurort istes noch nicht entdeckt, und ein Bad ist es vorläufig auchnoch nicht.Da ist es schon eine rechte Freud und eine schöne Abwechslung in der abgeschiedenen Gegend, wenn eineGerichtskommission herauskommt. Man kann sagen, wasman will: eine Predigt ist und bleibt eine Predigt. Undje schärfer als sie ist, desto schöner ist sie; es läßt sichhernach beim Unterwirt ein vernünftiger Disputat darüber führen, besonders wenn einer den Pfarrer so gutnachmachen kann wie der Schlaunzentoni.... Aber ein Prozeß! Das ist schon noch viel etwasSchöneres! Wenn so ein Advokat recht habisch ist undein gutes Maulwerk hat, wenn er keinem Recht läßt,nicht einmal Gnaden dem Herrn Landrichter, und das* Die gedanken- und formenschöncn Gedichte von Dehme! inunserer heutigen Nummer sind dem Bändchen entnommen:„Ausgewählte Gedichte von Richard Dchmel, nach dem Inhalt geordnet."Berlin, Schuster so Löfflcr. Unsere Leserinnen sollten nicht verabsäumen, es ihrem Hausschatz an guten Büchern einzuverleiben.** Mit gütiger Erlaubnis de» Versagers entnommen aus„Agri-cola", Baucrngeschichtcn von Ludwig Thoma, mit Zeichnungen vonAdolf Hölzel und Bruno Paul. München, Verlag Albert Langen.Siebe Nr. 5 der„Gleichheit"Hinterste vorn und das Vorderste hint daher bringt,alle Wörter so schön setzt und lateinisch red't, daß nianmeint, es geht hellicht nicht anders, er muß recht kriegen,das ist schon feiner als wie ein Theater.Und dann kommt der andere! Jetzt ist die ganzeGeschicht verdreht, jetzt schaut es sich wieder anders an;alles ist nichts, was der andere gesagt hat, und hat erzwei lateinische Sprüche! aufsagen können, weiß dergleich drei, und grad spöttisch macht er sich über denandern, daß man's mit Händen greifen kann, wie erunrecht gehabt hat— bis der andere wieder selber andie Reih kommt und sein Gesangl anfangt. So geht eshinum und herum, bis dem armen Bauernmenschen dasTrumm aus- und der Prozeß im Kopf herumgeht wieein Karussell, daß er nicht mehr weiß, hott oder wißt,gewinnt er jetzt oder verspielt er.Darum also, wie gesagt, es steht nichts auf über einenProzeß; und wenn es nicht gottlob sowieso alle Winterin Kraglfing einen geben tät, müßt der Unterwirt fürseine Gäst ein übriges tun und einen anfangen. FürHeuer ist schon gesorgt, denn der Ranftlmoser hat denScheiblhuber eingeklagt. Der Ranftlmoser hat auf demGuggenbichl einen Acker; gleich daneben hat der Scheiblhuber einen. Zwischen den zwei Ackern ist ein Rain,daß jeder beim Umpflügen wenden kann. Der Rain istalle Jahre kleiner worden; einmal pflügt der Ranftlmoser ein kleines Zipferl weg, das andere Mal derScheiblhuber, so daß ein rechtschaffener Bauernttittlingschier keinen Platz mehr gehabt hat.Da ist der Ranftlmoser herangegangen, hat in denRain einen Pflock eingeschlagen und einen Ausspruchgetan, daß der Scheiblhuber um keinen Zoll weiter mehrgegen ihn pflügen darf. Der Scheiblhuber meint, somir nichts dir nichts laßt er sich kein„March"(Feldmarke) hinsetzen, reißt den Pflock heraus und pflügtjustament mit Fleiß gleich wieder ein paar Zoll vondem Rain weg.Jetzt geht es natürlich nicht mehr anders, jetzt mußadvokatisch geklagt werden. Und wer das nicht glaubt,der soll nur nach Kraglfing gehen und bei den Bauernanfragen, ob nur ein einziger da ist, der anders sagt.Also steht der Ranftlmoser an einem schönen Frühlingstag in