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Die Gleichheit

aber unter Hinweis auf notwendige zeitraubende Vorarbeiten auf Jahre hinausschob. Das preußische Junterparlament hat natür­lich auch keinerlei Gile, den freisinnigen Wahlrechtsantrag zu be­raten, zumal der Antragsteller nicht allzu sehr drängt. Es hat sich nach einer Debatte über die Aufbesserung der Be­amtenbesoldung schleunigst vertagt, um den Kommissionen ungestörte Gelegenheit zur Beratung der betreffenden Vorlagen zu geben. Die junge sozialdemokratische Landtagsfraktion hat sich an der Debatte fleißig beteiligt, nicht ohne daß an einem ihrer Streiter, dem Genossen Hoffmann, durch die Wortentziehung ein parlamen­tarischer Gewaltakt begangen wurde. Während der Zeit der Kom­missionsarbeiten eine Interpellation über Arbeitslosigkeit zu beraten, wie es die Sozialdemokraten forderten, lehnten Junker und Zentrum ab.

Dafür hat der Reichtstag eine Arbeitslosendebatte ge habt. Sie verlief in der gewohnten Weise. Den scharfen An­flagereden der sozialdemokratischen Sprecher folgten die Beschöni­gungsversuche der Regierungsvertreter und der bürgerlichen Par­teien. Vom Reiche wird so gut wie nichts geschehen, von den Bundesstaaten wenig im übrigen mögen die Gemeinden forgen. Eine Arbeitslosenversicherung ist unmöglich, erklärt gemütsruhig der Nachfolger Posadowskys, der ehemalige preußische Polizei­minister v. Bethmann- Hollweg . Bürgerliche Redner, die auch nichts Besseres wußten, suchten die Bankerotterklärung der bürgerlichen Ordnung zu verdecken, die in ihrer Hilflosigkeit vor dem Problem der Arbeitslosigkeit liegt. Sie stellten frischweg die blödsinnige Be hauptung auf, der sozialistische Zukunftsstaat" werde dieses Problem auch nicht lösen können.

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Einen düsteren Schatten warf auf diese Debatten das furchtbare Grubenunglück auf der Zeche Radbod bei Hamm , das an 350 Bergleuten das Leben kostete. Der entsegliche Vorfall ruft laut nach der Anstellung von Grubenkontrolleuren aus den Reihen der Arbeiter selbst eine Forderung, die die Bergleute feit langem vergebens erheben, rust nach der endlichen wirksamen Regelung des Bergarbeiterschutzes durch das Reich. Die Katastrophe hatte auch einen preußischen Prinzen als Vertreter des Kaisers nach der Unglücksstätte geführt. Er hat dort einmal eine wirkliche Volts­fundgebung erlebt. Nicht mit Hurra, sondern mit lauten Rufen nach Bergarbeiterschutz wurde der Brinz von der Bergarbeiterbevölkerung empfangen, und wider alle Etikette drängte sich in den Empfangs raum eine Deputation der Menge, die die Forderungen der Berg­arbeiter in entschiedener Weise vortrug. Indes haben die Gruben­besitzer einen Trost. Der Handelsminister Delbrück hat vor aller Untersuchung schon erklärt, daß ein Verschulden der Zechenverwaltung und der Bergaufsicht nicht vorliegt. Die Bergleute denken anders darüber, und im Reichstag konnten die sozialdemokratischen Sprecher schon von großen Mißständen auf der Unglücksgrube berichten.

Der Entwurf der Reichsfinanzreform ist dem Reichstag zu gegangen. Er entspricht dem, was hier schon über ihn vorausgesagt wurde und wird demnächst näher zu besprechen sein.

Machtvolle Wahlrechtsdemonstrationen, für welche die Polizei die Straßen freigeben mußte, haben am 1. November in Sachsen stattgefunden. Das Projekt eines Pluralwahlrechts, das die Arbeiterschaft aufs neue schmählich entrechten würde, hat laut. den Protest des Proletariats herausgefordert.

In Österreich erzielte die Sozialdemokratie bei den nieder­österreichischen Landtagswahlen schöne Erfolge; in der Schweiz eroberte sie bei den Nationalratswahlen mehrere neue Size. Die Präsidentenwahl in der nordamerikanischen Union endete mit dem Siege des republikanischen Kandidaten Taft. Die Sozial­demokratie hat einen Stimmenzuwachs zu verzeichnen, dessen Größe noch nicht festzustellen ist. Die Baltanfrage steht noch auf dem alten Fleck. Der Friede erscheint zurzeit weniger bedroht als un­mittelbar nach der Annexion Bosniens und der Unabhängigkeits­erklärung Bulgariens . In der Türkei find die Wahlen im Gange; der Sultan scheint der Gefangene der Revolution zu sein, seine Balastgarde ist durch Truppenteile abgelöst worden, die den Jungtürken anhängen. Es ist dabei nicht ganz ohne Blutvergießen abgegangen. In Frankreich ist es zur Freilassung der Ge wertschaftsführer gekommen, die seit dem blutigen Tage von Draveil wegen angeblicher Verschwörung verhaftet waren. Die Staatsaktion Clemenceaus ist mangels jeglicher Unterlage für eine Anklage schmählich zusammengebrochen.

Gewerkschaftliche Rundschau.

