14

Die Gleichheit

Wochenbeitrag der weiblichen Mitglieder halb so hoch bemessen wie derjenige der männlichen. Seit zwei Jahren wird den Genossinnen für ihren Beitrag die Gleichheit" vom Volfsverein gratis zuge­stellt. Vor drei Jahren wurde durch eine Agitationstour der Ge­noffin Tiez ein kleiner Stamm von Genossinnen fest an den Voltsverein gefesselt. Im Frühjahr ds. Js. referierte Genoffin Baader in sechs Frauenversammlungen im Kreise, die sich eines regen Zuspruchs erfreuten. Vornehmlich waren die Versamm lungen im Steinbrecherdorfe Collmen und im Elbestädtchen Strehla stark besucht. In diesen beiden Orten waren die Ver­sammlungen die ersten, die für Frauen abgehalten wurden. Die durch diese Versammlungen entfaltete Agitation hat die Frauen neu aufgerüttelt und der Organisation einen Fortschritt gebracht. Im Jahre 1906 betrug die Zahl der organisierten Genossinnen im Kreise nur 20, jetzt beträgt sie 140. Wer weiß, mit welchen Schwierig teiten die Agitation im Bezirk verknüpft ist, den wird auch dieser anscheinend geringe Erfolg mit Freude erfüllen und zur weiteren unablässigen Aufklärungsarbeit unter den proletarischen Frauen anspornen. Und zwar muß diese systematischer als seither betrieben werden. Neben der regelmäßigen Lektüre der Gleichheit" muß den Frauen der Besuch der Vortragsabende in den örtlichen Set­tionen warm empfohlen werden, in denen sie ihr Wissen bereichern können. Die Bibliotheken in den Städten werden mehr und mehr ausgebaut und enthalten gegen früher so manches gute Buch, das die Frauen mit großem Nutzen lesen fönnen. Großes Gewicht ist auf die persönliche Belehrung der proletarischen Frauen und Mäd­chen zu legen. Dazu können die Parteigenossen wesentlich mehr beitragen als bisher, wenn sie nur wollen. Es darf nichts unver­sucht bleiben, die Frauen für den großen Kulturkampf des Prole­tariats zu begeistern. Er bedarf mehr als je einer geschlossenen, mutvollen Kämpferschar. Da dürfen die Frauen nicht beiseite­stehen. May Mucker, Wurzen .

Politische Rundschau.

Eine imposante Riesenversammlung der Berliner Sozialdemokratie hat am 20. September die Friedensadresse der englischen Arbeiterdeputation entgegengenommen und mit den Versicherungen gleicher Gefühle freudig erwidert. Hier wie auf dem Parteitag zu Nürnberg hat die deutsche Arbeiterschaft erneut ihren ernsten Willen bekundet, nach allen Kräften der frivolen Hetze entgegenzuarbeiten, die den Frieden zwischen Deutschland und England gefährdet, hat sie die herrschende Klasse daran erinnert, daß der Militarismus und die abenteuernde Weltpolitik im deutschen Proletariat einen unverföhnlichen Gegner haben. Mit süßsaurem Gesicht hat die Reichsregierung diese internationale proletarische Friedensdemonstration zulassen müssen. Es ging nicht an, die Versammlung mit Ausweisungsandrohungen zu verhindern, wie sie vor einigen Jahren gegen Jaurès angewendet wurden; denn die Mitglieder der englischen Deputation waren zugleich auch Mitglieder der von uns in der vorigen Rundschau gekennzeichneten interparlamentarischen Friedenskonferenz was man ihnen nicht übelnehmen darf angesichts der Tatsache, daß selbst Abgeordnete ausgesprochen sozialdemokratischer Parteien des Auslandes( Belgier , Schweizer und andere) sich über den Wert oder besser Unwert dieser Veranstaltung noch nicht im flaren sind, wie sie durch ihre Beteiligung an ihr bewiesen haben. Wollte Bülow sich nicht vor der Interparlamentarischen Konferenz unmöglich machen und die Reichsregierung nicht vor aller Welt mit dem Fluche der Lächer lichkeit beladen, wollte er den Zwed seiner Begrüßungsrede nicht gefährden und vor den Vertretern fremder Nationen das Märchen vom offiziellen Deutschland als einen für die Friedensidee be= geisterten Kulturstaat zunichte machen: so mußte er den Ab­gesandten der englischen Arbeiter, die größtenteils an der Inter­parlamentarischen Konferenz teilnahmen, gestatten, mit dem deutschen Proletariat in Verbindung zu treten. Allerdings hat er nicht ver­hindern können, daß die preußische Bureaukratie durch ein Massen­aufgebot von Polizei und Militär den englischen Gästen zeigte, daß die herrschende Klasse Deutschlands in der inneren Politik ge­rade so borniert gewalttätig vorgeht wie in der äußeren.

Am 4. November soll der Reichstag wieder zusammentreten. über die bedeutsamste Vorlage aber, die ihn beschäftigen soll, ist noch immer der Schleier des Geheimnisses gebreitet. Die Re­gierungspläne zur Reichsfinanzreform werden nur an deutungsweise der Öffentlichkeit dargelegt, um den bedrohten Kreisen die Möglichkeit der Gegenwehr zu verkümmern. Nur gegen das Versprechen der Verschwiegenheit hat der Reichsschah­jekretär Vertretern der bürgerlichen Parteien seine Pläne enthüllt,

Nr. 1

und diese Parlamentarier haben so wenig Gefühle für die Würde des Reichstags, daß sie sich den gouvernementalen Maulforb ruhig anlegen ließen.

