76 Die Gleichheit Nr. 5 dieser Beziehung? Zur Zeit der französischen Revolution— wie der rein bürgerlichen Revolutionen überhaupt— hatte die kapita- listische Produktion noch nicht einen solchen Reifegrad erlangt, daß die Existenz von Millionen erwerbstätiger Frauen die Forderung voller Gleichberechtigung für das weibliche Geschlecht als den Aus- druck eines gesellschaftlichen Massenbedürfnisses, als Massenforde- rung auftteten lassen konnte. Die soziale und polittsche Emanzipation der Frau kann nicht an dem Anfang der bürgerlichen Gesellschaft stehen. Sie erscheint erst als Ergebnis der geschichtlichen Entwick- lungsreihe, welch« durch die Emanzipation der Bourgeoisie ein- geleitet wird. Die geschichtliche Leistung der bürgerlichen Revolution für das weibliche Geschlecht besteht daher nicht in der Formulierung von Rechten, sonder» in dem Niederreißen der feudalen Schranken, welche sich der Entfaltung der kapitalistischen Produktion und der bürgerlichen Ordnung entgegenstellen. Denn erst diese Entfaltung schafft die geschichtlichen Borbedingungen für die wirtschaftliche Emanzipation der Frau vom Haushalt und der Familie und da- mit die Grundlage für ihre soziale und politische Gleichberechti- gung. ES sei nur an die entscheidende Bedeutung erinnert, welche der Zertrümmerung der Zunftschranken für die Entwicklung der gewerblichen Frauenarbeit zukommt. Das Verdienst der Revolution um das weibliche Geschlecht an juristischen Rechtsnormen messe», ist genau so geistreich, wie die Tief« des Weltmeer? nach dem bißchen Wasser zu bestimmen, welches Ida JenS etwa mit einem Spieleimerchen aus dem Ozean zu schöpfen vermag. Der„Ossene Brief" hatte stolz verkündigt,„die parteilose Frauen- fttnimrechtsbewegung" gegen die bösen Attacken der bösen„Gleich- heil" zu schützen. Wir ließen uns durch daS laute Getön nicht ein- schüchtern, sondern schauten hinter das Löwenfell, aus dem es er- klang. Und stehe da, was fanden wir dahinter? Nicht einmal das durch die Fabel geheiligte bekannte Grauchen, wohl aber ein kleineres gefiedertes Tier. Schnattern konnte es, das Kapital der„partetlosen Fraueiistimmrechtsbewegung" vermochte es jedoch nicht zu retten. Aus der Bewegung. Di« Endabrechnung haben noch nicht alle bisherigen Ver- trauenspersonen der Genossinnen an die Zentralstell» in Berlin »ingeschickt. Es ist dringend nötig, daß di«S so bald als mög- lieh geschieht, weil den Bestimmungen der Neuorganisation gemäß d«r bisherige Agitationsfonds der Genossinnen an die Zentralkasse d«r sozialdemokratischen Partei abgeführt werden muß. Mit Parteigruß Ottilie Baader . Luis« Zietz. Von der Agitation. Die in diesem Jahr« von dem Agitations- kvmilee für den Niederrhein entfaltete umfangreich» Agitation »nter den Proletarierinnen war sehr fruchtbringend. Die Unter- »»ichnete referierte in Versammlungen zu Oberkassel, Neuß , Katernberg bei"Solingen , Ohligs auf der Höhe, Haan , Ronsdorf , Radevormwald , Schmidhorst, Kettwig , Uerdingen , Kray , Borbeck und Bommern . Der Besuch von feiten der Frauen war äußerst zahlreich. Der Vortrag über das Thema:„Welche Aufgaben hat die Frau im proletarischen Befreiungskampf?" fesselte die Hörerinnen sehr. Nicht rechtzeitige Anmeldung vereitelte die Versammlung, die für Viersen vorge- sehen war. In Uerdingen versuchte die Behörde bei der Aus- stellung