der Früh um vier Uhr aus, legt das schöne Gewand an und marschiert mit seinen nagelneuen Glanzstiefeln in den taufrischen Morgen hinaus.Die Sternlein stehen noch am Himmel, und der Mondschaut silbern über den Zeidelhachinger Forst herüber;die Vogerl aber, ivelche schon das Singen anheben, undein feiner, roter Streifen im Osten deuten den nahenMorgen an. Der Ranftlmoser freilich sieht und hörtvon dem nichts, er ist in Gedanken versunken und knarztmit seinen neuen Stiefeln tapfer fürbaß. Bloß amGuggenbichl steht er eine kleine Weile füll und lacht sorecht fein pfiffig.„Wart Lump, dir reib' ich's ein."Indem stoßt er auf einen mentisch großen Stein, undweil die Bründelwiesen vom Scheiblhuber gerade soschön bei der Hand liegt, schmeißt er ihn hinein. Danngeht er wieder weiter, einen Schritt vor den andern,stundenlang. Die Sonne ist schon heroben und steigtalleweil höher und höher. Bald links, bald rechts tauchtein Kirchturm auf, und der Morgenwind tragt dieGlockentöne herüber, die zur Frühmesse einladen. DerRanftlmoser achtet es nicht. In den Wiesen stehen dieBauernlcut und rufen den Landsmann an. Der Ranftlmoser hat keine Zeit zum Antwortgeben. Nicht einmalzum Einkehren, wenn ihn auch der Oberwirt in Zeidel-fing noch so schön einladet. Hilst nichts; unterwegs ißter im Gehen das Stückel Brot, was ihm die Bäurinmitgegeben hat; und so steht er richtig Schlag elf Uhran der Kanzleitüre beim Herrn Advokaten.„Ah, der Ranftlmoser! Freut mich, wieder einmal dasVergnügen zu haben. Was führt Sie so weit her?"Und jetzt erzählt er sein Leid dem Herrn, der ihmfreundlich zuhört. Was der Scheiblhuber überHauptsfür ein schlechter Kerl ist, der niemals kein Ruh nichtgibt, und wie er es ihm schon so oft gemacht hat, wieer in seinen Grund hineinpflügt und wie er zu guterLetzt das March herausgerissen hat. Muß er sich dasgefallen lasten? Und gibt es kein Recht gar nicht mehr?Das muß er wissen, da hat er einen festen Bestanddaraus, und wenn es noch so viel kosten tät.Der Advokat schüttelte bedächtig den Kopf und meint,es sei so eine Sache. Jedenfalls kommt es auf denAugenschein an,— aber umsonst fahrt man nicht nachKraglfing hinaus, so schön es auch dort ist. Zunächstgehört einmal ein Vorschuß her, so einhundert Mark,bis die Maschin im Gehen ist.Hundert Mark? Die zahlt der Ranftlmoser gern. Erzieht aus irgend einer Gegend seiner ledernen Umhüllung ein rotes Schneuztüchel und breitet es auf denSchreibtisch hin. Dann knöpfelt er bedächtig die Zipfelauf und zieht das untere Ende eines baumwollenenStrumpfes hcrfür. Vierunddreißig harte Taler zählt erauf, einen nach dem andern, und keiner reut ihn; diezwei Mark, welche er herauskriegt, steckt er in die Gilet-leiblwestentasche.„Ranftlmoser," sagt der Advokat, und klopft ihm aufdie Schulter,„Ranftlmoser, jetzt hat's was. Das gibteine Klage auf Besitzstörung, wegen tarbatione xossessioms,wenn wir's nicht gleich gar mit dem mteräietuw unäs vianpacken."Da zieht's dem Ranftlmoser das Maul auseinander,daß ihm beinahe die Ohrwaschel hineinfallen vor lauterVergnügen.