-

Dagegen ist der Entwurf der Strafprozeßreform endlich der Öffentlichkeit unterbreitet worden. Er ist ein raffinierter Ver­such, unter dem Schein der Erfüllung langjähriger Volksforde rungen außerordentlich gefährliche Verschlechterungen des geltenden Rechts durchzusetzen, die Rechtsgarantien für den Angeklagten er­heblich zu verkürzen. So wird die Straffammer mit Laienrichtern ausgestattet und die Berufung gegen ihre Urteile eingeführt- aber diese Berufung dient dazu, dem Staatsanwalt die Möglich­feit zu geben, jeden Prozeß vor einen Berufungsſenat zu bringen, der nur aus beamteten Richtern zusammengesetzt ist. Über­tretungen will künftig der Amtsrichter ohne Schöffen aburteilen sehr fümmerliche Verbesserungen des Vorverfahrens beziehungs­weise der Voruntersuchung und der Bestimmungen über die Unter­suchungshaft, die durch Ausnahmen ohnehin wieder hinfällig ges macht werden, sowie Diäten für Schöffen und Geschworene, eine halbe Aufhebung des Zeugniszwangs für die Presse sollen mit Einschränkung der Zuständigkeit der Schwurgerichte mit gefähr lichen Durchlöcherungen der Öffentlichkeit, der Anklagepflicht, des Beweiserhebungszwangs und anderem mehr erkauft werden. Dieser Anschlag auf die wichtigsten Rechtsgarantien muß auf das ent­schiedenste zurückgewiesen werden.

-

Die reaktionäre Bureaukratie fährt fort, ostentativ zu zeigen, daß sie sich um der Blockpolitik willen nicht den geringsten Zwang aufzuerlegen gedenkt. Jm Disziplinarverfahren gegen den Bürgermeister Schücking ist eine Anklageschrift aufgesetzt worden, die eine klatschende Ohrfeige für den Freisinn bedeutet der ins des in dieser Affäre immer stiller geworden ist, und in den letzten Tagen werden nicht weniger als drei Fälle gemeldet, daß der erste Grad der Zeugnisfolter über sozialdemokratische Re­dakteure zu Kiel , Karlsruhe und Dortmund verhängt wurde. Die­selbe eifrige Justiz, die in diesem Verfahren ihres Amtes waltet, hat den meineidsverdächtigen Fürsten Eulenburg der Haft ent­lassen( nachträglich wurde eine Kaution von 100 000 Mt. zur Bes dingung gemacht), worauf der Schwerkrante sich alsbald so sehr erholte, daß er sich auf das Schloß seiner Väter zu Liebenberg be= geben konnte.

In Österreich stören wieder einmal Ausschreitungen des von den bürgerlichen Parteien geführten Nationalitätenkampfes die Existenz des aus allen bürgerlichen Gruppen gebildeten Ministeriums Beck, und die Arbeitsfähigkeit des Reichsrats steht in Frage. Das ungarische Proletariat hat mit großen Straßendemonstrationen den Kampf gegen das Unterfangen der forrupten Koalitions. regierung aufgenommen, anstatt des versprochenen gleichen Wahl­rechts ein niederträchtiges Pluralwahlrecht zu geben, das die Ar­beiter und die nichtmagyarischen Nationalitäten um ein wirksames Stimmrecht prellen soll.

Auf dem Balkan hat sich die Situation sehr verschlechtert. Das Reformwerk in der Türkei wird gefährdet durch äußere Ver wicklungen. Bulgarien hat einen Streit auf der Orientbahn zum Vorwand genommen, um sich der Linien derselben zu bemächtigen, die durch sein Gebiet laufen und der Türkei gehören. Es weigert sich trotz der Vorstellungen der meisten Mächte, den Raub wieder herauszugeben. Anscheinend wird es dabei unter der Hand von Rußland und Österreich- Ungarn ermutigt, die in äußeren Verwid lungen ein Mittel sehen, um inneres Erstarken der Türkei zu vers machen möchte; Österreich- Ungarn scheint deshalb auch gerade diesen hindern, das ihnen einen Strich durch ihre Balkaneroberungspläne Zeitpunkt zur Proklamierung der formellen Annexion Bosniens und der Herzegowina( die es längst unbestritten besitzt) wählen zu wollen, ein Beginnen, wogegen die österreichische Sozialdemokratie mit Recht energisch protestiert. In der Türkei selbst sind die zahlreichen Streits vornehmlich der Eisenbahner bemerkenswert. Die Jungtürken bekunden ihren bürgerlichen Charakter durch allerlei Zwangsmaßnahmen der von ihnen geleiteten Regierung gegen die Streifenden und durch die Ankündigung, daß eine der ersten Vor­lagen für das Parlament ein Streifgeset sein werde.

In Rußland fühlt sich die Reaktion so erstarkt, daß sie die Frauen von den Universitäten weist und den Hochschulen alle Rechte der Selbstverwaltung nimmt. Ein Teil der Studentenschaft will streiken, doch scheint die Aktion an der Entmutigung der Mehrheit scheitern zu wollen.

Die schwedische Sozialdemokratie hat in den Reichstagswahlen bis jetzt 16 neue Size erobert und wird im neuen Reichstag min­destens 33 Köpfe zählen. Die Konservativen haben schwere Verluste erlitten, die Liberalen Eroberungen zu verzeichnen. Für die Wahl­rechtsreform eine günstige Konstellation.