der Bescheinigung Schwierigkeiten zu machen. Unter anderem äußerte der Kommissar, die„Erlaubnis zur Versammlung pl geben, ginge man nicht so", er kenne ja die Frau nicht, die sprechen solle, auch wisse er nicht, ob die Frau schon besttaft sei. Es bedurfte deS Einschreitens des sozialdemokratischen Kreisleiters, den Herrn in seine Schranken zurückzuweisen. In Hückeswagen konnte keine Versammlung stattfinden, well die Textilindusttie— der Hauptbeschäftigungszweig der Bevölkerung— im Niedergang begriffen ist, die jüngeren Arbeitskräfte infolgedessen verzogen und die älteren hoffnungslos und gleichgültig geworden sind. Bei der Wahlbewegung ist das dortige Proletariat auf dem Posten, aber mit dem Versammlungsbesuch hapert es seit dem Niedergang des wirtschaftlichen Lebens. Hoffentlich wird die Bewegung durch die Betelligung der Frauen an ihr wieder belebt. Durch die Ver- sammlungen wurden— abgesehen von neu gewonnenen Abon- nenten für die Arbeiterpresse— reichlich 250 Frauen und Mädchen den Parteiorganisationen zugeführt. Da die weiblichen Parteimit- glieder am Niederrhein die„Gleichheit" von den Organisationen gegen einen Monatsbeitrag von 30 Pf. geliefert erhalten, so hat dies« viele neue Leserinnen gewonnen. Der schöne Erfolg der Tour ist nicht zuletzt darin zu suchen, daß die Frauen sich jetzt in größerer Zahl der Partei anschließen. Hoffentlich nutze» sie das Recht zur politischen Organisation immer besser aus. W. Kühler. Berlin . Seit dem Nürnberger Parteitag hat die Frauen- agitation in Berlin kräftig eingesetzt. Die Genossinnen verstehen das einzige Recht gut auszunützen, welches ihnen das reaktionäre Vereinsgesetz gegeben hat: das Recht, sich politisch zu organisieren. Nachdem ihr llbertritt in die Wahlvereine sich vollzogen hatte, er- ging die Aufforderung an alle weiblichen Wahlvereinsmitglieder, an den sogenannten Zahlabenden der Männer teilzunehmen, die am zweiten Mittwoch jedes Monats stattfinden. Die Beteiligung der Frauen an diesen Zahlabenden war aber bisher keine sehr leb- hafte. Zunächst erlaubt es die Sorge um Wirtschaft und Kinder nur wenigen Proletarierinnen, zur selben Zeit wie ihr Mann auS- zugehen. Dann aber fühlten sich die wenigen Frauen, die ab- kommen konnten, im Kreise der Männer vereinzelt nicht recht wohl, blieben deshalb, mit wenigen Ausnahmen, den Zusammenkünsten fern. Nun bestehen in Berlin schon seit mehreren Jahren„Lese- ab ende", die die Genossinnen in die Gedankenwelt des SozialiS- mus einführen. Unter dem alten Vereinsgesetz konnte keine offene Propaganda für sie gemacht werden. So waren die Leseabend« zwar imstande, einen Stamm von tüchtigen Genossinnen heran- zubilden, blieben aber der großen Masse der Proletarierinnen un- bekannt. Durch Vereinbarung aller Berliner Parteiinstanzen sind nun neuerdings Diskussionsabende eingerichtet worden, die am dritten Freitag jedes Monats stattfinden und in erster Lini« der theoretischen Ausbildung der Frauen dienen sollen. Laut Be- schluß wird deshalb der erste Teil des Erfurter Programms den ersten Vorträgen zugrunde gelegt. Anfangs wird die Diskussion durch Fragen der Vortragenden an die ZuHörerinnen eingeleitet werden müssen. Mit der Zeit werden sich besonders die vor- geschrilteneren Genossinnen an freie Diskussion gewöhnen. Ge- Nossen sind von diesen Abenden zwar nicht