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Die Gleichheit
tien, parlamentarischen Regiments zum Überfluß nochmals erhärtet wird.
In dieser Zeit finanziellen und moralischen Reichsbankrotts ist Dernburg , der Kolonialstaatssekretär, auf dem Plan erschienen, um dem deutschen Volke wieder einmal herrliche Aussichten zu eröffnen. Er wußte bei der Etatsberatung von großen Diamanten funden in Südwestafrita verheißungsvoll zu erzählen. Über die sonstigen Erfahrungen seiner südafrikanischen Sommerreise schwieg er flüglich, offenbar um den guten Eindruck der Diamantenfunde nicht abzuschwächen. Genauere Nachrichten aus Südwestafrifa zeigen bereits, daß die Ergiebigkeit und die dauernde Rentabilität der Diamantenfelder noch sehr im ungewissen liegen.
Sonst ist aus den Reichstagsverhandlungen noch zu vermerken, daß die Sozialdemokratie unter Beibringung schlagenden Materials als faule Ausrede den Versuch des Staatssekretärs entlarvt hat, die Ausnahmebehandlung der polnischen Gewerkschaften so hinzustellen, als ob sie sich mit seinem Versprechen bei der Beratung des Vereinsgesetzes in Einklang befinde. Der Freisinn sprang in diensteifrigster Weise dem Staatssekretär bei, und wieder und wieder beteuerte er, daß er nicht getäuscht sei, sondern mit dem Staatssekretär unter einer Decke gesteckt habe. Ist das richtig, so haben damals beide gemeinsam die Öffentlichkeit zu täuschen unter
nommen.
Bürgermeister Schücking von Husum ist, nachdem ihn der Freisinn schmählich im Stich gelassen hat, des Kampfes gegen die Junkers bureaukratie müde geworden und hat sein Amt niedergelegt. Der Freisinn ist also aus der Verlegenheit befreit, um des unbequemen Mannes wegen, dem sein Liberalismus noch nicht völlig Schall und Rauch geworden war, ein paar Worte riskieren zu müssen, die seine Blockherrlichkeit gefährden könnten: Er ist um eine Schande und die Junker sind um einen leichten Sieg reicher. Auch der Ausgang des Falles Schücking hat erwiesen, daß in Preußen niemand Beamter, und sei es auch Beamter der Selbstverwaltung, sein darf, der nicht die Herrschaft des Junkertums in der Staatsverwaltung respektiert. Die Zulassung des Freisinns zum Blockdienst ändert daran nichts.
Wen kann es verwundern, daß ein Freisinn, der das schweigend hinnimmt, schließlich selbst zu Wahlrechtsverschlechterungen seine Hand leiht? In der Stadt Rixdorf, dem großen Vorort Berlins , hat die bürgerliche Stadtverordnetenmehrheit die sozialdemokratische Winderheit mit einem Attentat auf das Wahlrecht der Proletarier und kleinen Leute überfallen, das ohnehin schon durch das Dreitlassensystem arg beschnitten ist. Anlaß zu dem bis zum äußersten Termin streng geheim gehaltenen Anschlag war die Eroberung einiger Mandate der zweiten Klasse durch die Sozialdemokratie, deren Eindringen in diese Kategorie der Wähler in geraumer Zeit einmal die Mehrheit der Bürgerlichen in Frage stellen konnte. Erbittert setzten sich die überfallenen zur Wehr; erst nach einer stürmischen Eizung, die durch entschlossene Obstrut tion der Sozialdemokratie sich bis in die frühe Morgenstunde hinaus zog, wurde der freche Wahlrechtsraub vollendet. Zu Zehntausenden hatte er die Rigdorfer Arbeiterschaft vor das Rathaus geführt. Die ganze bürgerliche Mehrheit stimmte geschloffen, fünf freisinnige Stadtverordnete halfen das Wahlrecht verkümmern. Und das Schweigen der freisinnigen Fraktionspresse sette das Parteisiegel unter diese neue Schandtat des Freisinns. Erst nach mehreren Tagen, auf wiederhoite Vorhaltungen der sozialdemokratischen Presse, tam die Freisinnige Zeitung" mit einer lendenlahmen Be mertung, wonach eine derartige Verschlechterung des Wahlrechts nicht den Auffassungen der Freisinnigen Volkspartei entspricht". Daran wurde aber gleich eine Beschönigung des Standals geknüpft, indem das Blatt den Raub als Notwehr gegen sozialdemokratischen Terrorismus hinstellte. Anstatt also zu folgern, daß das schlechte Wahlrecht mit der öffentlichen Abstimmung fallen muß, schließt sich der deutsche Freisinn den Wahlrechtsräubern an. Wer soll da noch den freisinnigen Antrag auf Einführung des gleichen Landtagswahlrechts in Preußen ernst nehmen?
Die bürgerlichen Parteien im Landtag des Herzogtums Gotha haben einen ähnlichen Gewaltstreich wie die von Anhalt vollführt. Sie erklärten unter Mißachtung früher beobachteter Regeln das Mandat des Genossen Bock für ungültig. Genügt hat ihnen der empörende Streich nichts. In der Ersatzwahl ist Genosse Bock bereits wiedergewählt worden.