H. B.

Die deutschen Arbeitgeberverbände haben sich unlängst in einer gemeinsamen Ausschußsizung mit den aktuellen Fragen der Sozialpolitik befaßt. Bemerkenswert scheint, daß sie in

Nr. 4

Sachen der Arbeitskammern sich im Sinne der Forderungen unserer Gewerkschaften erklärten. Ganz zutreffend wurde ausgeführt: ,, Die paritätischen Arbeitskammern find zu verwerfen. Die Arbeit­geber brauchen sie nicht, sie haben an den Handelskammern, Hand­wertstammern, Landwirtschaftskammern usw. genügend gesetzliche Vertretungen. Will man den Arbeitern auch eine gesetzliche Ver tretung geben, so möge man Arbeiterkammern errichten." Arbeiter­und Unternehmerorganisationen lehnen also gleicherweise die von einer hochweisen Reichsregierung geplante sozialpolitische Beglückung mit Arbeitskammern ab. Sie sind doch sicher kompetente Beurteiler dessen, was ihren Interessen frommt. Trotz ihrer Stellungnahme muß jedoch damit gerechnet werden, daß Reichsregierung und bürgerliche Parteien ihren sozialpolitischen Glorienschein neu ver­golden wollen, indem sie Arbeitern und Unternehmern eine In­stitution aufzwingen, von der beide Interessengruppen nichts wissen wollen. Sozialpolitische Maßnahmen werden bei uns zulande nicht dem Wunsche und Bedürfnis der in Frage kommenden Be­völkerungskreise angepaßt, sie sollen vielmehr den bürgerlichen Bar­teien und der Regierung als Agitationsmittel und Sündenmante! dienen.

Die Gewerbe, welche durch die maßlose Steuervorlage arg bedrängt, ja in ihrer Existenz bedroht werden, suchen den Schlag durch einen Appell an die Konsumenten abzuwehren. Der Tabak­arbeiterverband eröffnete den Reigen mit einer umfassenden Protestbemegung gegen die weitere Besteuerung des Tabals, die zurzeit noch in Fluß ist. Seinem Beispiel folgte der Verband der Brauereiarbeiter, der in allen Gegenden Deutschlands Protestversammlungen gegen die Besteuerung des Bieres einberuft. Die angekündigte Steuer auf Bier wird das Erwerbsleben weiterer Bevölkerungstreise schwer schädigen. Die Brauereien gehen nicht nur an Betriebseinschränkungen, welche Entlassungen von Personal zur Folge haben, fie fündigen auch den kleinen Gastwirten die Hypotheken. Sie befürchten, der verminderte Bierabsatz müsse viele Gastwirte zum Bankerott treiben, eine Befürchtung, die leider nur zu berechtigt erscheint. So zieht die geniale" Steuerpoliti des Reiches Erwerbsgebiete in Mitleidenschaft, von denen man bei oberflächlicher Betrachtung niemals gedacht hätte, daß sie geschädigt werden fönnten. Und diese steuerpolitische Weißblutung der Massen in einer Zeit, wo die Depression des Wirtschaftslebens, die täglich fühlbarer wird, viele Betriebseinschränkungen, Arbeiterentlassungen und Lohnherabsetzungen bewirkt. Soweit Arbeiterentlassungen nicht direkt erfolgen, werden Feierschichten eingelegt oder die tägliche Arbeitszeit wird vertürzt. Sogar die Spandauer Militär­werkstätten mußten Betriebseinschränkungen vornehmen. Hiobs­posten laufen aus allen Industrien ein, nicht zuletzt aus der Textilindustrie. Angesichts der bestehenden Krise ist es nur zu erklärlich, daß die vereinzelten Lohnbewegungen, die zu verzeichnen sind, fleinen Umfang und fast nur lokales Interesse haben. Auch die Abschlüsse von Tarifverträgen gestalten sich unter dem Drucke der Lage ungünstiger als sonst. Im Weiß. gerbergewerbe tam zum Beispiel ein neuer Tarifvertrag nur nach vielem Sträuben der Arbeiter zustande, die sich mit den Be­dingungen absolut nicht einverstanden erklären wollten. Sie er­achteten insbesondere, und unserer Ansicht nach völlig mit Recht, daß in diesem Gewerbe, wo die Arbeit die Gesundheit schwer an greift, eine tägliche Arbeitszeit von 9% Stunden viel zu hoch sei. Eine geringe Lohnerhöhung und einige sanitäre Verbesserungen der Arbeitsbedingungen machten den Arbeitern schließlich die Annahme des Vertrages etwas mundgerechter, so daß ihm die entscheidende Versammlung mit Zweidrittelmajorität zustimmte.

Es liegt auf der Hand, daß die Krise mit ihren Begleiterschei nungen die gewerkschaftliche Agitation erschwert. Die Agitations­versammlungen, die der Verband der Maurer legthin im ganzen Reiche abgehalten hat, sind im allgemeinen nicht gut besucht gewesen, sie erzielten mithin nur einen Teil des erstrebten Erfolgs. Nichtsdestoweniger oder richtiger gerade deshalb entfalteten die Verbände eine sehr rührige agitatorische Tätigkeit. Der Trans­portarbeiterverband nimmt sich in lezter Zeit der Zeitungs­austrägerinnen an, die wahrlich alle Ursache haben, ihre schlechte Entlohnung mittels des Zusammenschlusses aufzubessern. Der Bäckerverband nüßt die günstige Zeit vor Weihnachten zu einer Agitation unter den Arbeitern und besonders den Arbeiterinnen der Schokoladen- und Zuckerwarenfabriken aus. Auch ihnen tut eine Hebung der Arbeitsbedingungen bekanntlich dringend not. Die Zahlstelle Berlin des Deutschen Buchbinder. verbandes feierte in diesen Tagen ihr 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlaß fand ein Festkommers statt, und eine 214 Seiten starte Festschrift wurde herausgegeben. Sie ist die Kollektivarbeit mehrerer im Verband tätiger Genossen und schildert den Werde­