„Ist nicht leicht scharf genug," meint er,„Herr Advikat, ist nicht leicht scharf genug für denScheiblhuber. Reiben Sie's ihm nur recht lateinisch hin!Und jetzt adjes, Herr Dokta!"Damit geht er, und eine solche Freude herrscht inseinem Herzen, daß die Leute auf der Straße es ihmüber das Gesicht ansehen und ihm nachblicken. Das isteinmal ein fideler Bauer! Der hat gewiß ein gutesGeschäft gemacht! Beim Pschorrbräu überlegt sich's derRanftlmoser, ob er nicht hineingehen und sich eine Maßkaufen soll. Aber— sparen muß der Mensch, denkt er,und geht daran vorbei. Er holt sich in einem Schweinmetzgerladen einen halben Kranz geselchte Würscht undgeht wieder tapfer fürbaß auf Kraglfing zu. Unterwegssäbelt er die Geräucherten zusammen und hält verständigeZwiesprach mit sich selbst: wie er vor das Gericht hinstehen wird, wie er den Scheiblhuber ärgern wird.Auf den Abend um acht Uhr ist er wieder daheim,und wenn sich die Kraglfinger auf eine Physiognomieverstehen, dann haben sie merken können, daß es beimRanftlmoser was hat.„Bäurin," sagt der noch, als ersteinmüd im Bett liegt,„Bäurin, dem Scheiblhuber Hab'!ich was ins Wachse! gedruckt. Ich werd' mir's übersinnen, ob ich die Geschicht nicht am End gar nochkriminalisch mach'."Die mehreren Sachen haben zivei Seiten, und hinter Isich schaut es oft anders aus als vorn. Umgekehrt istauch gefahren, und zum Raufen gehören allemal zwei,einer, der hinhaut, und einer, der herhaut. Beim Prozessieren ist es gerade so, und darum wollen wir schauen,was etwa der Scheiblhuber zu der freundlichen Uber-raschung sagt. Er sitzt auf der Bank vor dem Haus,raucht ein Pfeifel und sinniert. Es fallt ihm ein, wieer den Bräumeister von Dachau voriges Jahr mit derGersten geschlenkt(angeführt) hat, und den Veiteles inAichach mit der Kuh, die gleich drei gesetzliche Fehlergehabt hat, und alle sind zu spät entdeckt worden. Da jerhellt ein wohlwollendes Lächeln seine hatten Züge, wie jdie Romanschreiber sagen, und heitere Zufriedenheit�glänzt in seinen Augen.Es ist ein recht friedsames Bild. Er schaut an demBirnbaum hinauf und gibt acht, was der Starl fürSpitzbubereien macht, wie er so schlau von dem Astlherunterschaut und dann einen recht lauten Pfiff tut,gerade als wollt er den Scheiblhuber erschrecken oderdie Katz, die alleweil zu ihm hinausblinzelt. Indem biegtgerade der Bttefbot beim Schmied um die Ecke herum!er wird schon wieder ein Schreiben an den Bürgermeisterhaben, eine amtliche Zustellung, denn die Privatbriefebesorgt der Botenseppl und tragt gewiß nicht schwerdaran_(Schluß folgt.)Zukunft.Von Richard Dehmel.Du reiche Frau, du edle Frau,Mit deiner Hoffnung unterm Herzen,Du möchtest jubeln und erschrickst;Ich sehe dich in deinen Schmerzen,Wie du beim Schein der AmbrakerzenDie seidne Wiegendecke stickst.Du zählst die Fäden, silbergrauUnd schwarz und blutrot, und dir schwebenViel tausend Hände vor, die weben,Viel tausend graue Mutterhände,Die weben, weben ohne Ende;Ich seh' dich, wie du grausig nickstUnd dunkel durch dein Zimmer blickst.Und tausend Kinder siehst du stehen,Die still an einem Stricke drehen,Früh alt vor Hunger und Gebrest,Und siehst die Väter sich erheben,Alle, die häßlich müssen leben,Damit es Schönheit könne geben,Sie stürmen dein geschmücktes Nest:Madam, dies blutige Garn, wer spann es?!Da würdest du in TodeswchenEntzückt sein, könntest du dich sehen,Wie sich zum mörderischen FestDie schmutzige Faust des ArbcitsmannesUm deine weiße Kehle preßt.«c�antraorlUch für dl« RedaMo»: Fr. Mar» Zclltn(Zundel), ZSllh«!'»»�Post Tcgerloch bct Stuttgart.Druck und Berlag von Paul Singer in Sttittgart.