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Die Gleichheit
die 500 Millionen neuer Steuern zahlen könne. Der preußische Finanzminister Rheinbaben empfahl sich nach oben durch ebenso läppische Angriffe auf die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie. Nach seiner Versicherung beuten sie die Arbeiterklasse viel schlimmer aus, als es die herrschende Klasse vermittelst der indirekten Steuern tut. Der Minister bewies seine Eignung zum Agitator des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie überdem durch die Unbedenklichkeit in der Wahl des Mittels, dessen er sich bediente, um eine höhere Belastung der Arbeiter durch die Partei- und Gewerkschaftsbeiträge als durch die geforderten neuen Steuern vorspiegeln zu tönnen. Er berechnete die ersteren nämlich auf den Kopf des ers wachsenen Arbeiters, die letzteren auf den Kopf der gesamten Arbeiterbevölkerung, einschließlich der Frauen und Kinder! Ein Kniff, dessen sich die Mannen des Herrn v. Liebert nicht zu schämen hätten! Das furchtbare Grubenunglück auf der Zeche Radbod hat ein parlamentarisches Nachspiel in Preußens Landtag und im Reichstag gefunden. Die zerschmetternden Anklagen der Sozialdemokratie gegen die Bergwerkstapitalisten und die preußische Bergaufsicht formulierte hier Genosse Hué, dort Genosse Leinert. Aber die ganze Antwort, die sie vom preußischen Bergwerksminister auf ihre Forderung nach Erfüllung der Vergarbeiterforderungen erzielen konnten, war ein zwar verhülltes, aber dennoch nicht im geringsten zweifelhaftes Nein. Denn die Maßregeln, die der Minister unter dem Druck der entsetzlichen Katastrophe zugestehen will, sind für die Kay! Nicht wie die Bergleute es fordern, sollen Arbeiterkontrolleure angestellt werden, die ständig die Gruben kon trollieren und von den Arbeitern gewählt und vom Staate befoldet werden, so daß sie also von den Zechenherren unabhängig sind. Der Minister will ſtatt ihrer nur Vertrauensmänner nach saarabischem System gewähren, die weiter auf der Grube arbeiten und nur alle Monat einmal in Begleitung des Staatsbeamten kontrol lieren dürfen. Was bedeutet das anders, als daß über ihnen das Damoklesschwert der Entlassung und der Schwarzen Liste hängt, das herabstürzt, wenn sie durch scharfe Kontrolle den Gruben verwaltungen unbequem werden. Unabhängige Arbeiterkontrolleure, wie die Bergleute selbst sie fordern, würden diesen unendlich besseren Schutz gegen Katastrophen garantieren als die Vertrauensmänner. Aber Arbeiterkontrolleure kann der Minifter nicht zugestehen, denn sie könnten, wie er meint, politisch mißbraucht werden, das heißt sie könnten die Herrschaft und den Profit der Gruben besitzer schmälern. Und diese heiligen Rechte zu schüßen, fühlt sich die preußische Regierung vor allem verpflichtet; die Sorge für das Bergmannsleben wiegt im fapitalistischen Staate auch nicht einen Strohhalm.
Die furchtbare Arbeitslosigkeit, welche die Krise über Eng lands Proletariat gebracht hat, wird durch die Tatsache gekenn zeichnet, daß Ende Oktober 257 Gewerkschaften 9,5 Prozent arbeitslose Mitglieder hatten. Einen höchst gefährlichen Streich gegen die Grundlagen der englischen Arbeiterpartei hat der Appellationsgerichtshof geführt. Er erklärte, daß eine Verwendung von Mitteln der Trades Unions( der Gewerkschaften) für Wahlen und den Unterhalt von Barla mentsmitgliedern ungeseßlich sei. Das bedeutet, daß es der Arbeiters partei unmöglich gemacht wird, in der jezigen Art noch weiterhin die nötigen finanziellen Mittel aufzubringen. Das ist von größter Bedeutung, weil in England die Wahlkosten erheblich hohe find und die Parlamentsmitglieder feine Diäten erhalten. Die höchste Instanz, welche in der Frage entscheidet, ist das Oberhaus. Bei der reaktionären Zusammensetzung des Parlaments der Lords ist eine Aufhebung des Entscheids kaum zu erwarten. Seinerzeit hat das gleich arbeiterfeindliche Taff- Bale- Urteil den Anstoß zur Bildung der Arbeiterpartei gegeben. Hoffentlich hat der neueste reaktionäre Entscheid zur Folge, daß das englische Proletariat um so ent schiedener den bürgerlichen Parteien absagt und entschlossen ins Lager des Sozialismus abmarschiert.
Auf dem Balkan ist die Situation andauernd kritisch. Serbien und Montenegro rüsten, Österreich verstärkt seine Truppen, und seine Beziehungen zu der Türkei verschlechtern sich zusehends. Die Türken boykottieren die österreichischen Waren mit solchem Erfolg, daß Österreich mit der Abberufung seines Botschafters gedroht hat, wenn die amtliche Unterstüßung des Boykotts nicht aufhöre. Die Türkei hat eine Stüße an England. Auf Rußland stüßen sich Serbien und Montenegro, die lärmend Kompensationen" für die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich fordern. Diese Tatsache zeigt, welch gefährliche Folgen für den Frieden Europas triegerische Ereignisse auf der Baltanhalbinsel haben tönnten.