In England verschlechtert sich die Lage des Liberalismus und der Regierung beständig. Das Oberhaus, die Kammer der geborenen Gesetzgeber, hat verschiedene Rejormen verworfen, die das Unterhaus angenommen hatte. Die Regierung hat es aber nicht gewagt, durch Auflösung des Unterhauses an die Wähler zu appel lieren und so die Lords moralisch zum Aufgeben ihres Widerstandes
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zu zwingen. Auch das Achtstundengefeß für die Bergleute haben die Lords verschlechtert. Da Ein- und Ausfahrt nicht in die Arbeitszeit eingerechnet werden, so erhalten die Bergleute in Wirklichkeit den 82 stündigen Arbeitstag. Die Bestimmung, daß innerhalb sechs Jahren Ein- und Ausfahrt eingerechnet und also der volle Achtstundentag erreicht werden soll, hat das Oberhaus gestrichen. Interessant ist ein Finanzreformplan der Regierung in Hinblick auf die zurzeit schwebende Vorlage im Deutschen Reich. Die englische Regierung will die Grundsteuern von 1 Million auf 12 Millionen Pfund Sterling erhöhen, ferner die jährliche Lizenzgebühr für Schankhäuser von 20 auf 100 Pfund, auf Einkommen von 10000 Pfund an sollen Zusatzsteuern gelegt werden, und Erbschaften von 1 Million Pfund sollen künstig 15 Prozent Erbschaftssteuer tragen. Von diesen Steuern ist allein die Schanklizenzgebühr eine solche, die auf die ärmeren Klassen abgewälzt werden kann, die übrigen Vorschläge treffen nur die Besitzenden. In Deutschland heulen die Junter wider eine Erbschaftssteuer, deren Höchstsah 3 Prozent beträgt!- Für Indien hat die angloindische Regierung Reformen verkündet, die die Besitzenden in geringem Umfang im Gesetzgebenden Rat und in Provinzialtammern zur Verwaltung des Landes zulassen. Es scheint sehr fraglich, ob diese kleinen Zugeständnisse die anschwellende nationale Bewegung eindämmen können, zumal die Inder andererseits durch drakonische Ausnahmegesetze gegen ihre Agitation wieder gereizt werden.
Frankreichs Kleinbürgertum hat in der letzten Zeit Lektionen im Klassenfampf demjenigen Teile der Sozialisten gegeben, die noch immer von einem Zusammengehen mit dem linken Flügel des Bürgertums, mit dem Radikalismus träumen. An der Feigheit der fleinbürgerlichen Radikalen scheiterte die von der Regierung beantragte Abschaffung der Todesstrafe. Die Ministeriellen wagten den Gesetzentwurf nicht durchzubringen, weil sie die Wähler fürchteten, die von den Reaktionären der Rechten aufgestachelt worden waren. Im Pariser Gemeinderat, der angeblich eine Mehrheit der Linken hat, wurden als Delegierte zur Senatswahl unter anderen 15 Konservative, aber nur ein Sozialist gewählt, und im Norden unterstützten Radikale den Reaktionär Ribot als Senatskandidaten. Die Radikalsozialisten machten einen Versuch, die Delegation der Linken wieder ausleben zu lassen, eine engere Verbindung aller linksstehenden Parteien. Ihre Absicht scheiterte jedoch schon an dem ablehnenden Verhalten des rechten Flügels der Radikalen. Die Sozialisten hatten sich von vornherein von der Sache ferngehalten. Wie recht sie daran getan haben, zeigen zwei Siege, die sie in den Stichwahlen zur Kammer in Villefranche und Charolles gegen zwei Regierungskandidaten davontrugen. Sind diese Siege auch nicht ganz aus eigener Kraft erfochten und spielen dabei auch örtliche und persönliche Gründe mit, so bleibt doch bestehen, daß der Sozialismus neues Feld gewinnt und die Wählerschaft sich von der immer mehr nach rechts schwenkenden Regierung Clemenceaus abwendet. Sie und die französische Klassenjustiz haben sich aufs neue ein Schandmal gesetzt in einem Spruch, der zwei Anhänger Hervés, einen Mitarbeiter und einen Redakteur der„ Guerre Sociale" zu fünf Jahren Gefängnis wegen eines Artikels verurteilte, der gegen den Krieg und die militärische Disziplin ge
richtet war.
In Osterreich schlug der Nationalitätenstreit in letzter Zeit aus allen nichtigen Anlässen wieder hohe Wogen. Vornehm lich in Prag kam es zu wüsten Ausschreitungen tschechischer Chauvinisten gegen deutsche Studenten, die ihr Deutschtum durch Farbentragen und Bummel demonstrativ zeigen mußten. Die Regierung verhängte schließlich das Standrecht über Prag inzwischen wurde es wieder aufgehoben, was die Tschechisch- Radikalen mit Obstruktion im Reichsrat beantworteten. Diese Obstruktion be= droht das Wert des Wahlrechtstampfes, das Parlament des gleichen Wahlrechts, das unfähig erschien, das Staatsbudget und andere dringende Vorlagen zu erledigen. Eine Gefahr, die um so folgenschwerer sein konnte, als auch die Verhandlung der Regierungsvorlage über die Arbeiter altersversicherung, die dem= nächst vorgenommen werden soll, damit in Frage gestellt gewesen wäre. Die Sozialdemokratie rettete das Parlament. Sie half dazu die Zweidrittelmojorität bilden, die notwendig war, um das Budgetprovisorium auf die Tagesordnung zu bringen, so daß der Reichsrat sein Budgetrecht ausüben fonnte. Die Sozialdemokratie hat dann gegen das Budget gestimmt. Der Versuch der Christlich- Sozialen ist mißlungen, die Sozialdemo tratie durch einen Ring der bürgerlichen Parteien einzufreisen und ohnmächtig zu machen. Ein Zeichen ihrer Stellung ist es, daß Ge nosse Pernerstorfer zum Vizepräsidenten des Reichsrats gewählt wurde, ohne daß die bürgerlichen Parteien die Bedingung stellten, er müßte sich an höfifchen Veranstaltungen beteiligen.