ausgeschlossen, doch hat jede Leiterin eines Diskussionsabends ausdrücklich darauf hin- zuweisen, daß an diesem Abend kein Genosse anwesend sein möge, dessen Beteiligung seine Frau daheim zurückhält. Die ersten DiZ- kussionsabende, ungefähr 50 zu gleicher Zeit mit demselben Themc� haben am Freitag den 20. November unter reger Beteiligung statt» gefunden. Der Freitag ist jedoch, besonders für die Heimarbeit«- rinnen, ein recht ungünstiger Tag, so daß über kurz oder lang ein anderer Wochentag für dies« bildenden Zusammenkünfte festgelegt werden soll.— Die Leseabende sind neben den DiskussionS- abenden fast überall bestehen geblieben. Nur daß sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht mehr wie früher regelmäßig alle 14 Tage, sonder» nur einmal im Monat stattfinden. In diesen Leseabenden vereinigen sich nach wie vor die theoretisch vorgeschritteneren Genossinnen, die auch bereits zur praktischen Mitarbeit herangezogen werden. Eo sind aus diesen Leseabenden die Mitglieder der Kinderschutz- kom Mission hervorgegangen, welche vor kurzem in Berlin g«- gründet wurde. Dringend nötig war es, daß die Berliner G»- nossinnen diese Einrichtung schufen, die sich in Dresden und Leipzig so gut bewährt, hat doch beispielsweise der Polizeipräsident von Berlin auch dieses Jahr wieder„noch einmal ausnahmsweise" für die Weihnachtszeit ein Feilbieten von Waren durch Kinder üb« zwölf Jahre werktags von 5 bis 8 Uhr nachmittags gestattet, nur muß jeder klein« Händler eine von dem Rektor seiner Schule auS» gefertigte Ausweiskarte bei sich führen. Und zahllos ist die Kinder» schar, die trotz des gesetzlichen Verbots vor dem Schulbeginn Früh- stück und Zeitung austrägt. Mit dem Laternchen am Gürtel geht eS treppauf treppab, in Kälte und Regen. Umsängt dann die Ruh» und Wärme des Schulzimmers das Kind, so schläft es ein oder ist zum mindesten unfähig, dem Schulunterricht zu folgen. Die Kind»r- schutzkommission, die aus 17 Mitgliedern besteht, wird auf dt« Eltern aller jener Kinder einzuwirken suchen, die im schulpflichtigen Alter erwerbstätig sind. Kann doch eine Frau, die die Schwer» deS Proletarierlebens kennt, mit einer proletarischen Mutter ganz anders reden, als ein Mann oder gar ein Schutzmann mit«in»m Strafmandat. Die Kinderschutzkommisston soll und wird nicht di« Rolle des Schutzmanns spielen und bei Gesetzesübertretungen mit einer Anzeige drohen. Sie will vielmehr die Eltern ermahnen, daß st« das körperliche und geistige Wohl ihrer Kinder nicht um ein paar Groschen verschleudern; sie will sie darüber aufklären, daß die erbärmlichen Löhne der Kinder auf den Verdienst der Er- wachsen«» drücken, ganz besonders in Zeiten der Krise, wie wir sie augenblicklich durchmachen.— Die Arbeitslosigkeit ist in Berlin erschreckend groß. Freilich, die vom Berliner Statistischen Amt vor- genommene Zählung gibt nur ein schiefes Bild der traurigen Wirk- lichkett, da sie nach einem falschen System vorgenommen wurde. Unsere Genossen im Rathaus hatten verlangt, daß die Zahl der Arbeitslosen durch eine Hauszählung festgestellt werden solle, bei der jeder einzelne Bewohner von einem Zähler aufgesucht wird. Bei der Zählung vom 17. November mußte aber jeder Arbeitslose
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19 (7.12.1908) 5
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