In Persien verweigert der Schah nach wie vor die Einbes rufung eines Parlaments. England und Rußland haben gegen feine Haltung protestiert. Ob sie aber ernstlich gewillt sind, dem persischen Volke zu einer Verfassung zu verhelfen, das steht auf
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einem anderen Blatte. Die Revolutionäre haben von Täbris aus ihren Machtbereich durch siegreiche Unternehmungen ausgedehnt,
Die nordamerikanische Sozialdemokratie hat es nach vorläufigen Angaben bei der Präsidentschaftswahl auf 550 000 Stimmen gegen 400 000 im Jahre 1904 gebracht. Amtliche Ergebnisse liegen noch nicht vor.
In Australien ist die Fraktion der Arbeiterpartei berufen worden, das Ministerium zu übernehmen; Premierminister ist der Bergmann Fisher. Der Arbeiterpartei fehlt indes die Majorität im Bundesparlament, neben 26 Arbeiterparteilern sitzen darin 31 Freihändler und 18 Schutzöllner. Die letzteren hatten bisher das Ministerium gestellt, das die Unterstügung der gleichfalls schutzzöllnerischen Arbeiterpartei hatte. In letzter Zeit hat diese indes die Unterstützung aufgefagt, da sie zu der Erkenntnis kam, daß die schutzöllnerische Politit nur zugunsten der Rapitalisten getrieben wurde. So verlor das schutzölnerische Kabinett die Mehrheit und mußte zurücktreten. Fisher will das Parlament nicht auflösen, da die Schutzöllner, die ihm Unterstützung in Aussicht stellten, jetzt teine Wahlen wünschen. Die Arbeiterminister gehören sämtlich dem rechten Flügel der Arbeiterbewegung an, Sozialdemokraten sind nicht unter ihnen.
Gewerkschaftliche Rundschau.
H. B.
Die wirtschaftliche Krife, die sich von Nordamerika ausgehend über ganz Europa erstreckt hat, macht sich den Arbeitern in den industriell entwickeltsten Ländern am schwersten fühlbar. Das Proletariat Englands leidet am meisten. Nach der Statistik des englischen Arbeitsamtes wurden im Oktober allein 500 000 be= schäftigungslose, gewerkschaftlich organisierte Arbeiter gezählt. Eine allgemeine Schäßung ergibt anderthalb Millionen Arbeitslose, hinter denen ihre Angehörigen stehen, so daß etwa 7% Millionen Menschen der Not und dem Elend preisgegeben sind. In Glas gow wurde schon im September festgestellt, daß 20 000 Familiens väter seit Wochen keine Arbeit hatten. Das bedeutet, daß ungefähr 80 000 Personen unter den Entbehrungen und Sorgen litten, welche die unvermeidlichen Folgen der Arbeitslosigkeit sind. Alle Bemühungen, die vom Staate und den Kommunen gemacht werden, um durch Notstandsarbeiten das Elend zu lindern, sind natürlich des erschreckenden Umfanges der Krise wegen Tropfen auf einen heißen Stein.
Wie groß in Deutschland die Arbeitslosigkeit ist, läßt sich leider nicht zahlenmäßig genau nachweisen. Einen Begriff davon geben aber die Scheinwerfer der lokalen Arbeitslosenzählungen, die erfennen lassen, welch große Schichten des Industrieproletariats durch die Krise aufs Pflaster geworfen worden sind. So hat zum Beispiel eine für Groß- Berlin vorgenommene Zählung 40000 Beschäftigungslose ergeben. Diese Ziffer enthüllt sicher nicht einmal die ganze Größe der wirtschaftlichen Not, da die Zählung begreiflicherweise feineswegs alle Arbeitslosen erfassen konnte. In diesen Zeiten erscheinen die Sydowschen Steuerprojekte und die Mahnung des Reichstanzlers zur Sparsamkeit als blutiger Hohn auf die Lage der Arbeiterklasse.
Ein fleiner Fortschritt auf dem Gebiet der Sozialpolitik ist seit bem 1. November für Berlin zu verzeichnen. Der Achtuhrladenschluß ist nach langem zähen Drängen der Handelsangestellten auch für die Reichshauptstadt Wirklichkeit geworden. Andere Städte in nicht geringer Zahl sind ihr mit der bescheidenen Reform vorangegangen, ein Beispiel mehr dafür, wie fortschrittsund arbeiterfeindlich der in der Berliner Stadtvertretung herrschende Freisinnsflüngel ist. Eine Anzahl Ausnahmebestimmungen, die der Berliner freisinnige Magistrat festlegen wollte, gingen so gar dem neuen Polizeipräsidenten zu weit. Er beschränkte sie dar auf, daß für die Sonnabende und die Tage vor den hohen Festen eine längere Verkaufszeit zugelassen wird. Die Bedenken, die gegen die Einführung des Achtuhrladenschlusses geltend gemacht worden find, so besonders der Hinweis auf die Schädigung der Geschäftsleute, wurden selbst von der„ Vossischen Zeitung" als unbegründet zurückgewiesen. Nach einer Umfrage, die in größeren und kleineren Spezialgeschäften vorgenommen wurde, hatten diese feinen Ausfall in ihren regelmäßigen Einnahmen. Nur die Gas- und Elektrizi tätswerte dürften wegen des verminderten Verbrauchs von Gas und elektrischem Strom etwas weniger einnehmen. Die unzweideutige Sachlage wird natürlich unsere Gegner nicht hindern, der Verwirklichung ähnlicher sozialpolitischer Forderungen denselben jahrelangen hartnäckigen Widerstand entgegenzusehen wie der Einführung des Achtuhrladenschlusses. Die besitzenden und herrschenden Klassen wollen feine Reform, fie möchten jede Hebung der Lage der Ausgebeuteten hintertreiben.